Der musikalische Charakter Don Juans als Verführer


Don Juan ist also Verführer, seine Erotik Verführung. Hiermit ist nun zwar viel gesagt, wenn es recht, wenig, wenn es mit gewöhnlicher Unklarheit verstanden wird. Wir haben schon gesehen, dass der Begriff eines Verführers, auf Don Juan angewandt, ein wesentlich modifizierter ist, indem das Ziel seines Verlangens das Sinnliche ist, und dieses allein. Dies war von Bedeutung, um das Musikalische, als das Dominierende im Don Juan, anzuzeigen. Im Altertum fand das Sinnliche seinen Ausdruck in der schweigsamen Stille der Plastik; in der christlichen Welt brauste das Sinnliche in seiner ganzen ungeduldigen Leidenschaft auf. Was aber den Ausdruck »Verführer« betrifft, so darf er von Don Juan nicht anders, als mit großer Vorsicht gebraucht werden, sofern doch darauf mehr ankommt, etwas Richtiges, als nur irgend etwas zu sagen. Nicht etwa, als wäre Don Juan zu gut, um auch jene bekannten Züge in dem Bilde eines Verführers, als List, Verschlagenheit, Ränke u.s.w. auf ihn zu übertragen, sondern einfach darum, weil seine Erscheinung schlechterdings nicht unter ethische Bestimmungen fällt. Daher möchte ich ihn lieber einen Betrüger oder Überlister nennen, sofern hierin doch immer etwas mehr Zweideutiges liegt. Bei einem Verführer setzt man eine gewisse Reflexion und Berechnung voraus, so dass man von Ränken, Listen, schlauen Anläufen reden darf. Don Juan begehrt; dieses Begehren wirkt verführend, und insoweit verführt er. Sobald er die Befriedigung seiner Begierde genossen, sucht er einen neuen Gegenstand, und so ins Unendliche. Also betrügt er zwar, jedoch nicht so, dass er vorher seinen Betrug anlegt; nein, es ist die eigne Macht der Sinnlichkeit, welche die Verführten betrügt. Es ist eher eine Art Nemesis. Um ein Verführer zu sein, dazu gebricht ihm die Zeit vorher, in welcher er seinen Plan anlege, und die Zeit nachher, in welcher er seiner Handlung sich vollbewußt wird. Ein Verführer muß daher im Besitze einer Macht sein, die Don Juan nicht hat, so begabt er übrigens sein mag - der Macht des Wortes. Sobald wir diese ihm beilegen, hört er auf, als musikalisches Wesen zu existieren; und das ästhetische Interesse wird ein ganz andres. Achim v. Arnim redet irgendwo von einem Verführer in einem ganz andern Sinne, einem Verführer, dessen Tun unter ethische Bestimmungen fällt, und gebraucht von ihm Ausdrücke, die an Wahrheit, Kühnheit und Prägnanz sich beinahe mit Bogenstrichen eines Mozart messen können. Er sagt von ihm: »Er kann derart mit einem Weibe reden, daß, falls der Teufel ihn holte, er sich aus der Hölle losschwatzen würde, wenn er nur mit des Teufels Großmutter ins Gespräch kommen könnte.« Dies ist der eigentliche Verführer; hier ist auch das ästhetische Interesse ein andres, das Wie? die Methode. Daher liegt etwas sehr Tiefsinniges darin, was vielleicht von den wenigsten beachtet ist, dass Faust, welcher den Don Juan in höherem Stil reproduziert, nur ein einziges Mädchen verführt, der andre dagegen hundertweise. Aber dieses eine Mädchen ist denn auch in intensivem Sinne (innerlich) ganz anders verführt und zu Grunde gerichtet, als alle von Don Juan Betrogenen, darum eben, weil Faust als Reproduktion das bestimmende Moment des Geistes in sich trägt. Die Kraft eines solchen Verführers ist die Rede, was hier sagen will: die Lüge. Ich hörte neulich einen Soldaten sich mit jemanden über einen Dritten unterhalten, der ein Mädchen angeführt habe; er ließ sich auf keine weitläufige Schilderung ein, und doch war sein Ausdruck so treffend wie möglich: »Mit Lügen verstand er es bald so, bald so!« Ein solcher Verführer, wie Faust, ist ganz andern Schlages, als Don Juan; wie er von diesem sich wesentlich unterscheidet, kann man auch daraus ersehen, dass er und sein Treiben in hohem Grade unmusikalisch ist, wenn auch ästhetisch betrachtet innerhalb des Interessanten sich bewegend. Der Gegenstand seines Begehrens ist daher auch etwas mehr, als das bloß Sinnliche.

