Sinnlichkeit, Eros und das Christentum


Zunächst hat diese Untersuchung sich also zur Aufgabe gestellt, die Bedeutung des Musikalisch-Erotischen nachzuweisen und zu dem Ende die verschiedenen Stadien anzudeuten, welche, eines wie das andere unmittelbar erotisch, zugleich darin einander gleichen, dass sie wesentlich musikalisch sind. Was ich hierüber zu sagen habe, verdanke ich einzig und allein Mozart. Sollte daher jemand höflich genug sein, mir zwar recht zu geben in meinen Behauptungen, dagegen etwas zweifelhaft wäre, ob das Gesagte in Mozarts Musik liege, oder nur von mir hineingelegt werde, so kann ich ihm versichern, dass nicht bloß das Wenige, was ich nachzuweisen vermag, in Mozarts Musik liegt, sondern unendlich viel mehr. Was man mit jugendlicher Schwärmerei geliebt, was man enthusiastisch bewundert, ja womit man in tiefster Seele einen geheimnisvollen Umgang geführt, was man in seinem Herzen geborgen hat, dem naht man immer mit einer gewissen Scheu, mit gemischten Empfindungen, wenn die Absicht vorliegt, es begreifen zu wollen. Was man stückweise kennen gelernt, nach Art der Vöglein jeden kleinen Strohhalm für sich eingesammelt hat, froher über jede solche Kleinigkeit als über die ganze übrige Welt, was das liebende Ohr einsam eingesogen hat, einsam mitten im Volksgedränge, unbeachtet in seinem heimlichen Winkel; was das Ohr heißhungrig auffing und festhielt, ohne je Genüge zu finden, dessen leisester Widerhall niemals des lauschenden Ohres schlaflose Aufmerksamkeit täuschte; worin man den Tag über lebte, was man nächtens wieder durchlebte; was den Schlaf verscheuchte oder ihn unruhig machte; wovon man träumte und auch mit offnen Augen weiter träumte; um dessentwillen man mitten in der Nacht aufsprang, aus Furcht, es zu vergessen; was in den begeistertsten Augenblicken einem vor die Seele trat, was man, wie die Frauen ihre Handarbeit, beständig zur Hand hatte; was einem in den hellen Mondnächten, in einsamen Wäldern, am Meeresgestade, in den düstern Straßen, um Mitternacht und noch beim Granen des Morgens begleitete; was mit uns zu Pferde faß, im Wagen Gesellschaft leistete; wovon unsre Häuslichkeit durchdrungen, wovon unser Zimmer Zeuge war; was die Seele durchtönt hat, was sie in ihr feinstes Gewebe hineingesponnen hat - das ist's, was sich jetzt dem Nachdenken darstellt. Wie in den Sagen der Vorzeit jene rätselhaften Wesen, in Seetang gekleidet, aus dem Grunde des Meeres emporsteigen, ebenso erhebt jenes sich, mit Bildern voriger Tage umflochten, aus dem Meer der Erinnerung. Die Seele wird wehmütig, und das Herz weich; beim es ist, als nähme man davon Abschied, um niemals ihm wieder so zu begegnen in Zeit und Ewigkeit. Man meint, eine Untreue zu begehen; man fühlt, dass man nicht mehr derselbe, nicht so jung, so kindlich ist. Man fürchtet für sich selbst, dass man verlieren werde, was einen froh, glücklich und reich machte; man fürchtet für das, was man lieb hat, dass es unter dieser Verwandlung leide, sich weniger vollkommen zeige, dass der Zauber verschwunden sei: und dieser läßt sich niemals mehr zurückrufen. Was Mozarts Musik betrifft, so kennt meine Seele keine Furcht, mein Vertrauen keine Grenze. Teils ist, was ich bisher verstanden habe, nur sehr wenig, und immer bleibt noch genug, was sich in den Schatten der Ahnung hüllt; teils bin ich überzeugt, daß, würde Mozart mir jemals ganz begreiflich, er mir erst vollkommen unbegreiflich würde. - Daß das Christentum zuerst die Sinnenlust in die Welt (oder in ihrer wahren Natur zu Tage) gefördert habe, scheint eine kühne und gewagte Behauptung. Allein auch hier dürfte es heißen: »Frisch gewagt, ist halb gewonnen.« Sofern das Sinnliche (Fleischliche) das ist, was negiert werden soll, so kommt es ja erst ans Licht, wird erst poniert durch den Akt, der es ausschließt, der das entgegengesetzte Positive poniert. Als ein Prinzip, eine Macht, ein System ist die Sinnenlust erst durch das Christentum bestimmt worden. Richtig verstanden wird jener Satz aber nur, wenn man ihn als identisch mit seinem Gegensatze versteht, dass das Christentum es ist, welches die Sinnenlust aus der Welt verjagt oder ausgeschlossen hat. Wird sie im Lichte des Geistes, oder des positiven Prinzips, welches erst das Christentum als Herrscher eingesetzt hat, betrachtet, so ergibt sich ihre Bedeutung dahin, dass sie das zur Überwindung oder Ertötung Bestimmte ist. Aber jetzt erst, in dem Augenblicke, wo sie ausgeschlossen werden soll, erweist sie sich als wirksames Prinzip, als Macht. Daß die Sinnenlust schon lange vor dem Christentum in der Welt gewesen ist, als das, was eben durch dieses sollte ausgeschlossen werden, ist selbstverständlich, wenn es auch erst, indem es ausgeschlossen wird, in einem andern Sinne aufkommt.

