Anschauung
Anschauung. Alle Erkenntnis bedarf der sinnlichen Anschauung, der äußeren oder inneren. Ohne Anschauung sind unsere Begriffe leer, sie sind rein formale Gedanken ohne Gegenstand. Das Denken liefert nur an der Hand von Anschauungsmaterial Erkenntnis, obzwar es „reine“ Begriffe (Kategorien) gibt, die unabhängig von sinnlicher Anschauung im Verstande entspringen. Ohne Begriffe anderseits ist die Anschauung „blind“, sie kann für sich allein keine Bestimmung und keinen inneren Zusammenhang gewähren; nur das Material zu einer Erkenntnis ist durch sie — für das Denken — gegeben. Da das „Ding an sich“ (s. d.) sich unserer Anschauung entzieht, ist es, das „Übersinnliche“ (s. d.), unerkennbar. Von der sinnlichen ist die „reine“ Anschauung (s. d.), von beiden die „intellektuelle“ Anschauung (s. d.) zu unterscheiden. Unser Verstand vermag nichts aus sich anzuschauen, er ist kein anschauender, intuitiver (göttlicher) Verstand. Zwischen Anschauung und reinem Denken vermittelt das transzendentale „Schema“ (s. d.). Die Einheit der Anschauung beruht auf einer Synthese der „Apprehension“ (s. d.).
Von den Verstandesbegriffen (s. Verstand) gibt es (für den Menschen) keine Anschauung, nur „symbolische Erkenntnis“. „Alle unsere Anschauung ist nämlich an ein Prinzip der Form gebunden, unter der allein etwas unmittelbar oder als Einzelnes von dem Geiste geschaut und nicht bloß diskursiv durch allgemeine Begriffe gedacht werden kann. Dieses formale Prinzip unserer Anschauung (Raum und Zeit) ist aber die Bedingung, unter der etwas Gegenstand unserer Sinne sein kann, und als eine Bedingung der sinnlichen Erkenntnis ist es deshalb kein Mittel zu einer intellektualen Anschauung. Außerdem wird aller Stoff unserer Erkenntnis nur von den Sinnen geliefert; das Gedankending als solches kann aber nicht durch Vorstellungen, die den Sinnen entlehnt sind, erfaßt werden; deshalb ist der Verstandesbegriff als solcher leer von allem Gegebenen der menschlichen Anschauung. Die Anschauung unseres Geistes ist nämlich immer passiv und deshalb nur soweit möglich, als etwas unsere Sinne affizieren kann. Dagegen ist die göttliche Anschauung, welche das Prinzip der Gegenstände, nicht ihre Wirkung darstellt, da sie unabhängig ist, das Urbild (Archetypus) und deshalb eine vollkommen geistige (intellektuale)“, Mund. sens. § 10 (V 2, 102).
Anschauung ist „die Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann“, KrV tr. Ästh. § 4,4 (I 87—Rc 104); „eine Vorstellung, sowie sie unmittelbar von der Gegenwart des Gegenstandes abhängen würde“, Prol. § 8 (III 34). „Was Sie von Ihrer Definition der Anschauung: sie sei eine durchgängig bestimmte Vorstellung in Ansehung eines gegebenen Mannigfaltigen, sagen, dagegen hätte ich nichts weiter zu erinnern als: daß die durchgängige Bestimmung hier objektiv und nicht als im Subjekt befindlich verstanden werden müsse (weil wir alle Bestimmungen des Gegenstandes einer empirischen Anschauung unmöglich kennen können), da dann die Definition doch nicht mehr sagen würde als: sie ist die Vorstellung des einzelnen Gegebenen“, An J. S. Beck, 3. Juli 1792; vgl. Log. § 1 (IV 98). „Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselben unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung Diese findet aber nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum, uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere.“ Vermittels der Sinnlichkeit (s. d.) werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen. Alles Denken (s. d.) aber „muß sich, es sei geradezu (directe) oder im Umschweife (indirecte), vermittels gewisser Merkmale, zuletzt auf Anschauungen, mithin bei uns auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann“. Diejenige Anschauung, „welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht“, ist „empirisch“. Die „reine Form der Sinnlichkeit“ ist „reine“ Anschauung, KrV tr. Ästh. § 1 (I 75 f.