Don Juan begehrt also in jedem Weibe das ganze Weibergeschlecht; und hierin liegt die sinnlich idealisierende Macht, mit welcher er seine Beute zu gleicher Zeit verschönt, indem er sie besiegt. Der Reflex dieser gigantischen Leidenschaft verschönt und verwandelt den Gegenstand seiner Begierde: dieser errötet in erhöhter Schönheit durch ihren Widerschein. Sowie das Feuer des Begeisterten mit verführerischem Glanze selbst die Fernerstehenden, wenn sie nur in einiger Beziehung zu ihm stehen, beleuchtet, so verklärt er in weit tieferem Sinne jedes Mädchen, da sein Verhältnis zu ihr ein wesentliches ist. Daher verschwinden ihm alle Unterschiede im Vergleich mit dem Einen, was die Hauptsache ist: dass er ein Weib vor sich hat. Die Bejahrteren verjüngt er bis zu der holden Mitte der Weiblichkeit; die beinahe noch Kinder sind, reift er in einem Nu; alles, was Weib ist, gilt ihm als Beute. Man verstehe das indes nicht dahin, als wäre seine Sinnlichkeit nur Blindheit: instinkmäßig weiß er sehr gut, Unterschiede zu machen, und vor allem: er idealisiert. Jede Spur besonnenen Vorgehens fehlt freilich. Sein Leben ist wie der schäumende Wein, mit welchem er sich aufregt; es ist schwungvoll bewegt, gleich den Tönen, die seine fröhliche Mahlzeit begleiten; zu jeder Stunde ist er in triumphierender Stimmung. Er bedarf keiner Vorbereitung, keiner Zeit: er ist jederzeit bereit. Beides, sinnliche Kraft und Begierde ist immer vorhanden; und nur so fühlt er sich in seinem Elemente. Er sitzt zu Tische; froh wie ein olympischer Gott schwingt er den Pokal - er springt auf, die Serviette in der Hand, fertig zum Angriff. Diese Naturmacht kann das Wort nicht ausdrücken; nur die Musik kann uns davon einen Eindruck, ein Gefühl geben; für die Reflexion und den Gedanken ist sie unaussprechlich. Was es eigentlich für eine Macht sei, kann niemand sagen. Selbst wenn ich Zerline, ehe sie aufs Ballett geht, fragen wollte: »Was ist's für eine Macht, mit der er dich fesselt?« so würde sie antworten: »Man weiß es nicht,« und ich würde sagen: »Wohl geredet, mein Kind! Du redest weiser, als jene Weisen Indiens; richtig, das weiß man nicht; und leider kann ich's dir ebenfalls nicht sagen.«

Diese schrankenlose Kraft bei Don Juan, diese Lebensfülle vermag nur die Musik auszudrücken. Und wenn er nun, wie zu einer Hochzeit, die ganze weibliche Dorfjugend hochzeitlich geschmückt versammelt: was Wunder, dass sie sich um ihn drängen, die fröhlichen Mädchen? Hat er doch für sie alle etwas: Schmeicheleien, Seufzer, kühne Blicke, leise Händedrucke, verstecktes Flüstern, die gefährliche Nähe, die versuchende Entfernung. Für Don Juan ist es eine Lust, über eine so reiche Ernte hinzublicken; wenn er sich aber der ganzen Dorfschaft annimmt, so kostet ihm das alles vielleicht nicht so viel Zeit, wie dem Leporello die Buchführung darüber.

Durch das Gesagte ist der Gedanke wieder auf den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung hingeführt, nämlich dass Don Juans Persönlichkeit und Idee, die in ihm gleichsam inkarnierte dämonische Macht der Sinnlichkeit, absolut musikalisch ist. Er jagt, ja er rauscht vor uns vorüber, indem er, ohne Rede zu stehen, nach plötzlichem Auftauchen plötzlich verschwindet, ebenso wie die Musik, welche, sobald sie zu ertönen aufgehört, nicht mehr ist und erst wieder da ist, wenn sie aufs neue sich vernehmen läßt.


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