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Eine Viertelstunde darauf lief ich in wütender Ungeduld im Zimmer auf und ab, trat alle Augenblicke an den Bettschirm heran und blickte durch eine Spalte nach Lisa hin. Sie saß auf dem Fußboden, lehnte den Kopf an das Bett und weinte wahrscheinlich. Aber sie ging nicht fort, und gerade das war es, was mich in Erregung versetzte. Diesmal verstand und durchschaute sie alles. Ich hatte sie in einer nicht wieder gutzumachenden Weise beleidigt; aber … es hat keinen Zweck, das zu erzählen. Sie hatte erkannt, daß der Ausbruch meiner Leidenschaft geradezu ein Racheakt gewesen war, eine neue ihr zugefügte Erniedrigung, und daß sich zu meinem früheren fast gegenstandslosen Hasse jetzt noch ein persönlicher, neidischer Haß gegen sie gesellt hatte … Indessen will ich nicht behaupten, daß sie das alles mit völliger Klarheit erkannt hätte; aber dafür begriff sie vollkommen, daß ich ein schändlicher Mensch und vor allen Dingen nicht fähig war, sie zu lieben.

Ich weiß, man wird mir vorhalten, das sei unwahrscheinlich; es sei unwahrscheinlich, daß jemand so boshaft und dumm sein könne, wie ich nach meiner Schilderung; vielleicht wird man noch hinzufügen, es sei unwahrscheinlich, daß ich sie nicht hätte liebgewinnen oder nicht wenigstens ihre Liebe nach Verdienst schätzen sollen. Warum sollte es unwahrscheinlich sein? Erstens war ich überhaupt nicht mehr fähig zu lieben; denn (ich wiederhole es) lieben bedeutete bei mir soviel wie tyrannisieren und moralisch beherrschen. Ich habe mir sogar mein ganzes Leben lang die Liebe nicht anders vorstellen können und bin dahin gelangt, daß ich jetzt manchmal glaube, die Liebe bestehe eben darin, daß das geliebte Wesen einem gutwillig das Recht einräumt, es zu tyrannisieren. Auch in den Träumereien, denen ich mich in meiner Abgeschiedenheit hingab, habe ich mir die Liebe immer nur als einen Kampf vorgestellt, sie stets mit Haß begonnen und mit moralischer Unterjochung des geliebten Wesens beendet, dann aber mir überhaupt keine Vorstellung davon zu machen vermocht, was ich mit dem unterjochten Wesen weiter anfangen könne. Und was kann denn hierbei unwahrscheinlich sein, da ich doch schon dermaßen moralisch verkommen, dermaßen des „lebendigen Lebens“ entwöhnt war, daß ich mir ein Weilchen vorher hatte beikommen lassen, ihr zu ihrer Beschämung den Vorwurf zu machen, sie sei zu mir gekommen, um „mitleidige Worte“ zu hören, während ich selbst nicht erriet, daß sie ganz und gar nicht gekommen war, um mitleidige Worte zu hören, sondern um mich zu lieben, weil für ein Weib in der Liebe die ganze Auferstehung, die ganze Rettung von allem Verderben und die ganze Wiedergeburt besteht und sich überhaupt auf keine andere Weise als darin offenbaren kann. Indessen haßte ich sie nicht so besonders mehr, als ich da im Zimmer hin und her lief und durch die Spalte des Bettschirms hindurchsah. Es war mir nur unerträglich peinlich, daß sie da war. Ich wollte, daß sie verschwinden möchte. Ruhe wollte ich haben, allein bleiben in meinem Stübchen. Das „lebendige Leben“ bedrückte mich, der ich an dasselbe nicht gewöhnt war, dermaßen, daß mir sogar das Atmen schwer wurde.

