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iii

Ich traf bei ihm noch zwei meiner Schulkameraden. Sie redeten, wie es schien, über eine wichtige Angelegenheit. Meinem Eintritt schenkte keiner von ihnen merkliche Beachtung, was recht seltsam war, da wir uns schon seit Jahren nicht gesehen hatten. Offenbar hielten sie mich sozusagen für eine gewöhnliche Fliege. So hatten sie mich nicht einmal in der Schule behandelt, obgleich mich dort alle gehaßt hatten. Ich begriff natürlich, daß sie mich jetzt verachten mußten: wegen meines Mißerfolges in der dienstlichen Laufbahn, und weil ich schon sehr heruntergekommen war und in schlechten Kleidern ging und so weiter, was in ihren Augen ein Beweis meiner Unfähigkeit und Geringwertigkeit war. Aber eine so weitgehende Verachtung hatte ich doch nicht erwartet. Simonow brachte sogar seine Verwunderung über mein Kommen zum Ausdruck. Alles dies machte mich stutzig; ich setzte mich einigermaßen verstimmt hin und hörte zu, wovon sie sprachen.

Das ernste und sogar erregte Gespräch drehte sich um ein Abschiedsdiner, das diese Herren gemeinsam gleich am folgenden Tage ihrem Kameraden Swerkow, einem aktiven Offizier, vor seiner Versetzung nach einem fernen Gouvernement geben wollten. Monsieur Swerkow war die ganze Zeit über auch mein Schulkamerad gewesen. In den oberen Klassen hatte ich ihn besonders stark zu hassen begonnen. In den unteren Klassen war er nur ein netter, ausgelassener Junge gewesen, den alle gern hatten. Ich hatte ihn übrigens auch schon in den unteren Klassen gehaßt, und zwar gerade, weil er ein netter, ausgelassener Junge war. Er lernte immer nur schlecht, und je länger, um so schlechter; indessen machte er das Gymnasium doch glücklich durch, weil er gute Protektion hatte. In seinem letzten Jahre auf unserer Schule fiel ihm eine Erbschaft zu, zweihundert Seelen, und da bei uns fast alle arm waren, so begann er uns gegenüber großzutun. Er war ein im höchsten Grade fader Mensch, aber doch ein guter Junge, sogar dann, wenn er großtat. Bei uns aber scherwenzelten, trotz der äußerlichen, phantastischen und phrasenhaften Regeln über Ehre und Ehrenpunkt, doch alle mit Ausnahme sehr weniger um Swerkow herum, und um so mehr, je ärger er großtat. Und nicht um irgendwelches Vorteils willen erniedrigten sie sich so, sondern lediglich weil die Natur ihn mit ihren Gaben begünstigt hatte. Außerdem war es bei uns herkömmlich geworden, Swerkow für einen Matador auf dem Gebiete der Lebensgewandtheit und der guten Manieren zu halten. Das letztere ärgerte mich ganz besonders. Ich haßte den ausgelassenen, selbstbewußten Klang seiner Stimme, die Bewunderung seiner eigenen Witze, die meist schrecklich dumm ausfielen, obwohl er nicht auf das Maul gefallen war; ich haßte sein hübsches, aber ein bißchen dummes Gesicht (das ich übrigens gern gegen mein „kluges“ eingetauscht hätte) und sein ungeniertes