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854. Kindisch¹⁾. Kindlich²⁾.

1) Childish.
Puéril.
Puerile (fanciullesco).
2) Filial.
Enfantin (filial).
Figliale (infantile).

Die Kindheit trägt den Charakter der Unschuld, der Anspruchslosigkeit, des Vertrauens, aber auch den der Unreife, der unvollkommenen Einsicht und Erfahrung. Im ersteren Sinne sagt man kindlich, im zweiten kindisch. Demnach drückt kindlich ein Lob, kindisch einen Tadel aus. Der hier angeführte Unterschied ist noch nicht sehr alt, er tritt zuerst im 18. Jahrhundert auf, erscheint streng durchgeführt aber eigentlich erst im 19. Jahrhundert. Früher wurde kindisch schlechthin als Adjektivum zu Kind (in dem Sinne von puer, unerwachsener Mensch) gebraucht, z. B. „In mein kindischen jaren (== Kinderjahren).“ Kirchhoff, Wendunmut. „Auf diesen meinen Armen habe ich dein Lächeln, dein Lallen bewundert, aus jeder kindischen Miene strahlte die Morgenröte eines Verstandes, einer Leutseligkeit usw.“ Lessing. Hier würden wir jetzt unbedingt kindliche Miene oder Kindermiene sagen müssen. Bei Klinger kommt sogar vor: kindisch = unschuldig. Auch Goethe sagt: „Eine kindische lächelnde Ruhe schwebte über ihrem (Philinens) Gesichte.“ Wilhelm Meister. Und noch im Jahre 1818 schreibt Goethe: „Kindischen Händchen entschnickt sich so fein | Knöchlein und Bohnen und Edelgestein.“ Daneben kommt kindisch aber auch im älteren Neuhochdeutsch, ja sogar im Mittelhochdeutsch im tadelnden Sinne, also in der heute nur allein noch üblichen Bedeutung vor. „Liebes Kind, pflege deines Vater im Alter und betrübe ihn ja nicht, so lange er lebet, und halt ihm zu gute, ob er kindisch würde.“ Sirach 3, 14, 15. Seit dem 18. Jahrh. bildet sich der Gegensatz zwischen kindisch und kindlich im heutigen Sinne immer schärfer aus, und Schiller schreibt: „Alles, du ruhige, schließt sich in deinem Reiche: so kehret | auch zum Kinde der Greis kindisch und kindlich zurück.“ Der Naturkreis. „Das Naive der Denkart kann niemals eine Eigenschaft verdorbener Menschen sein, sondern nur Kindern und kindlich gesinnten Menschen zukommen. Diese letzteren handeln und denken oft mitten unter den gekünstelten Verhältnissen der großen Welt naiv; sie vergessen aus eigener schöner Menschlichkeit, daß sie es mit einer verderbten Welt zu tun haben, und betragen sich selbst an den Höfen der Könige mit einer Ingenuität und Unschuld, wie man sie nur in einer Schäferwelt findet. Es ist übrigens gar nicht so leicht, die kindische Unschuld von der kindlichen immer richtig zu unterscheiden, indem es Handlungen gibt, welche auf der äußersten Grenze zwischen beiden schweben, und bei denen wir schlechterdings im Zweifel gelassen werden, ob wir die Einfältigkeit belachen oder die edle Einfalt hochschätzen sollen.“ Schiller, Über naive und sentimentale Dichtung. Hier sind die beiden Wörter bereits mit philosophischer Schärfe im heutigen Sinne geschieden, und diese Scheidung hat sich seitdem immer mehr befestigt, so daß wir kindisch heute nur noch im tadelnden Sinne gebrauchen können (wie niederd. kindsk, engl, childish und niederländ. kindsch, die heute auch nur noch tadelnd stehen). So sprechen wir von kindischem Eigensinn, kindischem Trotz, kindischen Streichen, *kindischem Benehmen usw. Auch kindlich wurde in der älteren Zeit als allgemeines Adjektiv zu Kind gebraucht, z. B. „In kindlichen jaren.“ Hans Sachs. Noch heute sagt man: „das kindliche Alter“. Wie aber kindisch schließlich nur das am Kinde zu Tadelnde hervorhob, so prägte sich in kindlich immer mehr der Begriff des am Kinde zu Lobenden aus. „Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle | bewahrt die kindlich* reine Seele.“ Schiller, Kraniche des Ibykus.

Außer dem genannten Unterschiede findet sich aber zwischen kindlich und kindisch noch ein auch in der ältesten Zeit schon durchgeführter Gebrauchsunterschied. Zur Bezeichnung des Verhältnisses des Kindes zu den Eltern wird nämlich von altersher als Adjektivum nur kindlich, niemals kindisch gebraucht. Zu Kind (unerwachsener Mensch, puer) gehörte also sowohl das Adjektivum kindlich, als auch kindisch; zu Kind (im Sinne von Sohn, Tochter, filius, filia) dagegen gehört nur und gehörte von jeher nur kindlich. So spricht man von kindlicher Liebe, kindlicher Furcht, kindlichem Gehorsam, kindlichem Respekt, kindlicher Pflicht usw. Kindisch ist hierfür nie gebraucht worden (vereinzelte Ausnahmen wären möglich, sind aber für die Regel ohne Belang). „Ich wich nicht ein Haar breit, und wem ich nicht kindlichen Respekt schuldig war, der wurde derb abgefertigt.“ Goethe. Das gilt auch dann, wenn von dem Kinderverhältnis der Menschen zu Gott oder ähnl. die Rede ist. „Ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, .... | sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen Abba, lieber Vater.“ Rom. 8, 15.