Die Sinnenlust ist also zwar vorher in der Welt gewesen, aber nur nicht geistig (pneumatisch) bestimmt. In welcher Art war sie denn vorhanden? Sie war da als etwas nur seelisch (psychisch) Bestimmtes. Also war sie's im Heidentume; und sucht man dafür den vollkommensten Ausdruck, so fand sich dieser in Griechenland. Wenn jedoch die Sinnenlust bloß psychisch bestimmt ist, so stellt sie nicht einen Gegensatz, eine Ausschließung dar, sondern Harmonie und Einklang. Aber eben darum, weit sie als etwas harmonisch Geartetes galt, war sie nicht als Prinzip gesetzt, sondern als ein mitlautendes Enklitikon (Anhängsel).

Diese Anschauung wird von Bedeutung sein, um die verschiedene Gestalt zu beleuchten, welche das Erotische seinen verschiedenen Entwickelungsstufen nach im Wettbewußtsein einnimmt, und uns dadurch den Weg bahnen, um das Unmittelbar-Erotische als identisch zu erkennen mit dem Musikalisch-Erotischen. Im Griechentum wurde die Sinnlichkeit von der schönen Erscheinung eines Individuums beherrscht, oder richtiger gesagt, sie wurde nicht beherrscht. Galt sie doch nicht als ein Feind, der überwältigt, nicht als ein Empörer, der unter Rute und Zucht gehalten werden müsse: sie war freigelassen zu Leben und Freude mit und an der schönen Erscheinung. Somit war die Sinnlichkeit keineswegs als ein Prinzip (bewusster Lebensgrundsatz) aufgestellt: vielmehr war das die schöne Individualität konstituierende Psychische undenkbar ohne das Sinnliche. Aus diesem Grunde war denn auch das Erotische, welches auf dem Sinnlichen beruhte, nicht als Prinzip bestimmt. Die Liebe war überall als Moment und momentweise gegenwärtig in der schönen Individualität. Den Göttern war die Macht derselben nicht weniger bekannt, als den Menschen. Die ersteren kannten nicht weniger, als die letzteren, glückliche und unglückliche Liebesabenteuer. In keinem derselben ist jedoch die Liebe als Prinzip gegenwärtig. Soweit sie sich in dem einen oder andern regte, war sie vorhanden als Moment der allgemein waltenden Macht der Liebe, welche Macht indessen an keinem Orte gleichsam ansässig war, daher auch nicht für die griechische Vorstellung oder in dem griechischen Bewußtsein. Schon nach Hesiod galt Eros als der ältesten Götter einer, als die einigende und bindende Macht, durch welche alle Wesen der Welt entstehen und zu harmonischer Ordnung gebracht werden.