Benehmen, bei dem ihm die Offiziere der vierziger Jahre als Vorbilder dienten. Ich haßte es, daß er von seinen künftigen Erfolgen bei den Frauen erzählte (er wollte nicht eher mit den Frauen anfangen, als bis er die Offiziersepauletten haben würde, und wartete auf sie mit Ungeduld) und davon, wie er sich alle Augenblicke duellieren werde. Ich erinnere mich, wie ich, der ich sonst immer schweigsam war, mit ihm heftig zusammengeriet, als er einmal in der Freizeit mit den Kameraden über seine künftigen Liebschaften sprach und schließlich, wohlig wie ein junger Hund in der Sonne, erklärte, er werde kein einziges Bauernmädchen auf seinem Gute in Ruhe lassen; das sei das droit de seigneur; und wenn die Bauern sich erkühnen sollten, dagegen Einspruch zu erheben, so werde er sie alle durchpeitschen lassen und ihnen allen, diesen bärtigen Kanaillen, die doppelte Abgabe auferlegen. Unsere Knechtsseelen applaudierten ihm; ich aber geriet mit ihm in einen heftigen Streit, und zwar durchaus nicht aus Mitleid mit den Mädchen und ihren Vätern, sondern einfach, weil ein solcher Molch solchen Beifall fand. Ich trug damals den Sieg davon; aber Swerkow war trotz seiner Dummheit ein lustiger, dreister Patron; so zog er sich denn mit Lachen aus der Affäre, sogar so, daß ich, die Wahrheit zu sagen, nicht vollständig den Sieg davontrug: Die Lacher blieben auf seiner Seite. Er trumpfte mich später noch einige Male ab, aber ohne Bosheit, sondern bloß so im Scherz, en passant, mit lachendem Munde. Aus Ärger und Geringschätzung gab ich ihm keine Antwort. Nachdem wir das Gymnasium verlassen hatten, machte er den Versuch einer Annäherung an mich; ich widerstrebte nicht sonderlich, weil mir das schmeichelte; aber es war nur natürlich, daß wir bald wieder auseinanderkamen. Dann hörte ich von seinen Leutnantserfolgen und von dem flotten Leben, das er führte. Dann gelangten andere Gerüchte zu meiner Kenntnis: daß er im Dienste gut vorwärts komme. Auf der Straße grüßte er mich nicht mehr, und ich vermutete, daß er fürchtete, sich zu kompromittieren, wenn er mit einer so unbedeutenden Persönlichkeit wie mir einen Gruß wechsele. Einmal sah ich ihn auch im Theater, im dritten Rang; er hatte schon die Achselschnüre. Er machte den Töchtern eines alten Generals die Cour und benahm sich gegen sie äußerst betulich. In den drei Jahren hatte sein Äußeres sehr verloren, wiewohl er immer noch wie früher ein ganz hübscher, gewandter Mensch war; aber er war gleichsam aufgegangen und fing an, fett zu werden; es war deutlich, daß er im Alter von dreißig Jahren ein vollständig aufgedunsenes Gesicht haben werde. Also diesem Swerkow wollten unsere Kameraden vor seiner Abreise ein Diner geben. Sie hatten während dieser ganzen drei Jahre ununterbrochen mit ihm verkehrt, obgleich sie selbst innerlich nicht der Ansicht waren, daß sie mit ihm auf gleicher Stufe ständen; davon bin ich überzeugt.