—Rc 92 f.). Alle unsere Anschauung ist „nichts als die Vorstellung von Erscheinung“. Die Dinge, die wir anschauen, sind nicht das „an sich“, wofür wir sie anschauen. Wir erkennen eigentlich an ihnen nur „unsere Art der Anschauung“ (d. h. der Sinnlichkeit), mögen unsere Vorstellungen noch so deutlich sein, KrV tr. Ästh. § 8 (I 95 f.—Rc 113). „Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen“, KrV tr. Anal. 1. B. 1. H. 1. Abs. (I 120—Rc 139). „Alles, was uns als Gegenstand gegeben werden soll, muß uns in der Anschauung gegeben werden. Alle unsere Anschauung geschieht aber nur vermittelst der Sinne; der Verstand schaut nichts an, sondern reflektiert nur“, Prol. § 13 Anmerk. II (III 43). Anschauung eines Gegenstandes ist eine unmittelbare und einzelne Vorstellung, durch die der Gegenstand „als zur Erkenntnis Anschauung. gegeben“ wird, Fortschr. d. Metaph. 1. Abt. (V 3, 91). In der (durch Chr. Wolff gründlich bearbeiteten) dogmatischen Metaphysik war eine Ursache von Irrtümern die „Ermangelung aller Anschauung a priori, welche man als Prinzip gar nicht kannte, die vielmehr Leibniz intellektuierte, d. i. in lauter verworrene Begriffe verwandelte“. Leibniz „ließ nur eine Unterscheidung durch Begriffe zu und wollte keine von dieser spezifisch unterschiedenen Vorstellungsart, nämlich Anschauung, und zwar a priori, anerkennen, die er vielmehr in lauter Begriffe der Koexistenz oder Sukzession auflösen zu müssen glaubte“, ibid. 2. Abs. 1. Stadium (V 3, 109f.). Wäre die Anschauung „intellektuell“, so würden wir die Dinge so anschauen, wie sie an sich sind. Unsere Anschauung ist aber „nur die Art, wie wir von einem an sich selbst uns ganz unbekannten Objekt affiziert werden“, Üb. e. Entdeck. 1. Abs. C (V 3, 41); vgl. Sinnlichkeit. — Anschauung und Begriff (s. d.) sind die Elemente aller unserer Erkenntnis, die sie nur vereinigt geben. „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ Unser Verstand für sich vermag nichts anzuschauen, er ist kein anschauender Verstand (s. d.); die Sinnlichkeit (s. d.) vermag nichts zu denken, KrV tr. Log. Einl. I (I 106 f.). Ohne daß einem Begriff die korrespondierende Anschauung gegeben wird, gibt es für uns keine objektive Realität. Die Kritik behauptet, „daß, ohne einem Begriff die korrespondierende Anschauung zu geben, seine objektive Realität niemals erhelle“, Üb. e. Entdeck. 1. Abs. B (V 3, 26). „Die Frage war: ob wir von dem, welchem keine korrespondierende Anschauung gegeben werden kann, eine Erkenntnis zu bekommen hoffen können. Das wurde von der Kritik in Ansehung dessen, was kein Gegenstand der Sinne sein kann, verneint; weil wir zu der objektiven Realität des Begriffs immer einer Anschauung bedürfen, die unsrige aber, selbst die in der Mathematik gegebene, nur sinnlich ist“, ibid. C (V 3, 32). Die Kritik kommt zu dem Ergebnis, „daß keinem Begriffe seine objektive Realität anders gesichert werden könne, als sofern er in einer korrespondierenden Anschauung (die für uns jederzeit sinnlich ist) dargestellt werden kann“, Üb. e. Entdeck., Einleit. (V 3, 5). — „Die unmittelbare Vorstellung des einzelnen ist die Anschauung.“ „Durch die Anschauung, die einem Begriffe gemäß ist, wird der Gegenstand gegeben; ohne dieselbe wird er bloß gedacht. Durch diese bloße Anschauung ohne Begriff wird der Gegenstand zwar gegeben, aber nicht gedacht, durch den Begriff ohne korrespondierende Anschauung wird er gedacht, aber keiner gegeben; in beiden Fällen wird also nicht erkannt“, Fortschr. d. Metaph. Beilage I 2. Abs. (V 3, 156 f.); vgl. Begriff. — Alle Anschauungen, die man apriorischen Begriffen unterlegt, sind Schemata (s. d.) oder Symbole (s. d.). Ohne „Schemata“ (s. d.), durch welche die Kategorien auf die Anschauung angewandt werden, sind diese Verstandesbegriffe rein formal, bieten sie keine objektive Erkenntnis. Vgl. Denken, Wahrnehmung, Empfindung, Konstruktion, Exponibel, Demonstration, Axiom, Intuitiv.