Klassizität als Einheit von Form und Stoff
Das Glückliche bei klassischen Schöpfungen, was ihre Klassizität und ihre Unsterblichkeit begründet, ist die absolute Zusammengehörigkeit, ja Einheit dieser beiden Mächte. Diese Einheit ist eine so absolute, dass eine spätere reflektierende Zeit kaum einmal in der Idee auseinander halten kann, was innerlich verbunden ist, ohne Gefahr zu laufen, dass sie ein Mißverständnis wecke oder nähre. Sagt man z.B., es sei Homers Glück gewesen, dass er den ausgezeichnetsten epischen Stoff vorfand, so kann man dabei leicht vergessen, dass wir ja beständig diesen epischen Stoff nur mittels der Auffassung haben, die eben Homer eigen war, und dasjenige, was als her vollkommenste epische Stoff erscheint, uns nur durch die Transsubstantiation bekannt und deutlich ist, welche Homer angehört. Hebt man dagegen Homers dichterische Tätigkeit hervor, die er in der Belebung und Durchdringung des Stoffes beweist, so kann man darüber leicht vergessen, dass die Dichtung niemals geworden wäre, was sie ist, wäre nicht die Idee, mit welcher Homer sie durchdrungen hat, die der Dichtung innewohnende Idee gewesen, wäre nicht die Form die eigenste Form des Stoffes selbst. Der Dichter wünscht sich seinen Stoff. »Wünschen ist keine Kunst,« sagt man wohl, und von einer Menge ohnmächtiger Dichterwerke gilt das mit voller Wahrheit. Richtig zu wünschen, ist dagegen eine große Kunst, oder besser gesagt, das ist eine Gabe. Dies ist das Unerklärliche, das Geheimnisvolle beim Genie, wie bei der Wünschelrute, welche nie den Einfall bekommt, zu wünschen, als wo der Quell oder Schatz sich befindet, den sie wünscht. Wünschen hat daher eine weit tiefere Bedeutung, als einer insgemein denkt; ja, dem abstrakten Verstande kommt es lächerlich vor, da dieser sich das Wünschen vorstellt in Beziehung auf irgend etwas, was nicht ist, nicht in Beziehung auf etwas, was wirklich vorhanden ist.
Es hat eine Schule von Ästhetikern gegeben, die eben dadurch, dass sie einseitig die Bedeutung der Form hervorhob, es mit verschuldet hat, dass das entgegengesetzte Mißverständnis sich geltend machte. Ich habe mich oft darüber gewundert, dass diese Ästhetiker sich ohne weiteres an die Hegelsche Philosophie anschlossen, während doch schon eine allgemeine Bekanntschaft mit Hegel, vollends aber mit seiner Ästhetik, uns überzeugt, dass er gerade in ästhetischer Hinsicht die Bedeutung des Stoffes besonders hervorhebt. Beides gehört indessen wesentlich zusammen, und dieses zu beweisen, dazu wird eine einzige Betrachtung hinreichen, sofern das betreffende Phänomen sonst unerklärlich wäre. Gewöhnlich ist es nur ein einzelnes Werk, oder eine einzelne Folge von Werken, welche jemanden zum klassischen Dichter, Künstler u.s.w. stempeln. Derselbe Mann mag mancherlei Verschiedenartiges hervorgebracht haben, was aber zum klassischen in keinem Verhältnis steht. Homer soll auch eine Batrachomyomachia gedichtet haben; jedenfalls ist er durch diese so wenig, wie durch seine Hymnen und Epigramme, klassisch oder unsterblich geworden. Die Behauptung, das habe seinen Grund in der Geringfügigkeit des Stoffes (wie bei jenem »Froschmäusekrieg«) gehabt, ist verkehrt, sofern das Klassische in dem Gleichgewichte liegt. Gesetzt nun, daß, was eine künstlerische Hervorbringung zu einer klassischen macht, einzig und allein in der produzierenden Individualität läge, dann müßte ja alles, was sie hervorgebracht, klassisch sein, in ähnlichem, wenn auch einem höheren Sinne, wie die Biene immer eine gewisse Art von Zellen hervorbringt. Würde man nun antworten, das komme daher, dass er bei dem einen Stoffe glücklicher gewesen sei, als bei dem andern, so hätte man eigentlich nichts geantwortet. Teils ist es nur ein vornehmes Schweigen, welches nur allzu oft im Leben die Ehre hat, für eine Antwort zu gelten, teils heißt es geantwortet in ganz anderem Sinne, als gefragt worden ist. Es ist nämlich nichts damit gesagt hinsichtlich des Verhältnisses von Stoff und Form, und höchstens könnte es in Betracht kommen, wo von der gestaltenden Tätigkeit allein die Rede wäre.
Bei Mozart trifft es nun ebenso zu, dass nur ein Werk desselben existiert, das ihn zu einem klassischen Komponisten und im vollen Sinne des Wortes unsterblich macht. Dieses Werk ist der Don Juan. Was er sonst hervorgebracht hat, kann erfreuen, unsre Bewunderung erregen, die Seele bereichern, das Ohr sättigen, dem Herzen wohltun; aber ihm und seiner Unsterblichkeit erweist man keinen Dienst, wenn man alles durcheinander wirft und das alles für gleich groß erklärt. Don Juan ist sein Rezeptionsstück, das, woraufhin er in den höchsten Orden aufgenommen ist. Mit Don Juan tritt er in jene Ewigkeit ein, welche nicht außerhalb der Zeit liegt, sondern mitten in ihr, welche auch nicht durch irgend einen Vorhang den Augen der Menschen verhüllt wird, in welche die Unsterblichen nicht sowohl ein für allemal aufgenommen sind, als vielmehr beständig aufgenommen werden, während das lebende Geschlecht vor ihnen vorüber wandelt und die Augen zu ihnen erhebt, in ihrem Anblicke sich glücklich fühlt, und so zu Grabe geht, worauf das folgende Geschlecht wiederum durch ihr Anschauen gehoben und verklärt wird. Mit seinem Don Juan tritt er in die Kreise jener Unsterblichen, jener sichtbar Verklärten ein, welche keine Wolke den Augen der Menschen entzieht; durch Don Juan steht er in der vordersten Reihe. Dieses letzte ist das, was ich, wie gesagt, zu beweisen versuchen möchte.