Aber es vergingen noch mehrere Minuten, und sie erhob sich immer noch nicht, als ob sie alles um sich her vergessen hätte. Ich war gewissenlos genug, leise an den Bettschirm zu klopfen, um sie aus ihrer Versunkenheit aufzuwecken. Sie schrak plötzlich zusammen, sprang in die Höhe und machte sich eilig daran, ihr Brusttuch, ihren Hut, ihren Pelz zu suchen, wie wenn sie sich vor mir irgendwohin retten wollte. Zwei Minuten darauf trat sie langsam hinter dem Bettschirm hervor und sah mich ernst und traurig an. Ich lächelte boshaft, indes nur gezwungen, „anstandshalber“, und wandte meinen Blick von ihr ab.

„Leben Sie wohl“, sagte sie und ging nach der Tür hin.

Ich lief auf einmal zu ihr hin, ergriff ihre Hand, öffnete sie, schob ihr etwas hinein und machte sie dann wieder zu. Darauf wandte ich mich sogleich ab und stürzte so schnell wie möglich nach der entgegengesetzten Ecke des Zimmers, um wenigstens nichts weiter zu sehen.

Ich wollte soeben lügen und hinschreiben, daß ich das ohne Überlegung, ohne recht von mir selbst zu wissen, in geistiger Verwirrung, aus Dummheit getan hätte. Aber ich will nicht lügen, und darum sage ich offen: daß ich ihr die Hand aufmachte und etwas hineinschob, geschah aus Bosheit. Der Einfall, dies zu tun, war mir gekommen, als ich im Zimmer hin und her lief und sie hinter dem Bettschirm saß. Aber folgendes kann ich wahrheitsgemäß sagen: ich beging diese Grausamkeit zwar absichtlich; aber sie kam nicht aus meinem Herzen, sondern aus meinem argen Kopfe. Diese Grausamkeit war dermaßen erkünstelt, ausspintisiert, absichtlich ersonnen, „buchmäßig“, daß ich selbst es auch nicht eine Minute lang ertragen konnte: zuerst stürzte ich in die Ecke, um nichts mehr zu sehen; dann aber eilte ich voll Scham und Verzweiflung Lisa nach. Ich öffnete die Flurtür und horchte.

„Lisa! Lisa!“ rief ich auf die Treppe hinaus, aber nicht mit dreister Stimme, sondern nur halblaut.

Es erfolgte keine Antwort; ich glaubte ihre Schritte auf den untersten Stufen zu hören.

„Lisa!“ rief ich lauter.

Keine Antwort. Aber in demselben Augenblicke hörte ich von unten, wie sich die schwerfällige Haustür kreischend öffnete und schwerfällig wieder zuschlug. Ein dumpfer Widerhall erscholl auf der Treppe.

Sie war weggegangen. Unentschlossen kehrte ich ins Zimmer zurück. Ich fühlte mich schrecklich bedrückt.

Ich blieb am Tische neben dem Stuhl stehen, auf dem sie gesessen hatte, und starrte gedankenlos vor mich hin. So verging etwa eine Minute; auf einmal zuckte ich mit dem ganzen Leib zusammen: gerade vor mir erblickte ich auf dem Tische … kurz, ich erblickte einen zusammengeknitterten blauen Fünfrubelschein, denselben Schein, den ich ihr eine Minute vorher in die Hand gesteckt hatte. Es war derselbe Schein; es konnte kein andrer sein; ein andrer war überhaupt in der Wohnung nicht vorhanden. Sie hatte also in dem Augenblicke, wo ich in die entgegengesetzte Ecke stürzte, Zeit gefunden, ihn aus der Hand auf den Tisch zu werfen.

Nun ja, ich hätte erwarten können, daß sie das tun werde. Konnte ich es wirklich erwarten? Nein. Ich war ein solcher Egoist und schätzte tatsächlich die Menschen so gering, daß ich mir gar nicht vorstellen konnte, daß sie so handeln werde. Das ertrug ich nicht. Einen Augenblick darauf begann ich wie ein Unsinniger mich anzukleiden, indem ich mir auf den Leib zog, was ich in der Hast ergriff, und lief ihr Hals über Kopf nach. Sie konnte noch nicht zweihundert Schritte weit weg sein, als ich auf die Straße hinauslief.

