vi
… Irgendwoher hinter der Zwischenwand hob mit heiserem Schnarren eine Uhr aus; es klang, als ob ein starker Druck auf ihr lastete, als ob jemand sie würgte. Nach einem unnatürlich langen Schnarren folgte ein dünner, häßlicher, gewissermaßen unerwarteter Ton, wie wenn jemand plötzlich nach vorn spränge. Es schlug zwei. Ich kam zur Besinnung, wiewohl ich nicht eigentlich geschlafen, sondern nur in halber Bewußtlosigkeit dagelegen hatte.
In dem schmalen, engen, niedrigen Zimmer, in welchem noch ein gewaltig großer Kleiderschrank sowie herumliegende Kartons, Lappenzeug und allerlei Kleiderkram viel Platz beanspruchten, war es fast ganz dunkel. Ein Lichtstümpfchen, das auf einem Tische am Ende des Zimmers brannte, war schon dem Ausgehen nahe und flackerte nur ab und zu noch ein wenig auf. Nach einigen Minuten mußte vollständige Dunkelheit eintreten.
Es dauerte nicht lange, bis ich wieder zu mir kam; alles kam mir mit einem Male ohne jede Anstrengung sogleich ins Gedächtnis, als ob diese Erinnerungen ordentlich auf mich gelauert hätten, um wieder über mich herzufallen. Aber auch während der halben Bewußtlosigkeit selbst war ein bestimmter Punkt mir beständig im Gedächtnisse geblieben, ohne in Vergessenheit zu versinken, und um diesen Punkt hatten sich meine schlaftrunkenen, träumerischen Gedanken schwerfällig herumbewegt. Eines jedoch war sonderbar: Alles, was ich an diesem Tage erlebt hatte, kam mir jetzt nach dem Aufwachen so vor, als sei es schon lange, lange vergangen, als liege es schon weit, weit hinter mir.
Der Kopf war mir benommen. Ich hatte eine Empfindung, als schwebe etwas über mir, was mich reize, aufrege und beunruhige. Ärger und Ingrimm brodelten wieder auf und suchten einen Ausgang. Auf einmal erblickte ich neben mir zwei geöffnete Augen, die mich forschend und starr betrachteten. Der Blick derselben war kalt, teilnahmslos, finster, als ob sie einer ganz fremden Person gehörten; er rief bei mir ein peinliches Gefühl hervor.
Ein mißmutiger Gedanke entstand in meinem Gehirn und verbreitete sich mit einer widerwärtigen Empfindung durch meinen ganzen Körper; diese Empfindung hatte Ähnlichkeit mit der, wenn man in einen feuchten, dumpfen Keller tritt. Es war gewissermaßen unnatürlich, daß diese beiden Augen gerade jetzt erst auf den Gedanken gekommen waren, mich zu betrachten. Ich erinnerte mich auch, daß ich im Laufe von zwei Stunden mit diesem Wesen nicht ein einziges Wort gesprochen und das für ganz unnötig gehalten hatte; das hatte mir vorhin sogar aus irgendwelchem Grunde gefallen. Jetzt aber trat mir auf einmal vor die Seele das absurde, gleich einer Spinne ekelhafte Bild einer Ausschweifung, die ohne Liebe, roh und schamlos geradezu damit anfangt, womit die wahre Liebe ihre Krönung findet. So sahen wir einander lange an; aber sie schlug ihre Augen vor den meinigen nicht nieder und änderte ihren Blick nicht, so daß es mir schließlich gewissermaßen unheimlich wurde. „Wie heißt du?“ fragte ich kurz, um dieser Situation möglichst schnell ein Ende zu machen.
„Lisa“, antwortete sie beinahe flüsternd, aber sehr unfreundlich und wandte die Augen ab.
Ich schwieg eine Weile.
„Ist das heute ein Wetter … Schnee … scheußlich!“ sagte ich, fast nur so vor mich hin, legte melancholisch die Hand unter meinen Kopf und sah nach der Decke.
Sie antwortete nicht. All das war ekelhaft.
„Bist du eine Hiesige?“ fragte ich einen Augenblick darauf und drehte den Kopf ein wenig nach ihr hin.
„Nein.“
„Wo bist du denn her?“
„Aus Riga“, sagte sie widerwillig.
