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Aber die Periode meiner Ausschweifungen war zu Ende gegangen, und ein schreckliches Gefühl von Übelkeit hatte mich überkommen. Es stellte sich Reue ein; aber ich jagte sie davon: Es war mir sowieso schon gar zu übel. Allmählich jedoch gewöhnte ich mich auch daran. Ich gewöhnte mich an alles; das heißt, nicht daß ich mich eigentlich daran gewöhnt hätte, sondern ich ließ mich sozusagen freiwillig bereitfinden, es zu ertragen. Aber ich hatte ein Hilfsmittel, das mir über alles hinweghalf; das war, mich in „alles Schöne und Erhabene“ zu retten, natürlich in meinen Träumereien. Denen gab ich mich in großem Umfange hin; drei Monate lang beschäftigte ich mich, in meinen Winkel verkrochen, nur mit ihnen, und Sie können mir glauben, daß ich in diesen Augenblicken keine Ähnlichkeit mit jenem Herrn hatte, der sich in der Verwirrung seines Hasenherzens an seinen Mantelkragen ein deutsches Biberfell nähen ließ. Ich wurde auf einmal ein Held. Meinen hochgewachsenen Leutnant hätte ich damals nicht einmal angenommen, wenn er mir hätte eine Visite machen wollen. Ich konnte ihn mir damals nicht einmal vorstellen. Welches der Inhalt meiner Träumereien war, und wie ich damit zufrieden sein konnte, das ist jetzt schwer zu sagen; aber damals war ich damit zufrieden. Übrigens ist das ja zum Teil auch jetzt der Fall. Besonders angenehm und lebhaft waren die Träumereien, die mir nach meinen Ausschweifungen in den Sinn kamen; sie waren mit Reue und Tränen, mit Selbstverwünschungen und einem Gefühle des Entzückens verbunden. Es gab dabei Augenblicke einer so völligen Berauschtheit, einer solchen Glücksempfindung, daß nicht der geringste Spott sich in mir regte, wahrhaftig nicht. Glaube, Hoffnung und Liebe waren in meiner Seele vorhanden. Das war es ja eben, daß ich damals blind glaubte, durch irgendein Wunder, durch irgendein äußeres Ereignis werde dies alles sich plötzlich auseinanderschieben, einen weiten Zwischenraum freimachen, und es werde sich mir auf einmal ein Ausblick auf eine meiner Persönlichkeit entsprechende Tätigkeit darbieten, auf eine segensreiche, schöne und vor allen Dingen völlig bereitstehende Tätigkeit (was für eine genauer, das wußte ich niemals; aber vor allen Dingen war es eine völlig bereitstehende), und da würde ich auf einmal in die Welt hinaustreten, beinah auf einem weißen Rosse und mit einem Lorbeerkranze. Für eine Rolle zweiten Ranges hatte ich überhaupt kein Verständnis, und gerade dies war der Grund, weshalb ich in Wirklichkeit mit größter Seelenruhe die letzte Rolle spielte. Entweder ein Held sein oder im Schmutze liegen; ein Mittelding gab es für mich nicht. Eben dies war es auch, was mich verdarb; denn im Schmutze tröstete ich mich damit, daß ich zu anderer Zeit ein Held war; der Held aber verdeckte mit seiner Persönlichkeit den Schmutz. „Für einen gewöhnlichen Menschen“, sagte ich mir, „ist es eine Schande, sich zu beschmutzen; aber ein Held steht zu hoch, um ganz im Schmutze zu versinken; folglich kann er sich ruhig beschmutzen.“ Es ist beachtenswert, daß diese Gedanken an „alles Schöne und Erhabene“ mir auch während der Ausschweifung in den Sinn kamen, und zwar gerade dann, wenn ich mich bereits auf dem tiefsten Grunde derselben befand; sie kamen von ungefähr, in einzelnen Stößen, als ob sie sich in Erinnerung bringen wollten, vereitelten aber durch ihr Erscheinen die Ausschweifung nicht; vielmehr belebten sie sie gewissermaßen durch den Kontrast und stellten sich genau in dem Quantum ein, das zu einer guten Sauce erforderlich war. Diese Sauce bestand aus Widersprüchen und Leiden, aus qualvoller innerer Selbstprüfung, und alle diese großen und kleinen Qualen verliehen meiner Ausschweifung eine Art von pikantem Geschmack, ja sogar einen gewissen Sinn — kurz, sie erfüllten vollkommen die Pflicht einer guten Sauce. Alles dies ermangelte nicht einmal einer gewissen Tiefe. Und hätte ich mich denn auch zu einer einfachen, gemeinen, direkten, schreiberhaften Ausschweifung verstehen und an mir all diesen Schmutz ertragen können? Was hätte mich denn damals an diesem Schmutze reizen und nachts auf die Straße locken können? Nein, ich hatte für alles ein edles Schlupfloch.
