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Die zweite Tür

Das ist ein tiefes Geheimnis …

Ich sehe zwei ernste Männer mit innerlichen Bärten über einen Plan gebeugt, der eine hat einen beneidenswert spitzen Bleistift in der Hand und erklärt dem andern Mann, der eigentlich einen Vollbart tragen sollte, erklärt also dem andern Sollbart seinen Plan. »Hier, Herr Geheimrat«, sagt er, »hier kommt also der Eingang hin, – ich habe mir gedacht: zwei Türen … wegen des großen Verkehrs … « Der Geheimrat nickt. Daß sein Ministerium so einen großen Verkehr aufweist, erfreut sein Herz; eine Woge von Unabkömmlichkeit steigt in ihm auf … Zwei Türen? Genehmigt.

Es wird gebaut.

Grundmauern erheben sich, Karren poltern, Stahlgerüste recken sich steil zum Himmel – es ist alles da. Und da – wenn du genauer hinsiehst –: da sind auch die zwei Türen; noch nicht ganz beendet, aber man kann sie im Rohbau schon ganz gut erkennen. Und dann wird das neue Haus eröffnet, dem Verkehr übergeben, eingeweiht …

Die Spitzen der Behörden erscheinen, lüften unendlich oft fotografierte Zylinder und schreiten durch weit geöffnete Türen. Reden erschallen und gleiten an den noch feuchten Wänden ab. »Fortab getreu nach dem guten, alten Grundsatz … « Und dann gehen alle nach Hause. Und nun beginnt eben das Geheimnis.

Jedes solcher, mit Verlaub zu sagen, öffentlicher Häuser hat doch einen Pförtner, nicht wahr? Und der pförtnert da also … und warum er dies tut, das weiß ich nicht, aber er tut es:

Er schließt erst einmal eine der beiden Türen zu!

Warum? Welch erschröckliches Geheimnis verbirgt sich dahinter? Gibt es einen Geheimbefehl der Weisen von Zion, die, den Untergang des Reiches zu beschleunigen, den Pförtnern befehlen, immer nur eine Tür aufzulassen? Was sage ich –: eine Tür! Eine halbe – denn die eine Hälfte der einen ist auch noch zugehakt, in den Boden gerammt … und durch den übrigbleibenden Spalt zwängt sich das Publikum, zwängen sich die Menschen, die hinein wollen: in das Ministerium, ins Theater, in den Bahnhof … alle durch eine Tür. Manchmal auch durch zwei. Niemals aber durch alle Türen, die da sind. Was ist es –?

Es ist – wie so häufig im menschlichen Leben – der Apparat, der sich mausig macht. Es ist die Verwaltung, die nicht nur zeigen will, dass sie auch noch da ist (ach! wir wissen es !) – es ist die Verwaltung, die uns zeigen will, dass es uns gar nicht gibt. »Zugluft!« sagen sie. »Von der Generaldirektion wird uns mitgeteilt, dass aus betriebstechnischen Gründen … « Glaubts nicht. Das ist es alles nicht. Man sehe sich etwa den pompösen Eingang der berliner Staatsbibliothek an, und man hat genau, was ich meine. Vorn ein stets halb geschlossenes Gittertor, dann im Hauptgebäude mehrere Türen, von denen nur zwei kleine fast widerwillig geöffnet sind. Niemals die mittlere, – die ist wahrscheinlich für den Studenten reserviert, der ein gangbares Buch erbat und es am selben Tage bekam … Daher ist diese Tür geschlossen.

Aber die meisten dieser Türen sind geschlossen; nur an hohen Fest- und Feiertagen werden sie geöffnet, auf dass der Minister oder der Präsident hindurchschreite und eine Rede rede … Sonst sind sie zu. Für das mindere Volk sind sie zu. Das Volk hat sich durch die kleinen Pforten zu zwängen. Es ist ein Geheimnis.

Edgar Wallace wird es eines Tages lüften. Es wird sich herausstellen, dass niemand durch die zweite Tür hindurchgehen darf, weil Lord Carvership dem berüchtigten Yeh Ling am 5. April 1919 einen Bandwurm abgetrieben hatte – wie jeder Fachmann sofort sieht: ein Signal, um die berühmten Vier zum Eingreifen zu bewegen … Yeh Ling wurde im Hyde-Park aufgefunden, verhältnismäßig tot, zu gleicher Zeit starben zwei Verleger von Wallace eines unnatürlichen Rabatts, Miß Tabbersons Ring lag unter der Türschwelle, der alte Carder radierte sich gemächlich die falsche Tätowierung ab … es ist ein tiefes, tiefes Geheimnis … und deswegen darf keiner von uns durch die zweite Tür gehen.

Peter Panter
Vossische Zeitung, 18.12.1929, Nr. 295.