„Bist du eine Deutsche?“
„Nein, eine Russin.“
„Bist du schon lange hier?“
„Wo?“
„In diesem Hause?“
„Zwei Wochen.“
Sie sprach in immer schrofferem Tone. Das Licht war vollständig ausgegangen; ich konnte ihr Gesicht nicht mehr unterscheiden.
„Hast du noch einen Vater und eine Mutter?“
„Ja … nein … ja.“
„Wo wohnen sie?“
„Dort … in Riga.“
„Was sind sie?“
„Nichts Besonderes …“
„Was heißt das: ‚Nichts Besonderes‘? Was sind sie, was haben sie für einen Beruf?“
„Kleinbürger.“
„Hast du immer bei ihnen gewohnt?“
„Ja.“
„Wie alt bist du?“
„Zwanzig.“
„Warum bist du denn von ihnen weggegangen?“
„Bloß so …“
Dieses „bloß so“ bedeutet: „Laß mich in Ruhe; es wird mir zum Ekel.“ Wir verstummten beide.
Weiß Gott, warum ich nicht wegging. Mir selbst wurde immer widerwärtiger und melancholischer zumute. Die Bilder des ganzen vorhergehenden Tages begannen wie von selbst, ohne meinen Willen, unordentlich vor meinem geistigen Auge vorüberzuziehen. Ich erinnerte mich auf einmal an eine Szene, die ich am Morgen auf der Straße gesehen hatte, als ich, den Kopf voll Sorgen, nach meinem Bureau trabte. „Heute trugen sie einen Sarg heraus und ließen ihn beinah hinfallen“, sagte ich plötzlich laut, ganz und gar nicht in der Absicht, ein Gespräch anzufangen, sondern ohne mir etwas dabei zu denken, fast unwillkürlich.
„Einen Sarg?“
„Ja, auf dem Heumarkte; sie brachten ihn aus einem Keller heraus.“
„Aus einem Keller?“
„Nicht eigentlich aus einem Keller, sondern aus einer Kellerwohnung … Na, du weißt wohl … von da unten … aus einem schlechten Hause … Es war ringsumher ein gräßlicher Schmutz … Eierschalen, Kehricht … es roch häßlich, es war greulich.“
Stillschweigen.
„Es ist schauderhaft, heute begraben zu werden!“ begann ich von neuem, nur um nicht zu schweigen.
„Weshalb schauderhaft?“
„Der Schnee, die Nässe …“ (Ich gähnte.)
„Das ist doch ganz egal“, sagte sie plötzlich nach einem kurzen Stillschweigen.
„Nein, es ist garstig …“ (ich gähnte wieder). „Die Totengräber haben gewiß geschimpft, weil der Schnee sie durchweichte. Und im Grabe hat gewiß Wasser gestanden.“
„Warum soll denn im Grabe Wasser gestanden haben?“ fragte sie mit einer gewissen Neugier, aber in noch unfreundlicherem, schrofferem Tone als vorher. Ich kam auf einmal in eine gereizte Stimmung hinein.
„Natürlich ist Wasser da gewesen, auf dem Boden, einen Fuß hoch. Da auf dem Wolkowski-Kirchhof ist kein einziges Grab, das gegraben wird, trocken.“
„Woher kommt das?“
„Wie kannst du so fragen! Es ist eine sumpfige Gegend. Hier ist überall Sumpf. So werden denn die Särge einfach ins Wasser gelegt. Ich habe es selbst gesehen … viele Male …“
(Ich hatte es kein einziges Mal gesehen und war auch niemals auf dem Wolkowski-Kirchhofe gewesen, sondern hatte es nur erzählen hören.)
„Ist es dir denn ganz egal, ob du stirbst?“
„Aber, warum soll ich denn sterben?“ antwortete sie, als ob sie sich verteidigte.
„Irgendeinmal wirst du schon sterben und wirst genauso sterben wie die Tote, von der ich redete. Das war … ebenfalls ein junges Mädchen … Sie ist an der Schwindsucht gestorben.“
„Das Mädchen hätte im Krankenhause sterben sollen …“ (Sie weiß damit schon Bescheid, dachte ich, und hat gesagt: „das Mädchen“ und nicht: „das junge Mädchen“.)
