Erstes Stadium


Das erste Stadium ist angedeutet in dem Pagen der Oper Figaro. Selbstverständlich darf man in ihm nicht ein einzelnes Individuum sehen. Sieht man ihn von jemandem dargestellt, oder stellt man ihn sich danach in Gedanken vor, so mischt sich leicht etwas Zufälliges, der Idee Fernliegendes ein. Durch jeden Zusatz wird er mehr, als er sein soll; aber durch dieses Mehr verliert er: er hört hiermit auf, die Idee zu sein. Daher darf man ihm nicht, wie andern, gestatten zu replizieren; sondern der einzige adäquate Ausdruck bleibt die Musik, weshalb es wohl zu bemerken ist, dass sowohl Figaro als Don Juan, wie beide aus Mozarts Hand hervorgegangen sind, zu den opera seria gehören. Betrachtet man nun also den Pagen als eine mythische Figur, so wird man in der Musik das Eigentümliche des ersten Stadiums ausgedrückt finden.

Die Sinnlichkeit erwacht, jedoch nicht zu bewegten Lebensäußerungen, sondern zu stiller Quieszenz, nicht zu Lust und Freude, sondern zu tiefer Melancholie. Die Begierde ist noch nicht erwacht: sie wird schwermütig geahnt. In der Begierde ist beständig das Begehrte gegenwärtig; es steigt aus dieser empor und erscheint in verwirrender Dämmerung. Unter Schatten und Nebeln weicht das Bild zurück; indem es sich in diesen abspiegelt, wird es wieder mehr in die Nähe gebracht. Die Begierde besitzt gewissermaßen, was Gegenstand derselben werden soll, aber ohne es bisher wirklich recht begehrt zu hoben; so besitzt sie es in Tat und Wahrheit nicht. Dieses ist der schmerzliche, aber auch durch seine Süßigkeit betörende und bezaubernde Widerspruch, der mit seiner Wehmut, seiner Schwermut dieses Stadium durchtönt. Wie das Begehren ein stilles und zurückhaltendes ist, ebenso auch die Sehnsucht, die Schwärmerei, welche gerade darum schwermütig wird, weil sie es nicht zu rechtem, vollem Begehren bringt. Sobald die Begierde erwacht, ja, unter und mit ihrem Erwachen, atmet sie frei und gesund. Sie trägt dann nicht bloß ein Nebelbild des Begehrten in sich selbst, welches sie bezauberte, umstrickte, ja fast ängstigte. Jetzt steht das Begehrte vor ihr et apparet sublime (erscheint als ein Höheres über ihr). Bemalt man die ganze Decke eines Zimmers mit Figuren, eine neben der andern, so »drückt«, wie der Maler sagt, eine solche Decke; bringt man eine einzige Figur leicht und flüchtig an, so wird die Decke dadurch gehoben. So verhält es sich mit der Begierde und dem Begehrten, nachdem sie auseinandergetreten sind, in dem ersten und dem weiteren Stadium. Wiewohl nun solche bloß ahnende Begierde hinsichtlich ihres Gegenstandes noch völlig unbestimmt ist, so ist doch eine nähere Bestimmung von ihr auszusagen, nämlich diese, dass sie unendlich tief ist. Gleich dem Gotte Tor, fangt sie mittels eines Hornes, dessen Spitze ins Weltmeer taucht; jedoch fangt sie ihren Gegenstand keineswegs zu sich heran. Es ist eben nichts andres, als das Seufzen der Seele; und dieses ist gewiß ein unendlich tiefes.

Mit der gegebenen Beschreibung des ersten Stadiums harmoniert es unstreitig und ist von großer Bedeutung, dass die Partie des Pagen in musikalischer Hinsicht so eingerichtet ist, dass sie die Lage einer weiblichen Stimme hat. Hiermit ist der innere Widerspruch, der diesem Stadium eignet, angedeutet. Das Verlangen ist noch ein so unbestimmt schwebendes, sein Gegenstand noch so wenig von ihm ausgeschieden, zu einem Gegenüber, dass das Begehrte gleichsam androgynisch in dem Verlangen ruht, sowie im Pflanzenleben das Männliche und Weibliche einer und derselben Blume innewohnt.

Obgleich die Repliken des Libretto nicht die des mythischen (ideellen) Pagen sind, sondern nur des Pagen im Stücke jener poetischen Figur Cherubin, und teils, als gar nicht vom Tondichter Mozart stammend, in diesem Zusammenhange außer acht zu lassen sind, teils etwas ganz andres ausdrücken, als wovon hier die Rede ist, so will ich doch eine Replik hervorheben, weil sie mich veranlaßt, das gegenwärtige Stadium in seiner Analogie mit einem nachfolgenden zu betrachten. Susanne spottet über Cherubin, weil er auch in Marseline etwas verliebt sei, und der Page hat keine andre Antwort zur Hand, als diese: Sie ist ein Mädchen! Bei dem Pagen im Stücke ist es wesentlich, dass er in die Gräfin verliebt ist, unwesentlich, dass er sich in Marseline verlieben kann - weiter nichts als ein indirekter und paradoxer Ausdruck für die Glut der Leidenschaft, welche ihn an die Gräfin fesselt. Hinsichtlich des mythischen Pagen ist es gleich wesentlich, dass er in die Gräfin und in Marseline verliebt ist. Sein Gegenstand ist nämlich die Weiblichkeit, und diese ist beiden gemeinsam. Wenn wir später Leporello von seinem Herrn singen hören:

 

Sechzigjährige Kokette

Zieht er auch an seiner Kette,

 

so ist dieses hierzu die vollkommene Analogie, nur dass die Begierde in ihrer Intensität und Entschiedenheit hier weit entwickelter ist.

Soll ich nun versuchen, das Eigentümliche der Mozartschen Musik, wie diese aus dem Pagen im Figaro ertönt, durch ein einzelnes Prädikat zu bezeichnen. So möchte ich sagen: sie ist liebestrunken. Allein, wie jeder Rausch, kann auch der Liebesrausch auf zweierlei Art wirken, entweder zu gesteigerter gegenseitiger Liebeswonne, oder zu mehr verdicktem, unklarem Trübsinn. Letzteres trifft hier bei der Musik zu; und so ist's auch richtig. Den Grund kann die Musik nicht angeben, weil das ihr Vermögen übersteigt. Die Stim-mung an sich kann das Wort nicht ausdrücken: sie ist zu schwer und wuchtig, als dass die Rede sie tragen könnte. Nur die Musik ist im stande, sie wiederzugeben. Der Grund dieser Melancholie liegt in dem tiefen innern Widerspruch, auf den wir im vorhergehenden aufmerksam gemacht haben.

Indem wir von dem ersten Stadium scheiden, lassen wir den mythischen Pagen schwermütig fortträumen über das, was er hat, melancholisch begehren, was er innerlich besitzt. Weiter kommt er nicht. Ein andres ist es mit dem Pagen im Stücke. Für seine Zukunft wollen wir uns mit aufrichtiger Teilnahme interessieren; wir gratulieren ihm, dass er Kapitän geworden ist; wir erlauben ihm, noch einmal die Susanne zu küssen, zum Abschied zu küssen; wir werden ihn nicht verraten hinsichtlich des Males, das er auf der Stirn trägt, welches niemand sehen kann, als wer davon weiß. Aber auch nicht mehr, mein guter Cherubin; oder wir rufen den Grafen, und alsdann heißt es: »Fort, zur Tür hinaus, zum Regimente! er ist ja kein Kind; das weiß niemand besser, als ich.«


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