Es war still und schneite; der Schnee fiel fast senkrecht herunter und breitete sich wie ein Kissen auf das Trottoir und auf die menschenleere Straße. Es waren keine Passanten vorhanden; kein Laut war zu hören. Trübselig und nutzlos schimmerten die Laternen. Ich lief etwa zweihundert Schritte bis zu einer Straßenkreuzung und blieb dann stehen. Wohin war sie gegangen? Und wozu lief ich ihr nach?

Ja, wozu? Um vor ihr niederzufallen, vor Reue zu schluchzen, ihre Füße zu küssen, sie um Verzeihung zu bitten! Das wollte ich; die Brust drohte mir in Stücke zu springen, und niemals, niemals werde ich mit Gleichmut an diesen Augenblick zurückdenken. Aber, — wozu? ging es mir durch den Kopf. Werde ich sie nicht vielleicht schon morgen gerade dafür hassen, daß ich heute ihre Füße geküßt habe? Kann ich sie etwa glücklich machen? Habe ich nicht heute wieder, zum hundertsten Male, erkannt, daß ich ein ganz wertloser Mensch bin? Werde ich sie etwa nicht zu Tode quälen?

Ich stand im Schnee da, starrte in die trübe Dunkelheit hinein und überlegte dies alles.

„Und wird es nicht das beste, wirklich das beste sein“, phantasierte ich nachher, als ich schon zu Hause war und mit solchen Phantasien den scharfen Seelenschmerz zu betäuben versuchte, „wird es nicht das beste sein, wenn sie jetzt für ihre ganze Lebenszeit die Beleidigung mit sich fortträgt? Eine Beleidigung, das ist ja doch zugleich eine Läuterung; das ist die bitterste, schmerzlichste Form der Selbsterkenntnis! Gleich morgen hätte ich durch mein weiteres Verhalten ihre Seele beschmutzt und ihr Herz matt gemacht. Aber das Gefühl, beleidigt zu sein, wird in ihr jetzt niemals ersterben, und wie ekelhaft auch der Schmutz sein mag, der sie erwartet, die Beleidigung wird sie adeln und läutern … durch den Haß … hm! … vielleicht auch durch Vergebung … Aber wird ihr von alledem leichter ums Herz werden?“

Und in der Tat, da möchte ich jetzt von mir aus eine müßige Frage stellen: Was ist besser, ein billiges Glück oder ein erhabenes Leid? Na also, was ist besser?

Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich an jenem Abend bei mir zu Hause saß und vor Seelenschmerz fast vergehen wollte. Noch niemals hatte ich so viel Leid und Reue durchgemacht; aber konnte es denn im geringsten zweifelhaft sein, als ich aus der Wohnung hinauslief, daß ich auf halbem Wege kehrtmachen und nach Hause zurückkehren würde? Ich habe Lisa nie wiedergesehen und nie mehr etwas von ihr gehört. Ich füge noch die Bemerkung hinzu, daß die Phrase von dem Nutzen der Beleidigung und des Hasses mir lange Zeit hindurch eine gewisse Befriedigung gewährte, trotzdem ich selbst vor Leid damals beinahe krank wurde.