„Sie war ihrer Wirtin Geld schuldig“, erwiderte ich, durch den Streit immer hitziger werdend, „und so hat sie ihr denn bis fast zu ihrem Tode gedient, obwohl sie die Schwindsucht hatte. Die umherstehenden Droschkenkutscher sprachen davon mit Soldaten und erzählten es. Das waren gewiß frühere Bekannte von ihr. Sie lachten und hatten auch noch vor, in der Schenke auf ihr Gedächtnis zu trinken.“ (Auch hier log ich vieles hinzu.)
Stillschweigen, tiefes Stillschweigen. Sie rührte sich nicht einmal.
„Im Krankenhause ist es wohl besser zu sterben, wie?“
„Ist es nicht alles dasselbe? … Aber warum sollte ich sterben?“ fügte sie in gereiztem Tone hinzu.
„Wenn nicht jetzt, so doch später.“
„Na, auch später …“
„Was redest du! Sieh mal, jetzt bist du jung, hübsch und frisch; darum wird auch ein solcher Preis für dich angesetzt. Aber nach einem Jahre eines solchen Lebens wirst du bereits anders aussehen; du wirst verwelkt sein.“
„Nach einem Jahre?“
„Jedenfalls wirst du nach einem Jahre minder hoch im Preise stehen“, fuhr ich schadenfroh fort. „Du wirst von hier anderswohin ziehen, in ein anderes Haus, von niedrigerem Range. Und wieder nach einem Jahre in ein drittes Haus, immer tiefer und tiefer; und nach etwa sieben Jahren wirst du nach dem Heumarkt in eine Kellerwohnung kommen. Und das ist noch der günstigste Fall. Aber wenn sich nun bei dir außerdem unglücklicherweise eine Krankheit einfindet, na, eine Brustschwäche … oder du erkältest dich, oder so etwas. Bei einem solchen Leben haftet eine Krankheit fest und geht nicht so leicht vorüber. Siehst du, dann wirst du sterben.“
„Na, dann sterbe ich!“ antwortete sie, nunmehr ganz ärgerlich, und bewegte sich schnell hin und her.
„Aber es ist doch schade.“
„Um was?“
„Um das Leben ist es schade.“
Stillschweigen.
„Hast du einen Bräutigam gehabt, ja?“
„Wozu wollen Sie das wissen?“
„Nun, ich will dich nicht ausfragen. Was geht es mich an? Warum bist du ärgerlich geworden? Du hast gewiß deine Unannehmlichkeiten gehabt. Was geht es mich an? Aber ich habe doch Mitleid.“
„Mit wem?“
„Mit dir.“
„Kein Anlaß …“, flüsterte sie kaum hörbar und bewegte sich wieder hin und her.
Ich wurde über ihr Verhalten sogleich ärgerlich. Wie! Ich war so freundlich gegen sie; und sie …
„Was denkst du denn? Bist du auf gutem Wege?“
„Ich denke gar nichts.“
„Das ist eben schlimm, daß du nichts denkst. Komm zu Besinnung, solange es noch Zeit ist. Und Zeit ist es noch. Du bist noch jung und schön; du könntest dich verlieben, dich verheiraten, glücklich werden …“
„Nicht alle verheirateten Frauen sind glücklich“, unterbrach sie mich in der früheren unfreundlichen, hastigen Weise.
„Das ist richtig, gewiß; aber doch ist es weit besser, verheiratet zu sein als hier zu sein. Unvergleichlich viel besser. Und wenn man liebt, kann man auch ohne Glück leben. Auch im Leide ist das Leben schön; es ist schön, auf der Welt zu leben, wie auch immer man lebt. Aber hier, was ist hier anderes als … Gestank? Pfui!“
Ich drehte mich voll Ekel um; ich trug meine Meinungen nicht mehr kaltblütig vor. Ich begann selbst das zu empfinden, was ich sagte, und wurde hitzig. Ich brannte schon vor Begierde, die hübschen kleinen Ideen, die ich mir in meinem Stübchen zurechtgemacht hatte, auseinanderzusetzen. Eine Glut flammte in mir auf; ein Ziel wurde mir sichtbar.
