Die Ouvertüre
Der geneigte Leser wird vielleicht erkannt haben, dass im vorhergehenden von mehreren Seiten darauf hingewiesen ist, in welcher Stellung Don Juan zum Musikalischen steht, wie dieses das Konstituierende der ganzen Oper ist und sich in deren einzelnen Abteilungen spiegelt. Ich könnte hier aufhören; indes um weiterer Vollständigkeit willen will ich jene Behauptung an ein paar einzelnen Stücken näher beleuchten. Die Wahl sei keine willkürliche. Ich wähle die Ouvertüre, welche wohl zumeist den Grundton der Oper angibt in gedrängter Konzentration, und hebe zunächst das vor andern epische und am meisten lyrische Moment des Stückes hervor, um zu zeigen, wie selbst an der äußersten Grenze die innere Vollendung der Oper bewahrt, das Musikalisch-Dramatische aufrechtgehalten wird, wie Don Juan es ist, welcher die Oper musikalisch trägt.
Schon der Umstand, dass eine Oper auch eine Ouvertüre erfordert, zeigt das Übergewicht des Lyrischen, und dass die beabsichtigte Wirkung diese ist, eine Stimmung hervorzurufen, etwas, worauf ein Drama sich nicht einlassen kann, da hier alles durchsichtig sein muß. Es ist daher in der Ordnung, dass die Ouvertüre zuletzt komponiert wird, damit der Künstler selbst von der Musik recht und völlig durchdrungen sei. Die Ouvertüre läßt uns daher in der Regel einen tiefen Blick in des Komponisten Inneres tun, und wie er innerlich zu seiner eignen Musik steht. Ist es ihm nicht gelungen, das Zentrale derselben zu ergreifen, steht er nicht im tiefsten Rapport, mit der Grundstimmung der Oper, so wird sich dies unverkennbar in der Ouvertüre verraten; sie wird alsdann ein von loser Ideenassoziation durchzogenes Aggregat einzelner Akkorde, aber keine Totalität, so dass sie, wie sie sollte, die tiefsten Aufschlüsse über den Inhalt der Musik gäbe. Die Anlage einer solchen verfehlten Ouvertüre pflegt denn auch ganz willkürlich zu sein; sie kann so lang, oder so kurz ausfallen, wie sie will, und das zusammenhaltende und kontinuierliche Element kann, sofern es weiter nichts als eine Ideenassoziation ist, nach Belieben ausgesponnen werden. Daher ist die Ouvertüre für Komponisten untergeordneter Art eine gefährliche Versuchung; sie werden leicht verführt, ein Plagiat an sich selbst zu begehen, aus der eignen Tasche zu stehlen, etwas, was sehr störend wirkt. Während es aber einleuchtend ist, dass die Ouvertüre nicht dasselbe bringen soll, wie die Oper, so darf sie auch nicht einen absolut andersartigen Inhalt haben. Sie muß dasselbe enthalten, wie die Oper, nur in anderer Gestaltung; sie muß es in zentraler Fassung geben, und den Zuhörer mit der ganzen Macht des Zentralen ergreifen.
In dieser Hinsicht ist und bleibt die von jeher bewunderte Ouvertüre zum Don Juan ein vollendetes Meisterwerk, welches allein für Don Juans Klassizität zeugen könnte. Diese Ouvertüre ist kein Durcheinander von Themas; sie ist nicht labyrinthisch von Ideenassoziationen durchzogen; sie ist konzis, bestimmt, kräftig gebaut, und vor allem von dem Wesen dieser Oper ganz durchsäuert. Sie ertönt machtvoll, wie ein Gottesgedanke, bewegt wie das Leben einer Welt, erschütternd in ihrem Ernste, erbebend in ihrer Liebes-lust, niederschmetternd in ihrem furchtbaren Zorn, begeisternd in ihrer lebensfrischen Freude, dumpf in ihrem Strafurteile, langsam feierlich in ihrer imponierenden Würde, bewegt, flatternd, tanzend in ihrer Fröhlichkeit. Und dies hat sie keineswegs durch Aussaugen der Oper erreicht; nein, im Verhältnis zu dieser läßt sie sich als eine Weißagung betrachten. In der Ouvertüre entfaltet die Musik ihren ganzen Umfang, mit ein paar mächtigen Flügelschlägen schwingt sie sich gleichsam über sich selbst hinaus und schwebt über die Stätte hin, auf welche sie herabsteigen will. Es ist ein Kampf, aber ein Kampf in den höheren Regionen der Lust. Wer diese Ouvertüre hört, nachdem er mit der Oper schon eine nähere Bekanntschaft gemacht hat, dem wird es vielleicht vorkommen, als sei er zu der geheimen Werkstatt vorgedrungen, wo die Kräfte, die er im Stücke kennen gelernt hat, sich urkräftig regen, wo sie mit aller Gewalt sich gegeneinander brechen, jedoch, der Streit ist zu ungleich! die eine der Mächte ist schon vor der Schlacht Siegerin. Sie flieht und zieht sich zurück; aber ihre Flucht ist eben ihre Leidenschaft, die glühende Unruhe während ihrer kurzen Lebensfreude, der pochende Puls in seiner leidenschaftlichen Hitze. Hierdurch setzt sie die andere Macht in Bewegung und reißt sie mit fort. Diese, welche sich anfangs so unerschütterlich sicher zeigte, dass sie sich beinahe nicht zu regen schien, muß nun vorwärts, und bald wird die Bewegung so rasch, dass es ein wirklicher Streit zu sein scheint. Näher ausführen läßt sich dies nicht. Hier gilt es, die Musik zu hören: denn der Streit ist kein Wortstreit, sondern ein elementares Toben. Nur muß ich daran erinnern, dass Don Juan das Interesse der Oper ausmacht, nicht Don Juan und der Kommodore, was sich schon in der Ouvertüre zu erkennen gibt. Absichtlich scheint Mozart es so angelegt zu haben, dass jene tiefe Stimme, die sich im Anfange vernehmen läßt, allmählich immer schwächer wird, gleichsam ihre majestätische Haltung verliert, dass sie eilen muß, um der dämonischen Jagd folgen zu können, welche vor ihr entweicht, und dennoch sie fast dazu herabwürdigt, in der Kürze des Augenblickes ein Weltrennen mit ihr auszuführen. Hierdurch bahnt sich der Übergang zur Oper selbst nach und nach an. Demzufolge muß man das Finale sich im nahen Verhältnis denken zu dem ersten Teile der Ouvertüre. Im Finale ist der Ernst wieder zu sich selbst gekommen, und hat hiermit jeden Ausweg zu einem neuen Wettlauf abgeschnitten.