Zum Hauptinhalt springen

Für Joseph Matthes

Am 31. August 1924 hat die Deutsche Reichsregierung in London ein Abkommen unterzeichnet, das im Artikel 7 der Anlage III folgende Stelle aufweist:

»Um eine gegenseitige Befriedung herbeizuführen und um möglichst weit tabula rasa mit der Vergangenheit zu machen …

  1. Niemand darf unter irgendeinem Vorwand verfolgt, beunruhigt, belästigt oder einem materiellen oder moralischen Nachteil unterworfen werden, sei es wegen einer Tat, die in der Zeit zwischen dem 1. Januar 1923 und dem Inkrafttreten des gegenwärtigen Abkommens in den besetzten Gebieten ausschließlich oder überwiegend aus politischen Gründen begangen worden ist, sei es wegen seines politischen Verhaltens in jenen Gebieten während der angegebenen Zeit, sei es wegen seines Gehorsams oder Nichtgehorsams gegenüber den Befehlen, Ordonnanzen, Verordnungen oder Anordnungen, die von den Besatzungsbehörden oder den deutschen Behörden mit Beziehung auf die Ereignisse während des bezeichneten Zeitraumes erlassen worden sind, sei es endlich wegen seiner Beziehungen zu jenen Behörden.«

Die Deutschen haben dieses Abkommen nicht gehalten.


Am 30. Dezember 1921 wurde der Schriftsteller Joseph Matthes vom Schwurgericht in Würzburg wegen übler Nachrede und Beleidigung, begangen durch die Presse, zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Er hatte als sozialdemokratischer Redakteur und Vorsitzender der Ortsgruppe dem aschaffenburger Bürgermeister Doktor Matt Lebensmittelschiebungen vorgeworfen. Im aschaffenburger Lebensmittelamt waren tatsächlich solche Schiebungen vorgekommen; die beiden geschäftsführenden Obersekretäre wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Im Jahre 1922 sollte Matthes seine Strafe antreten. Er war damals, wie die Atteste eines berliner Gerichtsarztes und des wiesbadener Polizeiarztes dartun, nicht haftfähig; trotzdem sollte er seine Strafe im Gefängnis Sankt Georgen bei Bayreuth verbüßen. Er floh.

Matthes ging nach dem damals besetzten Wiesbaden und versuchte dort, journalistisch weiterzuarbeiten. Das gelang ihm nicht. Im Jahre 1923 ging er nach Düsseldorf, woher seine Frau stammte. Inzwischen hatte er versucht, in seiner Sache etwas bei Ebert zu erreichen, der sich grade in Bad Mergentheim aufhielt; der versagte ebenso wie Radbruch, an den sich Matthes gewandt hatte.

Es war die Zeit des Ruhrkampfes. Die Regierung warf Milliarden zum Fenster hinaus, der Schwerindustrie in den Rachen, das Rheinland war korrumpiert bis tief in die sozialdemokratischen Gewerkschaften hinein, die für den ›passiven Widerstand‹ bezahlt wurden. Matthes bekämpfte diese Ruhrpolitik, wo er nur konnte. Als bekannt wurde, dass er – wie alle internationalen Journalisten – einen französischen Presseausweis besaß, wurde er von den Beamten als ›Französling‹ gestempelt. Wer je mit Franzosen zu tun gehabt hat, weiß, wie unendlich wichtig diese Ausweise sind, über die wir zu lachen gewohnt sind; drüben ist jede praktische journalistische Arbeit ohne coupfil ausgeschlossen.

Im Juli 1923 bekam Matthes Einsicht in die Pläne des Severingschen ›Mitarbeiters‹, des Generals Watter, worauf er sich einer düsseldorfer Separatistengruppe der zerfallenden Smeets-Partei anschloß. Die Antwort waren Haftbefehle aus der Heimat. Lawinenartig wuchs inzwischen die separatistische Bewegung, proportional der Inflation.

Das Rheinland stand damals, geschlossen wie ein Mann, zu dem, der besser zahlte. Die Beamten, die Großbanken, die Geistlichen warteten auf ihren Augenblick. Zu Frankreich hinüber wollte keiner, bei Preußen bleiben wenige. Was sie wollten und wozu sie damals auch ein Recht hatten, war Befreiung aus der Hölle der Inflation und Schaffung einer eignen Währung, einer eignen autonomen Republik.

Erst im August 1923 lernte Matthes Dorten kennen. Smeets war inzwischen von Interessenten, die heute noch straflos herumlaufen, ermordet worden. Die rheinländische Bewegung brach, nicht zuletzt infolge der Dummheit französischer Militärs, zusammen.

Ein Jahr darauf, als in London über die rheinischen ›Verbrecher‹ verhandelt wurde, verlangte Stresemann ausdrücklich die Köpfe von Dorten und Matthes. Sie sollten von der Amnestie ausgeschlossen werden. Der menschenfreundliche Antrag fiel; die Reichsregierung unterzeichnete die völlige Amnestie. Und bricht ihre Zusage.


Joseph Matthes lebt heute in Paris. Er will nach Deutschland zurückkehren, seine Frau will die Grenze überschreiten, man verweigert beiden die Papiere. Wer ist ›man‹? Man ist die pariser deutsche Botschaft.

Man könnte annehmen, dass sich die Botschaft – um das londoner Abkommen zu umgehen – auf jenen alten Würzburger Prozeß aus dem Jahre 1921 stützte, wozu sie ein formales Recht hätte, denn bis zum vorigen Jahr ist gegen Matthes ein Steckbrief auf Grund des würzburger Urteils immer wieder erneuert worden. Nein, darauf stützt sich die Botschaft nicht. Denn das kann sie nicht.