„Sieh nicht darauf, daß ich ebenfalls hier bin; ich kann dir nicht als Vorbild dienen. Ich bin vielleicht noch schlechter als du. Übrigens bin ich in betrunkenem Zustande hierher gekommen“, beeilte ich mich doch zu meiner Entschuldigung hinzuzufügen. „Zudem ist ein Mann für ein Weib überhaupt kein Vorbild. Das ist doch eine andere Sache; wenn ich mich auch beflecke und beschmutze, so bin ich doch wenigstens niemandes Sklave; nachdem ich hier gewesen bin, gehe ich wieder weg und bin nicht mehr da. Ich schüttele es von mir ab und bin wieder ein anderer Mensch. Aber dagegen zieh in Betracht, daß du gleich vom ersten Anfang an eine Sklavin bist. Ja, eine Sklavin! Du gibst alles hin, deine ganze Willensfreiheit. Und wenn du später diese Ketten zerreißen willst, so geht das nicht mehr: sie werden dich immer fester und fester gefesselt halten. Von der Art sind diese verfluchten Ketten nun einmal. Ich kenne sie. Von anderen Punkten will ich schon gar nicht reden; du würdest es vielleicht auch nicht verstehen; aber sage mir mal das eine: du bist deiner Wirtin gewiß schon Geld schuldig? Na, siehst du wohl!“ fügte ich hinzu, obgleich sie mir nicht geantwortet hatte, sondern nur schweigend mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte; „da hast du deine Ketten! Du wirst dich niemals loskaufen können. Das richten die Wirtinnen schon so ein. Das ist gerade, wie wenn du dem Teufel deine Seele verkauft hättest …
Und außerdem bin ich vielleicht ein ebenso unglücklicher Mensch wie du (woher willst du es wissen?) und steige absichtlich in den Schmutz hinab, ebenfalls aus Kummer. Trinken ja doch manche Leute aus Gram; na, und ich, siehst du, bin aus Gram hier. Na, sag mal, was ist denn daran Gutes: ich und du, wir sind hier vorhin zusammengekommen und haben die ganze Zeit über kein Wort miteinander geredet, und du hast erst so lange nachher angefangen, mich scheu zu betrachten; und ebenso ich dich. Liebt man denn so? Soll etwa ein Mensch mit dem andern in dieser Weise verkehren? Das ist ja etwas ganz Widerliches, jawohl!“
„Ja“, stimmte sie mir in scharfem Ton eilig bei. Die Eile, mit der sie dieses Ja sprach, setzte mich sogar in Erstaunen. „Also auch ihr“, dachte ich, „ist vielleicht dieser selbe Gedanke schon durch den Kopf gegangen, als sie mich vorhin betrachtete? Also ist auch sie bereits gewisser Gedanken fähig? … Hol‘s der Teufel, das ist merkwürdig; das ist Seelenverwandtschaft“, dachte ich und rieb mir beinahe die Hände. „Und wie sollte man auch mit so einer jungen Seele sich nicht verständigen können! …“
Am meisten Reiz hatte es für mich, so mein Spiel zu treiben.
Sie drehte ihren Kopf näher zu mir hin und stützte sich, wie es mir in der Dunkelheit schien, auf den Arm. Vielleicht betrachtete sie mich. Wie leid tat es mir, daß ich ihre Augen nicht unterscheiden konnte. Ich hörte ihr tiefes Atmen.
„Warum bist du hierher gekommen?“ begann ich, nunmehr in einer Art von autoritativem Tone.
„Es hat sich so gemacht.“
„Aber es ist doch so schön, im Vaterhause zu leben. Da hat man es warm und behaglich; man hat sein eigenes Nest.“ „Aber wenn es da schlechter war als hier?“
„Ich muß den richtigen Ton treffen“, ging es mir durch den Kopf; „vielleicht läßt sich durch Empfindsamkeit etwas erreichen.“
Übrigens war das bei mir nur so ein flüchtiger Gedanke. Ich versichere, daß sie mich wirklich interessierte. Überdies befand ich mich in einer Art von Schwächezustand und in sentimentaler Stimmung. Und Spitzbüberei verträgt sich ja auch sehr leicht mit Sentimentalität.
„Dagegen läßt sich nichts sagen“, beeilte ich mir zu antworten; „es kommt alles mögliche vor. Siehst du, ich bin davon überzeugt, daß dich jemand gekränkt hat, und daß eher die Menschen sich dir gegenüber schuldig gemacht haben als du dich ihnen gegenüber. Ich weiß ja von deiner Lebensgeschichte nichts; aber ein solches Mädchen wie du begibt sich nicht aus eigener Neigung an einen Ort wie diesen hier …“
„Was bin ich denn für ein Mädchen?“ flüsterte sie kaum hörbar; aber ich hörte es doch.