Aber wieviel Liebe, o Gott, wieviel Liebe erlebte ich manchmal in diesen meinen Träumereien, wenn ich mich „in das Schöne und Erhabene rettete“; wenn es auch ein phantastische Liebe war und wenn sie auch niemals auf etwas Menschliches in Wirklichkeit angewendet wurde, so war diese Liebe doch in einer solchen Fülle vorhanden, daß sich später in Wirklichkeit gar kein Bedürfnis fühlbar machte, sie darauf anzuwenden: Das wäre ein überflüssiger Luxus gewesen. Alles endete übrigens immer in glücklichster Weise mit einem trägen, berauschenden Übergange zur Kunst, das heißt zu den schönen Formen des Daseins, vollständig gebrauchsfertigen Formen, die vorwiegend den Dichtern und Romanschriftstellern gestohlen und allen möglichen Verwendungen und Anforderungen angepaßt waren. Ich triumphiere zum Beispiel über alle; alle liegen selbstverständlich vor mir im Staube und sehen sich genötigt, freiwillig alle meine vorzüglichen Eigenschaften anzuerkennen; ich aber verzeihe ihnen allen. Ich bin ein berühmter Dichter und Kammerherr und verliebe mich; ich nehme zahllose Millionen ein und verwende sie unverzüglich zum Besten des Menschengeschlechtes, und gleichzeitig beichte ich vor allem Volke meine Laster, die selbstverständlich nicht einfach Laster sind, sondern außerordentlich viel „Schönes und Erhabenes“ in sich schließen, so etwas Manfredartiges. Alle weinen und küssen mich (sonst wären sie ja auch geradezu Holzklötze); ich aber gehe barfuß und hungrig von dannen, um neue Ideen zu predigen, und schlage die Reaktionäre bei Austerlitz. Dann wird ein Marsch gespielt; eine Amnestie wird erlassen; der Papst willigt ein, von Rom nach Brasilien überzusiedeln; darauf Ball für ganz Italien in der Villa Borghese, die am Ufer des Comersees liegt, da der Comersee expreß für dieses Fest nach Rom verlegt worden ist; dann eine Szene im Gebüsch, und so weiter und so weiter — Sie kennen das ja alles! Sie werden sagen, es sei gemein und unwürdig, das alles jetzt auf den Markt zu bringen, nach so häufigem Wonnerausche und so vielen Tränen, die ich selbst eingestanden habe. Aber warum soll das unwürdig sein? Glauben Sie denn, daß ich mich jetzt alles dessen schäme und daß das alles dümmer ist als irgend etwas aus Ihrem Leben, meine Herren? Und überdies können Sie mir glauben, daß ich dieses und jenes gar nicht so übel erdichtet hatte. Es begab sich doch nicht alles am Comersee. Indessen, Sie haben recht; es ist wirklich gemein und unwürdig. Aber am unwürdigsten ist es, daß ich jetzt angefangen habe, mich vor Ihnen zu rechtfertigen. Und noch unwürdiger ist es, daß ich jetzt diese Bemerkung mache. Aber nun genug; sonst kommen wir ja nie zu Ende: Eines würde immer unwürdiger sein als das andere.