Am 29. Oktober 1928 hat das Oberste Landesgericht in München in der Sache Matthes beschlossen: Aufhebung der die Amnestie abweisenden Beschlüsse des Landgerichts Würzburg; Aufhebung der vom Schwurgericht Würzburg im Jahre 1921 ausgesprochenen Gefängnisstrafe auf Grund der Reichsamnestie vom 14. Juli 1928. In der Begründung heißt es unter anderm: » … so zeigt sich deutlich die Unhaltbarkeit des von der Strafkammer eingenommenen Standpunktes« und: » … dass die politischen Gegensätze nicht nur Einfluß auf die Tatbegehung übten, sondern gradezu bestimmend und ursächlich für das Tun des Matthes in dieser Sache gewesen sind.« Womit er also unter die Reichsamnestie fiel. (Oberstes Landesgericht vom 29. Oktober 1928 Beschwerde-Reg. I A Nr. 69/1928 Seite 3.)

Was also will die deutsche Botschaft, wenn sie Matthes die Papiere verweigert? Sie verlangt einen Heimatschein; der preußische und der bayerische Staatsangehörigkeitsausweis genügen weder für Matthes noch für seine Frau. »Für Sie ist unsre Botschaft nicht da.«

Und wegen dieses Wortes verdient die Botschaft einen auf die Finger. Wer spricht? Wer ist ›unsre‹ Botschaft? Hat Herr von Hoesch sich mit einem kleinen Laden selbständig gemacht? Matthes ist Deutscher; ob seine Politik damals gut oder richtig gewesen ist, hat Herr von Hoesch nicht zu beurteilen, denn niemand hat ihn danach gefragt. Er ist auch moralisch im Unrecht.

Wenn hundert Deutsche in einer fremden Stadt leben, so zerfallen sie in dreiundvierzig Vereine sowie in hundertundeine Klatscherei. »Matthes wird von der pariser Polizei bezahlt.« Ich kenne die pariser Polizei ein wenig und Matthes ganz gut; wer von Poincaré bis zur kleinen französischen Amtsstelle herunter so empfangen wird wie er – der ist nicht bezahlt. So spricht man nicht mit und so spricht man nicht von bezahlten Leuten. Im Gegenteil: Matthes sitzt, wie viele anständige Menschen, genau zwischen zwei Stühlen. Es ist in Frankreich vieles korrupt, und wer dort in der Presse nicht nimmt, der gilt eine Zeitlang als originell, später als Trottel. Dann ist Joseph Matthes ein Trottel. Aber ein anständiger Mann.

Die Sache ist um so erstaunlicher, als Herr von Hoesch keinen scharfen Rechtskurs in Paris steuert. Was ich von seinen diplomatischen Fähigkeiten gesehen habe, war nicht grade herzzerreißend, aber wenn der Mann, was nicht zu bezweifeln ist, reaktionäre Neigungen hat: er plakatiert sie im allgemeinen nicht. Also müssen hier entweder berliner Einflüsse am Werk sein, oder es hat sich jemand auf der Botschaft ein kleines Privatvergnügen aufgetan. Die berliner Einflüsse werden von Matthes auf das Bestimmteste abgestritten; er, der stets sehr gut informiert ist, behauptet, nur die Deutschen in Paris seien diejenigen, welche.

Stumpf sind sie bei uns und illoyal, wenn es von rechts nach links geht – in der umgekehrten Richtung haben sie Hemmungen. Das Auswärtige Amt, der Reichsinnenminister … werden sie schweigen? Wenn sie nicht schweigen: werden sie sich bei den Erklärungen der Botschaft beruhigen, deren Juristen sicherlich eine klein gedruckte Anmerkung finden werden, um das als ›zulässig‹ darzustellen, was sie da treiben? Seid doch ehrlich. Geht doch auf den Grund.

In dieser Staatstollheit gilt der, der sich gegen den Staat vergeht, als Ketzer; gemieden wird er wie der in Kirchenbann Getane im Mittelalter. Aber gegen diesen Staat gehalten ist die Kirche immer eine hoch geistige Institution gewesen und wenigstens in ihrer Art sauberer. Wie! dieser von den Banken und den Winzern, von den Kohlenkaufleuten und den Kartoffelbauern abhängige Beamtenapparat wagt es, sich metaphysisch zu behängen? Was ist er denn schon groß? Ein verschuldetes Stückchen Unglück. Das dadurch um nichts besser wird, dass ihm junge Leute, die die Worte ›reaktionär‹ und ›revolutionär‹ nicht richtig buchstabieren können und eine eingeschlagene Fensterscheibe in Itzehoe für Revolution halten – dass die ihm seine nationale Mystik bescheinigen, worauf er übrigens pfeift. Er ist eine Versorgungsanstalt, die verantwortungslos und breitspurig Unrecht tut.

Es laufen Fememörder in der Freiheit herum. Herr von Arco ist begnadigt und badet am Lido. Die Lohmann-Affäre ist in den Akten verlaufen. Herr Matthes wird verbannt.

Es muß aber den Staatskulis gesagt werden, dass ihr Staat halb so wichtig ist, wie sie sich einbilden.

Es ist wichtiger, dass in Deutschland das Rechtsgefühl wieder wachgerufen wird, als dass die Rheinprovinz deutsch bleibt. Das Reich und der Staatsbegriff stehen nicht über allen Dingen dieser Welt.

Die Sozialdemokratie hat keine Zeit, sich hiermit zu befassen; sie erfüllt die Rolle der alten Liberalen, die sich ihrerseits Demokraten nennen, die es wiederum nicht gibt. Ob einer, auch nur ein einziger von diesen allen so viel Anstandsgefühl in den Knochen hat, Joseph Matthes die Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen –?

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 13.08.1929, Nr. 33, S. 233.