„Hol´s der Teufel“, dachte ich, „ich sage ja Schmeicheleien. Das ist häßlich. Aber vielleicht ist es auch gut so …“ Sie schwieg.
„Siehst du, Lisa, ich will einmal von mir reden! Wenn ich von meiner Kindheit an eine Familie gehabt hätte, so würde ich nicht ein solcher Mensch sein, wie ich es jetzt bin. Ich denke darüber oft nach. Mag es in der Familie auch noch so schlecht sein, es sind doch immer Vater und Mutter und keine Feinde, keine Fremden. Und wenn sie einem auch nur einmal im Jahre ihre Liebe zeigen. Man weiß doch, daß man bei sich zu Hause ist. Siehst du, ich bin ohne Familie aufgewachsen; daher kommt es auch gewiß, daß ich ein solcher Mensch geworden bin, ein so gefühlloser Mensch.“
Ich wartete wieder.
„Vielleicht versteht sie mich überhaupt nicht“, dachte ich. „Und es ist ja auch lächerlich: ich als Moralprediger!“
„Wenn ich Vater wäre und eine Tochter hätte, dann würde ich, glaube ich, die Tochter mehr lieben als die Söhne, wirklich“, begann ich von einer anderen Seite her, als wollte ich, um sie zu zerstreuen, den Gegenstand wechseln. Ich muß gestehen, daß ich errötete.
„Warum denn?“ fragte sie.
Also hörte sie doch zu.
„So unwillkürlich; ich weiß nicht warum, Lisa. Siehst du, ich habe einen Vater gekannt, der war ein strenger, finsterer Mensch; aber vor seiner Tochter lag er oft auf den Knien, küßte ihr die Hände und Füße und konnte sich an ihr gar nicht satt sehen, wirklich. Wenn sie auf einer Abendgesellschaft tanzte, so stand er fünf Stunden lang auf ein und demselben Flecke und verwandte kein Auge von ihr. Er war in sie ganz vernarrt: ich habe dafür Verständnis! Wenn sie nachts schlief, so stand er auf und ging zu der Schlafenden hin, um sie zu küssen und zu bekreuzen. Er selbst ging in einem schmierigen Rock umher und war für alle andern geizig; aber ihr kaufte er für sein letztes Geld etwas, machte ihr wertvolle Geschenke und freute sich von Herzen, wenn ein Geschenk ihr gefiel. Der Vater liebt die Töchter immer mehr, als es die Mutter tut. Manches junge Mädchen hat bei sich zu Hause ein vergnügliches Leben! Ich aber würde, glaube ich, meine Tochter keinem zur Frau geben.“
„Warum denn nicht?“ fragte sie mit einem ganz leisen Lächeln.
„Ich würde eifersüchtig sein, wahrhaftig. Na, sie sollte einen andern küssen? Sie sollte einen Fremden mehr lieben als ihren Vater? Schon die bloße Vorstellung ist peinlich. Gewiß, das alles ist Unsinn; gewiß, ein Vater nimmt schließlich Vernunft an. Aber was mich betrifft, ich würde, glaube ich, bevor ich meine Tochter einem zur Frau gäbe, mich schon allein mit Sorgen totquälen: an allen Bewerbern würde ich etwas auszusetzen haben. Schließlich aber würde ich meine Tochter doch demjenigen geben, den sie selbst liebt. Derjenige, den die Tochter selbst liebt, erscheint ja freilich dem Vater immer als der schlechteste von allen. Das ist nun einmal so. Davon rührt in den Familien viel Unheil her.“
„Es gibt auch andere, die, statt ihre Tochter in Ehren wegzugeben, sich freuen, wenn sie sie verkaufen können“, sagte sie plötzlich.