Länger als drei Monate hintereinander war ich aber schlechterdings nicht imstande, so zu träumen, und verspürte dann ein unabweisbares Bedürfnis, mich in die Gesellschaft der Menschen zu stürzen. Mich in die Gesellschaft der Menschen zu stürzen, das bedeutete bei mir, meinen Tischvorsteher Anton Antonowitsch Setotschkin besuchen. Dies war mein einziger ständiger Bekannter in meinem ganzen Leben, und ich wundere mich jetzt sogar selbst über diese Tatsache. Aber auch zu ihm ging ich nur dann, wenn die entsprechende Periode herangekommen war und meine Träumereien mich in eine solche glückselige Stimmung versetzt hatten, daß ich unbedingt und unverzüglich Menschen und die ganze Menschheit umarmen mußte; zu diesem Zwecke aber war es erforderlich, wenigstens einen wirklich zu wahrhaftig existierenden Menschen zu haben. Zu Anton Antonowitsch mußte man übrigens dienstags kommen (das war sein jour fixe), und somit mußte ich auch das Bedürfnis, die ganze Menschheit zu umarmen, immer auf den Dienstag verschieben. Wohnen tat dieser Anton Antonowitsch bei den Fünf Ecken, im vierten Stockwerk, in vier niedrigen, winzigen Zimmerchen, deren Einrichtung den Eindruck großer Sparsamkeit machte. Bei ihm wohnten seine beiden Töchter und deren Tante, die immer das Teeeingießen besorgte. Von den Töchtern war die eine dreizehn, die andre vierzehn Jahre alt; beide hatten Stupsnäschen, und ich war in ihrer Gegenwart immer schrecklich verlegen, weil sie fortwährend miteinander flüsterten und kicherten. Der Hausherr saß gewöhnlich in seinem Zimmer auf einem Ledersofa am Tische und bei ihm irgendein bejahrter Besucher, ein Beamter aus unserem oder auch aus einem fremden Ressort. Mehr als zwei oder drei Besucher, und zwar immer ein- und dieselben, habe ich dort nie gesehen. Man sprach über die Akzise, über die Submissionen im Senat, über die Gehälter, über Beförderungen, über Seine Exzellenz, über die Mittel, sich beliebt zu machen, und so weiter und so weiter. Ich hatte die Geduld, neben diesen Leuten wie ein Dummkopf oft vier Stunden lang zu sitzen, ohne daß ich selbst gewagt oder verstanden hätte, über irgendein Thema mit ihnen ein Gespräch zu fuhren. Ich wurde dabei ganz stumpfsinnig, begann manchmal zu schwitzen und befürchtete einen Schlaganfall; aber doch waren diese Besuche gut und nützlich. Nach Hause zurückgekehrt, verschob ich die Ausführung meiner Absicht, die ganze Menschheit zu umarmen, auf eine etwas spätere Zeit.
Übrigens hatte ich noch einen, wenn man‘s so nennen will, Bekannten, einen gewissen Simonow, einen früheren Schulkameraden von mir. Schulkameraden hatte ich allerdings auch sonst noch viele in Petersburg; aber ich verkehrte nicht mit ihnen und hatte sogar aufgehört, sie auf der Straße zu grüßen. Vielleicht hatte ich auch bei meinem Übergange in ein anderes Dienstressort die Absicht verfolgt, nicht mit ihnen zusammenzusein und ein für allemal unter meine ganze verhaßte Kindheit einen Strich zu machen. Verflucht sei diese Schule und diese schrecklichen Gefängnisjahre! Kurz, mit meinen Kameraden war ich sofort auseinandergekommen, als ich in die Freiheit hinausgetreten war. Es waren nur zwei oder drei übriggeblieben, mit denen ich mich noch grüßte, wenn wir uns begegneten. Zu diesen gehörte auch Simonow, der sich bei uns in der Schule durch nichts ausgezeichnet und still und gleichmäßig gelebt hatte; aber ich hatte an ihm eine gewisse Selbständigkeit des Charakters und sogar eine ehrenhafte Gesinnung wahrgenommen. Ich glaube nicht einmal, daß er besonders beschränkt war. Zu einer gewissen Zeit hatten er und ich recht heitere Augenblicke miteinander verlebt; aber diese hatten keine längere Fortsetzung gefunden: Es hatte sich auf einmal gleichsam ein Nebel darüber hingebreitet. Ihm waren diese Erinnerungen anscheinend peinlich, und ich glaube, er fürchtete immer, ich könnte in den früheren Ton verfallen. Ich argwöhnte, daß ich ihm sehr zuwider sei; aber dennoch ging ich zu ihm, da ich davon nicht sicher überzeugt war.
Einmal an einem Donnerstage konnte ich meine Einsamkeit nicht ertragen; ich wußte aber, daß donnerstags Anton Antonowitschs Tür verschlossen war, und da kam mir der Gedanke an Simonow. Als ich zu ihm zum vierten Stock hinaufstieg, sagte ich mir ausdrücklich, daß dieser Herr sich durch meinen Besuch belästigt fühlen werde, und daß ich nicht gut daran täte, zu ihm zu gehen. Aber da es bei mir immer damit endete, daß solche Überlegungen mich erst recht dazu aufstachelten, mich in eine mißliche Lage zu begeben, so ging ich doch zu ihm hinein. Es war fast ein Jahr her, daß ich ihn zum letzten Male gesehen hatte.