Von Simonows beiden Gästen war der eine ein Deutschrusse namens Ferfitschkin, ein Mensch von kleiner Statur mit einem Affengesichte, ein Dummkopf, der sich über alle lustig machte, mein ärgster Feind schon von den untersten Klassen an, gemein, dreist, ein Renommist, der das empfindlichste Ehrgefühl fingierte, obwohl er natürlich im Grunde seines Herzens ein Feigling war. Er gehörte zu denjenigen Verehrern Swerkows, die ihm in bestimmter Absicht schmeichelten und oft Geld von ihm borgten. Simonows anderer Gast, Trudoljubow, war keine bemerkenswerte Persönlichkeit, Militär, hochgewachsen, mit einem kalten Gesichtsausdrucke, ziemlich ehrenhaft, aber bereit, sich vor jedem Erfolge zu beugen; reden, konnte er über nichts als über das Avancement. Mit Swerkow war er irgendwie entfernt verwandt, und dies hatte ihm auf der Schule dummerweise unter uns zu einem gewissen Ansehen verholfen. Mich hatte er die ganze Zeit über sehr gering eingeschätzt; benommen hatte er sich gegen mich wenn auch nicht gerade höflich, so doch leidlich.

„Nun gut, also jeder gibt sieben Rubel“, sagte Trudoljubow; „wir sind unser drei, das macht einundzwanzig Rubel; dafür kann man ganz gut dinieren. Swerkow bezahlt natürlich nicht.“

„Selbstverständlich nicht, wenn wir ihn doch einladen“, erwiderte Simonow.

„Glaubt ihr wirklich“, warf Ferfitschkin hitzig in hochmütigem Tone dazwischen, wie ein frecher Lakai, der mit den Orden seines Generals prahlt, „glaubt ihr wirklich, daß Swerkow uns allein bezahlen lassen wird? Er wird es aus Zartgefühl annehmen, aber dafür seinerseits ein halbes Dutzend ponieren.“

„Na, ein halbes Dutzend für uns vier, das ist doch etwas zu viel“, bemerkte Trudoljubow, der nur das halbe Dutzend beachtet hatte.

„Also wir drei, mit Swerkow vier, einundzwanzig Rubel, im Hotel de Paris, morgen um fünf Uhr“, sagte Simonow abschließend, den sie zum Arrangeur gewählt hatten.

„Wieso einundzwanzig?“ sagte ich in etwas erregtem Tone, wobei ich mir sogar den Anschein gab, als ob ich mich gekränkt fühlte; „wenn Sie mich mitzählen, kommen nicht einundzwanzig Rubel heraus, sondern achtundzwanzig.“

Ich hatte die Vorstellung, wenn ich mich so plötzlich und unerwartet anböte, würde sich das sehr hübsch machen und ihnen allen sofort stark imponieren, und sie würden dann Respekt vor mir bekommen.

„Wollen Sie sich denn auch daran beteiligen?“ fragte Simonow mißvergnügt, wobei er es vermied, mich anzusehen. Er kannte mich auswendig.

Es ärgerte mich wütend, daß er mich auswendig kannte.

„Warum denn nicht? Ich bin ja, möchte ich meinen, ebenfalls ein Schulkamerad von ihm, und ich muß gestehen, es ist mir sogar kränkend, daß Sie mich nicht hinzugezogen haben“, sprudelte ich wieder heraus.

„Aber wo hätten wir Sie suchen sollen?“ mischte sich Ferfitschkin grob ein.

„Sie haben sich doch immer mit Swerkow schlecht gestanden“, fügte Trudoljubow mit finsterer Miene hinzu. Aber ich hatte mich nun einmal engagiert und ließ nicht mehr davon ab.

„Mir scheint, daß darüber zu urteilen niemand berechtigt ist“, erwiderte ich; die Stimme bebte mir, als ob Gott weiß was passiert wäre. „Vielleicht will ich es jetzt gerade deswegen, weil ich mich früher mit ihm schlecht gestanden habe.“

„Na, wer kann aus Ihnen klug werden … solche Verstiegenheiten!“ bemerkte Trudoljubow lächelnd.

„Wir nehmen Ihre Anmeldung an“, entschied Simonow, zu mir gewendet. „Morgen um fünf Uhr im Hotel de Paris; keine Mißverständnisse!“

„Wie ist‘s mit dem Gelde?“ begann Ferfitschkin halblaut zu Simonow, indem er mit dem Kopfe nach mir hindeutete; aber er verstummte dann, da auch Simonow verlegen wurde.

„Nun genug“, sagte Trudoljubow und stand auf. „Wenn er so große Lust hat, mag er kommen.“

„Aber wir bilden doch einen geschlossenen Freundeskreis“, bemerkte Ferfitschkin boshaft und griff ebenfalls nach seinem Hute. „Das ist keine offizielle Zusammenkunft. Vielleicht wollen wir Sie gar nicht haben …“

Sie gingen weg; Ferfitschkin grüßte mich beim Hinausgehen überhaupt nicht; Trudoljubow nickte kaum mit dem Kopfe, ohne mich anzusehen. Simonow, mit dem ich allein zurückblieb, war verwundert und verdrießlich und sah mich in sonderbarer Manier an. Er setzte sich nicht hin und lud mich nicht zum Sitzen ein.