Man könnte mir einwenden: Eros sei aber doch der Gott der Liebe gewesen; in ihm müsse man sich also die Liebe als Prinzip gegenwärtig denken. Aber abgesehen davon, dass doch auch hier die Liebe nicht auf dem Erotischen, als bloß sinnlichen Ursprungs, sondern auf dem Seelischen beruht, so kommt zugleich ein andrer Umstand in Betracht, auf welchen ich jetzt etwas näher eingehen will. Eros war der Gott der Liebe, aber selber - nicht verliebt. Soweit die übrigen Götter oder Menschen die Macht der Liebe in sich verspürten, schrieben sie dieses zwar dem Eros zu, führten es auf ihn zurück: Eros selbst aber warb nicht verliebt; und soweit solches ihm doch einmal widerfuhr, war's eine Ausnahme. Obschon der Liebesgott, stand gerade er, was die Anzahl der Abenteuer betrifft, hinter den übrigen Göttern, sowie hinter den Menschen, weit zurück. Daß er überhaupt sich verliebt hat, hiermit ist zunächst wohl nur ausgedrückt, dass auch er sich der allgemeinen Macht der Liebe gebeugt habe, welche so gewissermaßen eine Macht warb über ihm und außerhalb seiner selbst. Auch ist seine Liebe, wie gesagt, nicht auf das Sinnliche basiert, sondern auf das Seelische. (Erst eine spätere Zeit hat ihn in die verschiedensten Situationen zur Psyche, der Personifikation der menschlichen Seele, gebracht, letztere darstellend unter dem Bilde des Schmetterlings, oder als zartes Mädchen mit Schmetterlingsflügeln.) Es ist ein echt griechischer Gedanke, dass der Gott der Liebe selbst nicht verliebt ist, während alle andern ihm verdanken, dies zu sein. Dächte ich mir einen Gott oder eine Göttin der Sehnsucht, so wäre es echt griechisch, daß, während alle, welche der Sehnsucht süßen Schmerz und Unruhe kannten, sie auf diese Gottheit zurückführten, diese selbst von Sehnsucht nichts wüßte. Dieses Verhältnis dürste man füglich als das Gegenteil eines repräsentativen Verhältnisses bezeichnen. Wo ein solches besteht, da erscheint alle Kraft konzentriert in einem Individuum; nur soweit die übrigen dessen Lebensäußerungen mit ihrer Teilnahme begleiten, partizipieren sie an der so konzentrierten Kraft. Ich könnte auch sagen, jenes Verhältnis sei das gerade Gegenteil desjenigen, das der Inkarnation zu Grunde liege. Hier trägt das einzelne Individuum in sich selbst die ganze Lebensfülle, welche für die übrigen Individuen nur vorhanden ist, wiefern sie dieselbe in ihm anschauen und also sich zu Gemüte führen. Im griechischen Bewußtsein steht die Sache gerade umgekehrt. Der Gott (Eros) teilt seine Kraft der ganzen übrigen Welt mit, während sie in ihm selbst nicht vorhanden ist. Demnach gilt die Sinnlichkeit nicht als Prinzip im Griechentume, ebensowenig das darauf basierte Erotische als göttlich waltendes Prinzip; jedenfalls wohnt dem griechischen Bewußtsein nicht die Stärke bei, das Ganze in einem einzigen Individuum zu konzentrieren; sondern es strahlt hier von einem Punkte, der es selbst nicht besitzt, auf alle andern über, so dass dieser zentrale Punkt daran beinahe kenntlich ist, dass ihm allein nicht eignet, was es doch allen andern spendet.

Also ist es das Christentum, durch welches die Sinnlichkeit, oder Sinnenlust, ebenso wie das sinnliche Erotische, erst als ein Prinzip hingestellt ist; auch die Idee der Repräsentation ist erst durch das Christentum in die Welt eingeführt worden. Denke ich mir nun das Sinnlich-Erotische als ein Prinzip, eine Kraft, ein Reich (durch den Geist soweit bestimmt, als dieser es eben verneint und ausschließt), denke ich es mir in einem Individuum konzentriert: alsdann geht mir die Idee einer sinnlich-erotischen Genialität auf. Dieses ist eine Idee, welche das Griechentum nicht befaß, welche erst das Christentum, ob auch nur in indirektem Sinne, aufgebracht hat.


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