Zum Unterschied zwischen Oper und Drama


In einem Drama konzentriert das Hauptinteresse sich ganz natürlich um das, was man den Helden des Stückes nennt; die übrigen Personen nehmen im Verhältnis zu ihm nur eine untergeordnete und relative Bedeutung in Anspruch. Je mehr indes die das Drama beherrschende Reflexion durchdringt, desto mehr erhalten auch die Nebenpersonen eine gewisse, so zu sagen relative Absolutheit. Dies ist keineswegs ein Fehler, sondern ein Vorzug; sowie eine Weltbetrachtung, welche nur die hervorragenden Individuen und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Welt ins Auge faßt, aber der subalternen nicht acht hat, zwar in einem gewissen Sinne höher steht, aber im Grunde doch hinter derjenigen zurückbleibt, die das Geringere in seiner ebenso großen Bedeutung mit in Betracht zieht. Dem Dramatiker wird das nur in dem Grabe gelingen, wie die ganze Stimmung, auf welcher seine Dichtung beruht und aus welcher sie hervorgeht, in die eigentlich dramatische Stimmung, Handlung und Situation umgesetzt worden ist. Je völliger dies ihm gelingt, wird auch der Totaleindruck, den sein Werk zurückläßt, weniger eine bloße Stimmung sein, als ein Gedanke, eine Idee. Wo letzteres nicht der Fall ist, da leidet das Drama an einem Übergewicht des Lyrischen. Was nun ein Fehler wäre bei einem Drama, ist es durchaus nicht bei einer Oper. Was die Einheit der Oper aufrechthält, ist der das Ganze tragende Grundton.

Was ich hier von der dramatischen Totalwirkung gesagt habe, gilt weiter von den einzelnen Teilen des Dramas. Um die Wirkung des Dramas, sofern sie von der Wirkung jeder andern Dichtungsart sich unterscheidet, mit einem Worte zu bezeichnen, möchte ich sagen: Das Drama wirkt durch das Gleichzeitige. Im Drama sehe ich die auseinanderfallenden Momente in der Situation, der Einheit der Handlung, zusammenstehen und -wirken. Je mehr nun die verschiedenen Momente ausgesondert sind, je tiefer die dramatische Situation durchdacht ist, desto weniger wird die dramatische Einheit auf eine bloße Stimmung hinauskommen, desto mehr ein bestimmter Gedanke sein. Allein sowie die Totalität der Oper nicht dermaßen von der Reflexion durchgearbeitet sein kann, wie es im eigentlichen Drama der Fall ist, so ist es gleichfalls mit der musikalischen Situation, welche zwar dramatisch ist, aber doch ihre Einheit in der Stimmung findet. Der musikalischen Situation ist, sowie jeder dramatischen Situation, das Gleichzeitige eigen; aber die Wirksamkeit der Kräfte ist ein Einklang, eine Übereinstimmung, eine Harmonie; und der Eindruck der musikalischen Situation ist die Einheit, welche durch das Zusammenhören des zugleich Ertönenden und Übereinstimmenden hervorgebracht wird. Je mehr das Drama durchreflektiert ist, desto völliger ist die Stimmung zur Handlung verklärt. Je weniger Handlung, desto mehr überwiegt das lyrische Moment. In der Oper ist dies ganz in der Ordnung. Die Oper hat nicht eine so reiche Charakterentwickelung und Handlung zu ihrer eigentlichen Aufgabe; hierzu ist sie einmal nicht reflektiert genug. In der Oper findet dagegen eine reflexionslose, substantielle Leidenschaft ihren Ausdruck. Die musikalische Situation liegt in der Einheit der Stimmung, bei der diskreten Stimmenmehrheit. Hierin eben besteht das Eigentümliche der Musik, dass sie die Stimmenmehrheit bewahrt ungeachtet der Einheit der Stimmung. Redet man im gewöhnlichen Leben von Stimmenmehrheit, so pflegt man wohl dadurch eine gewisse Einheit, als schließliches Resultat, zu bezeichnen: in der Musik ist dies nicht so der Fall.

Das dramatische Interesse verlangt raschen Fortschritt, bewegten Takt. Je mehr das Drama von der Reflexion durchdrungen ist, desto unaufhaltsamer drängt es vorwärts. Ist dagegen das lyrische oder das epische Moment das einseitig überwiegende, so äußert es sich in einer gewissen Betäubung, welche die Situation gleichsam einschlummern läßt, welche den dramatischen Prozeß und Fortgang träge und schwerfällig macht. Im Wesen und Charakter der Oper liegt solche Eile nicht; ihr ist ein gewisses Verweilen und Zögern eigen, eine gewisse behagliche Ausbreitung in Zeit und Raum. Die Handlung hat nicht die Raschheit eines Sturzes, noch dessen Richtung, sondern bewegt sich mehr horizontal. Die Stimmung wird nicht in Charakter und Handlung sublimiert. Hieraus folgt, dass die Handlung der Oper nur eine unmittelbare Handlung, d.h. nicht eine von langer Hand der angelegte und kombinierte. Sondern nur eine aus augenblicklichem Impulse erfolgende sein kann.


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