„Hm! … Ja … also morgen. Wollen Sie das Geld gleich jetzt bezahlen? Ich sage es nur, um es genau zu wissen“, murmelte er verlegen.

Ich fuhr auf; aber dabei fiel mir ein, daß ich Simonow seit undenklichen Zeiten fünfzehn Rubel schuldete; ich hatte das allerdings nie vergessen gehabt, aber ihm das Geld nie zurückgegeben.

„Sie müssen sich selbst sagen, Simonow, daß ich das nicht vorherwissen konnte, als ich herkam … es ist mir sehr verdrießlich, daß ich vergessen habe, mir Geld einzustecken.“ „Gut, gut, es ist ja ganz gleich. Dann bezahlen Sie morgen nach dem Diner. Ich fragte ja nur, um zu wissen … Haben Sie die Güte …“

Er verstummte und begann mit noch gesteigertem Ärger im Zimmer auf und ab zu gehen. Dabei trat er mit den Hacken auf und stampfte stark.

„Ich halte Sie doch von nichts ab?“ fragte ich nach einem Stillschweigen, das wohl zwei Minuten gedauert hatte.

„O nein!“ erwiderte er, plötzlich zusammenfahrend; „das heißt, die Wahrheit zu sagen: ja. Sehen Sie, ich hatte noch einen notwendigen Gang vor … Hier in der Nähe …“ fügte er im Tone der Entschuldigung hinzu; er schämte sich einigermaßen.

„Ach, mein Gott! Aber warum sagen Sie das denn nicht?“ rief ich und griff nach meiner Mütze; übrigens zeigte ich dabei eine erstaunliche Ungeniertheit; Gott weiß, woher ich die auf einmal hatte.

„Es ist ja nicht weit … nur zwei Schritte von hier …“ wiederholte Simonow, als er mich mit einer geschäftigen Miene, die ihm gar nicht gut stand, bis ins Vorzimmer begleitete. „Also morgen Punkt fünf Uhr!“ rief er mir auf die Treppe nach; er war höchst zufrieden, daß ich wegging. Ich aber war wütend.

„Mußte mich der Teufel plagen, mich da hineinzumischen!“ rief ich zähneknirschend, während ich auf der Straße dahinschritt. „Und wegen dieses Swerkow, eines solchen Schuftes und Schweinehundes! Natürlich brauche ich nicht hinzugehen; natürlich pfeife ich auf die ganze Geschichte; bin ich denn etwa gebunden, wie? Morgen werde ich Simonow durch die Stadtpost benachrichtigen …“

Aber eben darum war ich so wütend, weil ich genau wußte, daß ich doch hingehen würde, daß ich nun gerade hingehen würde, daß ich, je taktloser und unpassender mein Hingehen war, um so sicherer hingehen würde.

Und dabei hatte ich einen positiven Hinderungsgrund: Ich hatte kein Geld. Alles in allem hatte ich nur neun Rubel zu Hause liegen. Aber davon mußte ich gleich morgen sieben als Monatslohn meinem Diener Apollon auszahlen, der bei mir wohnte, für seine Dienste sieben Rubel empfing, sich aber selbst beköstigte.

Ihm den Lohn nicht auszuzahlen, war in Anbetracht des Charakters dieses Apollon ein Ding der Unmöglichkeit. Aber von dieser Kanaille, von diesem Krebsschaden an meinem Leibe werde ich noch weiter unten reden.

Indessen wußte ich ja vorher, daß ich ihm seinen Lohn doch nicht geben, sondern unter allen Umständen zu dem Diner gehen würde.