„Aha“, dachte ich, „so steht die Sache!“
„So, Lisa, geht es in jenen verfluchten Familien zu, wo es weder Gottesfurcht noch Liebe gibt“, fiel ich eifrig ein; „wo aber keine Liebe ist, da ist auch keine Vernunft. Solche Familien gibt es allerdings; aber von denen rede ich nicht. Du hast offenbar in deiner Familie nichts Gutes erlebt, da du so sprichst. Wahrlich, du bist eine Unglückliche. Hm! … All das geschieht meist aus Armut.“
„Ist es denn bei den vornehmen Leuten besser? Auch in der Armut können ehrenhafte Leute gut und brav leben.“
„Hm … ja. Vielleicht. Bedenke auch das, Lisa: der Mensch liebt es, nur sein Leid zu zählen; aber sein Glück zählt er nicht. Zählte er aber gebührendermaßen beides, so würde er sehen, daß er von beidem zur Genüge bekommt. Nun, wie aber, wenn in einer Familie alles wohlgelingt und Gott sie segnet und dein Mann sich als ein guter Mensch erweist und dich liebt und auf den Händen trägt und nicht von deiner Seite weicht? Schön ist es in einer solchen Familie! Manchmal ist es sogar schön, wenn man das Leid gemeinsam trägt; und wo gäbe es kein Leid? Vielleicht wirst du dich verheiraten; dann wirst du das selbst erfahren. Nimm auch nur die erste Zeit der Ehe mit dem, den du liebst: wieviel Glück, wieviel Glück schließt die manchmal in sich! Volles, ununterbrochenes Glück. In der ersten Zeit nehmen sogar die Streitigkeiten mit dem Manne ein gutes Ende. Manche Frau fangt, je mehr sie ihren Mann liebt, um so häufiger Streit mit ihm an. Wirklich, ich habe eine solche Frau gekannt: ‚Ich liebe dich so sehn, sagte sie, ‚und quäle dich nur aus Liebe; das mußt du doch fühlen.‘ Weißt du wohl, daß man aus Liebe einen Menschen absichtlich quälen kann? Am meisten tun das die Frauen. So eine denkt im stillen: ‚Dafür werde ich ihn nachher so lieben und so nett zu ihm sein, daß es keine Sünde sein kann, ihn jetzt auch ein bißchen zu quälen.‘ Und im Hause freuen sich alle über euch, und alles geht schön und heiter und friedlich und ehrenhaft zu … Da gibt es auch andere, die eifersüchtig sind. Wenn der Mann irgendwohin geht, dann kann die Frau (ich habe eine solche gekannt) es nicht aushalten, sondern springt mitten in der Nacht auf und läuft heimlich weg, um nachzusehen: ob er auch nicht da und da ist, in dem und dem Hause, mit der und der zusammen. Das ist nun allerdings nicht schön. Und sie weiß selbst, daß es nicht schön ist, und ihr Herz quält sich und martert sich ab; aber sie liebt ja und tut das alles aus Liebe. Und wie schön ist es, nach einem Streit sich zu versöhnen, wenn die Frau selbst den Mann um Verzeihung bittet oder ihm verzeiht! Und beiden wird auf einmal so fröhlich, so fröhlich zumute, als ob sie von neuem einander zum erstenmal begegneten, sich von neuem vermählten und ihre Liebe von neuem anfinge. Und niemand, niemand darf wissen, was zwischen Mann und Frau vorgeht, wenn sie einander lieben. Und was auch immer für ein Streit zwischen ihnen vorkommen mag, so dürfen sie doch nicht einmal die eigene Mutter als Richterin anrufen, und keiner darf von dem andern etwas erzählen. Sie selbst sind ihre Richter. Die Liebe ist ein göttliches Geheimnis und muß vor allen fremden Augen verborgen bleiben, was auch immer vorgehen mag. Sie wird dadurch noch heiliger und besser. Sie lernen einander immer mehr achten, und auf der Achtung beruht gar vieles. Und wenn einmal Liebe vorhanden gewesen ist und sie sich aus Liebe geheiratet haben, warum sollte dann die Liebe vergehen? Ist es denn unmöglich, sie zu erhalten? Daß es unmöglich wäre, sie zu erhalten, ist doch nur ein seltener Fall. Na, wenn es sich nun so trifft, daß der Ehemann ein guter, ehrenhafter Mensch ist, wie sollte dann die Liebe schwinden? Die erste, leidenschaftliche Liebe wird ja allerdings vergehen; aber dann wird eine andere, noch schönere Liebe kommen. Dann werden die Gatten sich seelisch aneinander schließen; alle ihre Angelegenheiten werden sie gemeinsam erledigen; keiner