Selbst jetzt, nach so vielen Jahren, habe ich bei der Erinnerung an all dies die Empfindung, daß es doch gar zu häßlich war. Vieles erscheint mir jetzt als häßlich; aber … soll ich nicht an diesem Punkte meine Aufzeichnungen abschließen? Ich glaube, ich habe einen Fehler damit begangen, daß ich sie überhaupt zu schreiben angefangen habe. Wenigstens habe ich mich die ganze Zeit über, während ich diese „Novelle“ schrieb, geschämt: folglich war das nicht sowohl eine literarische Tätigkeit als vielmehr eine Korrektionsstrafe. Lange Geschichten darüber zu erzählen, wie ich mir mein Leben verhunzt habe durch meine moralische Fäulnis in meinem abgeschiedenen Winkel, durch den Mangel einer angemessenen Umgebung, durch die Entwöhnung von dem „lebendigen Leben“ und durch die Bosheit, die ich in meiner ärmlichen Behausung sorgsam ausklügelte, das ist wahrhaftig nicht interessant. In einem Roman muß ein Held sein; hier aber kommen wie absichtlich alle Charakterzüge für das Gegenteil eines Helden zusammen, und, was die Hauptsache ist, dies alles macht einen unangenehmen Eindruck, weil wir alle uns des Lebens entwöhnt haben, weil wir alle an diesem Fehler laborieren, der eine mehr, der andre weniger. Wir haben uns seiner dermaßen entwöhnt, daß wir manchmal vor dem wirklichen „lebendigen Leben“ eine Art von Abscheu empfinden und es deswegen auch nicht leiden mögen, wenn man uns an dieses erinnert. Sind wir ja doch dahin gelangt, daß wir das wirkliche „lebendige Leben“ beinahe für eine Mühe, beinahe für eine drückende dienstliche Arbeit halten und sämtlich im stillen darüber einig sind, daß es sich „buchmäßig“ besser lebt. Und warum sind wir manchmal so unruhig und launisch? Worauf richten sich unsere Wünsche? Wir wissen selbst nicht worauf. Uns selbst würde es schlechter gehen, wenn unsere törichten Wünsche in Erfüllung gingen. Na, machen Sie doch einmal einen Versuch, geben Sie uns zum Beispiel größere Selbständigkeit, binden Sie irgendeinem von uns die Hände los, erweitern Sie den Kreis seiner Tätigkeit, lockern Sie die Bevormundung, und wir … ich versichere Ihnen: wir werden sogleich wieder um die Bevormundung bitten. Ich weiß, daß Sie vielleicht deswegen über mich empört sein, mit den Füßen stampfen und mir zurufen werden: „Reden Sie von sich allein und von Ihrer Misere in Ihrem einsamen Winkel; aber erdreisten Sie sich nicht zu sagen: ‚wir alle‘!“ Erlauben Sie, meine Herren, wenn ich „wir alle“ sage, so tue ich das ja doch nicht, um mich zu entschuldigen. Was speziell mich anlangt, so habe ich ja in meinem Leben nur dasjenige bis zur äußersten Grenze durchgeführt, was Sie nicht einmal bis zur Hälfte durchzuführen gewagt haben; und dabei haben Sie noch Ihre Feigheit als Vernunft aufgefaßt und sich durch diesen Selbstbetrug getröstet. Daher ergibt sich am Ende, daß ich noch lebendiger bin als Sie. Aber sehen Sie doch einmal schärfer hin! Wir wissen ja nicht einmal, wo das Lebendige jetzt eigentlich lebt, und von welcher Art es ist, und wie es heißt. Lassen Sie uns einmal allein sein, ohne Bücher, und wir werden sofort in Verwirrung geraten und ratlos sein und nicht wissen, woran wir uns anschließen und was wir festhalten sollen, was wir lieben und hassen, verehren und verachten sollen. Wir halten es sogar für eine Last, daß wir Menschen sein sollen. Menschen mit wirklichem, eigenem Leib und Blut; wir schämen uns dessen, betrachten es als eine Schande und möchten eine Art von nie dagewesenen Universalmenschen sein. Wir sind Totgeburten und werden schon seit langer Zeit nicht von lebendigen Vätern erzeugt, und das sagt uns je länger je mehr zu. Wir kommen allmählich in Geschmack. Bald werden wir ein Mittel ausfindig machen, irgendwie aus der Idee geboren zu werden. Aber nun genug; mehr will ich „aus dem Dunkel der Großstadt“ nicht schreiben.

Übrigens enden die Aufzeichnungen dieses Liebhabers paradoxer Behauptungen hier doch noch nicht. Er hat sich nicht beherrschen können und hat weitergeschrieben. Aber auch uns scheint es, daß wir hier abbrechen können.