In dieser Nacht träumte ich das häßlichste Zeug. Und das war kein Wunder: Den ganzen Abend über hatten mich die Erinnerungen an die Gefängniszeit meines Schullebens gepeinigt, und ich hatte mich ihrer nicht erwehren können. In diese Schule hatten mich entfernte Verwandte von mir gegeben, von denen ich abhing und von denen ich bis dahin keinerlei Kenntnis gehabt hatte; ich war eine Waise, durch ihre Vorwürfe ganz verschüchtert, schwieg am liebsten, fing aber schon an, nachzudenken und scheu alles zu beobachten. Meine Kameraden empfingen mich mit boshaften, erbarmungslosen Spöttereien, weil ich mit ihnen allen so gar keine Ähnlichkeit hatte. Aber ich konnte diese Spöttereien nicht ertragen; ich konnte mich mit ihnen nicht so leicht einleben, wie sie sich miteinander eingelebt hatten. Ich warf sogleich einen Haß auf sie und schloß mich in schreckhaftem, leicht verwundbarem, maßlosem Stolze von ihnen allen ab. Ihr rohes Wesen versetzte mich in Empörung. Sie lachten offen und unverschämt über mein Gesicht, über meine ungeschickte Gestalt; und dabei, was hatten sie selbst für dumme Gesichter! In unserer Schule wandelte sich der Ausdruck der Gesichter in einer eigentümlichen Weise um und wurde dümmer. Wie viele schöne Kinder traten bei uns ein: Aber nach einigen Jahren war es einem widerwärtig, sie auch nur anzusehen. Schon mit sechzehn Jahren waren sie der Gegenstand meines Erstaunens und meiner Abneigung; schon damals setzten mich die Kleinlichkeit ihrer Denkweise und die Dummheit ihrer Beschäftigungen, Spiele und Gespräche in Verwunderung. Für die wichtigsten Dinge hatten sie so wenig Verständnis, für die merkwürdigsten, auffallendsten Gegenstände so wenig Interesse, daß ich unwillkürlich zu der Ansicht gelangte, sie ständen weit unter mir. Es war nicht verletzte Eitelkeit, was mich so denken ließ, und kommen Sie mir um Gottes willen nicht mit den bis zum Ekel durchgekauten herkömmlichen Phrasen: ich hätte in einer Traumwelt gelebt; sie aber hätten auch damals schon Verständnis für das wirkliche Leben gehabt. Für nichts hatten sie Verständnis, für kein wirkliches Leben, und ich versichere Ihnen, eben das war es, was mich am meisten gegen sie aufbrachte. Vielmehr faßten sie die offenkundigste, augenfälligste Wirklichkeit in einer phantastisch dummen Weise auf und gewöhnten sich schon damals, nur vor dem Erfolge Respekt zu haben. Alles, was recht und gut, aber erniedrigt und gedemütigt war, darüber machten sie sich in grausamer, schmählicher Weise lustig. Hohen Rang hielten sie für Verstand; schon mit sechzehn Jahren redeten sie von behaglichen Stellungen. Allerdings kam vieles davon von ihrer Dummheit her und von den schlechten Beispielen, von denen sie in ihrer Kindheit und in der Zeit des Heranwachsens beständig umgeben gewesen waren. Unsittlich waren sie in einem ungeheuerlichen Grade. Selbstverständlich war auch hierbei das meiste nur äußerlich angenommen, nur künstlicher Zynismus; selbstverständlich schimmerten auch bei ihnen die Jugendlichkeit und eine gewisse Frische sogar durch die Unsittlichkeit hindurch; aber selbst die Frische hatte bei ihnen nichts Anziehendes und äußerte sich in einer Art von Dreistigkeit. Ich haßte sie gewaltig, obgleich ich vielleicht noch schlechter war als sie. Sie zahlten mir mit gleicher Münze und machten aus ihrer Abneigung gegen mich kein Hehl. Aber ich hatte auch gar kein Verlangen mehr nach ihrer Liebe; im Gegenteil, ich dürstete beständig danach, sie zu demütigen. Um ihren Spöttereien zu entgehen, begann ich absichtlich, möglichst gut zu lernen, und arbeitete mich zu den ersten Plätzen in die Höhe. Das imponierte ihnen. Zudem fingen sie alle allmählich an einzusehen, daß ich schon Bücher las, die sie nicht lesen konnten, und Dinge verstand, die außerhalb des Rahmens unseres Schulunterrichtes lagen und von denen sie nie etwas gehört hatten. Verwunderung und Spott, das war die Stellung, die sie demgegenüber einnahmen; aber innerlich ordneten sie sich mir unter, um so mehr, da selbst die Lehrer in dieser Hinsicht mir ihre Aufmerksamkeit zuwandten. Die Spöttereien hörten auf; aber die Feindseligkeit dauerte fort, und es bildete sich ein kaltes, gespanntes Verhältnis heraus. Gegen das Ende meine Schulzeit hielt ich diesen Zustand selbst nicht mehr aus: Mit den Jahren hatte sich ein Bedürfnis nach Menschen, nach Freunden herausgebildet. Ich versuchte, mich einigen zu nähern; aber diese Annäherung kam immer gar zu unnatürlich heraus und hörte daher von selbst bald wieder auf. Einmal hatte ich wirklich einen Freund. Aber ich war bereits meinem ganzen Wesen nach ein Despot; ich wollte unbeschränkt über seine Seele herrschen; ich wollte ihm Verachtung gegen seine Umgebung einflößen; ich forderte von ihm einen stolzen, endgültigen Bruch mit dieser Umgebung. Ich ängstigte ihn mit meiner leidenschaftlichen Freundschaft; ich brachte ihn zu Tränen, zu Krämpfen; er war eine naive, hingebungsvolle Seele; aber als er sich mir ganz hingegeben hatte, fing ich sogleich an, ihn zu hassen, und stieß ihn von mir — gerade als ob ich ihn nur gebraucht hätte, um über ihn den Sieg davonzutragen, um ihn zu unterjochen. Aber über alle konnte ich nicht den Sieg davontragen; mein Freund war, ebenso wie ich, keinem von ihnen ähnlich und bildete eine sehr seltene Ausnahme. Das erste, was ich nach meinem Austritt aus der Schule tat, war, diejenige dienstliche Laufbahn, für die meine Verwandten mich bestimmt hatten, zu verlassen, um alle Fäden zu zerreißen, die Vergangenheit zu verfluchen und ihre Asche in die Winde zu streuen … Und weiß der Teufel, warum ich nach alledem zu diesem Simonow hintrollte! …