wird vor dem andern ein Geheimnis haben. Und wenn Kinder kommen, dann erscheint jede, auch die schwerste Zeit als eine glückliche; man braucht nur zu lieben und Mut zu haben. Dann ist auch die Arbeit eine Lust, und man versagt sich manchmal ein Stück Brot um der Kinder willen, und auch das ist eine Freude. Sie werden dich ja dafür später lieben; so sammelst du dir selbst einen Schatz. Die Kinder wachsen heran; du fühlst, daß du ihnen ein Vorbild, eine Stütze bist, daß sie auch nach deinem Tode ihr ganzes Leben lang deine Gefühle und Gedanken, so wie sie sie von dir empfangen haben, in sich tragen werden, daß sie dir ähnlich, deine Ebenbilder sein werden. Also darin liegt eine große Pflicht. Wie sollten da Vater und Mutter sich nicht enger aneinander schließen? Ja, da sagt man, Kinder zu haben sei eine Last. Wer sagt das? Es ist vielmehr ein himmlisches Glück! Hast du kleine Kinder gern, Lisa? Ich habe sie furchtbar gern. Weißt du, wenn so ein rosiges Knäblein an deiner Brust trinkt, welches Mannes Herz könnte da seiner Frau grollen, wenn er sieht, wie sie mit seinem Kinde dasitzt! Das rosige, dicke Kindchen streckt sich behaglich; seine Beinchen und Armchen sind so voll und weich, die Nägelchen so rein und klein, so klein, daß sie lächerlich anzusehen sind; und die Äuglein sehen aus, als ob sie schon alles verständen. Und während es trinkt, zupft es dir mit dem Händchen an der Brust herum und spielt. Wenn der Vater hinzutritt, reißt es sich von der Brust los, biegt sich ganz zurück, sieht den Vater an und lacht, als ob da etwas Gott weiß wie lächerlich wäre, und macht sich dann wieder daran zu trinken. Und manchmal beißt es ohne weiteres die Mutter in die Brust, wenn bei ihm schon die Zähnchen durchgekommen sind, und schielt sie dabei mit den Äuglein an: ‚Siehst du wohl, ich habe dich gebissen!‘ Ist das nicht alles das schönste Glück, wenn sie zu dreien beisammen sind, Mann, Frau und Kind? Für solche Augenblicke kann man viel verzeihen. Nein, Lisa, man muß zuerst selbst leben lernen, ehe man andere beschuldigt!“
„Solche Bilder, ja, solche Bilder, die sind das richtige Mittel, um auf dich zu wirken!“ dachte ich im stillen, obgleich ich wirklich mit echter Empfindung gesprochen hatte. Aber plötzlich wurde ich rot: „Aber wenn sie nun auf einmal auflacht, was soll ich dann anfangen?“
Dieser Gedanke machte mich wütend. Gegen das Ende meiner Rede war ich tatsächlich warm geworden, und jetzt fühlte sich meine Eitelkeit verletzt. Das Stillschweigen dauerte ziemlich lange. Ich wollte ihr schon einen Stoß versetzen.
„Was Sie da nur …“, begann sie auf einmal, stockte aber dann.
Aber nun begriff ich schon alles: in ihrer Stimme, zitterte schon etwas anderes, nicht mehr die frühere Schroffheit, Herbheit und Widerspenstigkeit, sondern eine gewisse Weichheit und Verschämtheit, eine solche Verschämtheit, daß ich selbst mich auf einmal vor ihr zu schämen anfing und mich ihr gegenüber schuldig fühlte.
„Was willst du sagen?“ fragte ich mit zärtlicher Neugier.
„Ach, Sie …“
„Nun, was denn?“
„Was Sie da nur reden … wie aus einem Buche“, sagte sie, und ihre Stimme schien auf einmal wieder einen spöttischen Klang zu haben.
Bei dieser Wahrnehmung fühlte ich innerlich einen Stich. Das hatte ich nicht erwartet.
Ich verstand eben nicht, daß sie absichtlich den Spott als Maske gebrauchte, daß dies der gewöhnliche letzte Kunstgriff schamhaft und keusch empfindender Menschen ist, in deren innerstes Empfinden sich jemand in roher, rücksichtsloser Weise eindrängt, und die sich aus Stolz bis zum letzten Augenblicke nicht ergeben und sich scheuen, vor einem Fremden ihre Empfindungen zu äußern. Schon aus der Zaghaftigkeit, mit der sie erst nach mehreren Anläufen zur Waffe des Spottes griff und sich dazu entschloß, ihre Bemerkung auszusprechen, schon daraus hätte ich erraten sollen, wie es stand. Aber ich erriet es nicht, und ein böses Gefühl bemächtigte sich meiner.
„Warte nur!“ dachte ich.