Am andern Morgen sprang ich früh aus dem Bette, wie wenn das alles sogleich in Szene gehen würde. Aber ich glaubte, es werde an diesem Tage ganz bestimmt ein radikaler Umschwung in meinem Leben eintreten. Ob es von mangelnder Gewöhnung kam, aber mein ganzes Leben hindurch habe ich bei jedem äußeren, wenn auch ganz unbedeutenden Ereignisse immer die Vorstellung gehabt, daß nun sofort ein radikaler Umschwung in meinem Leben eintreten werde. Ich ging jedoch wie gewöhnlich in den Dienst, schlich mich aber zwei Stunden vor Bureauschluß fort nach Hause, um mich zurechtzumachen. Die Hauptsache, dachte ich, ist, daß ich nicht als erster hinkomme; sonst werden sie denken, ich hätte mich schon sehr darauf gefreut. Aber solcher Hauptsachen gab es Tausende, und alle regten sie mich dermaßen auf, daß ich ganz schwach wurde. Ich putzte mir eigenhändig meine Stiefel noch einmal; Apollon hätte sie um keinen Preis der Welt zweimal an einem Tage geputzt, da er fand, daß das nicht in der Ordnung sei. Ich putzte sie, nachdem ich die Bürsten heimlich aus dem Vorzimmer entwendet hatte, damit er es nicht merkte und mich dann verachtete. Darauf musterte ich eingehend meinen Anzug und fand, daß alles alt, abgerieben und abgetragen sei. Ich war in dieser Hinsicht schon gar zu nachlässig geworden. Meine Dienstuniform war allerdings in Ordnung; aber ich konnte doch nicht in der Dienstuniform an einem Diner teilnehmen. Aber die Hauptsache war, daß sich an den Beinkleidern, gerade an dem einen Knie, ein gewaltiger gelber Fleck befand. Ich ahnte, daß schon allein dieser Fleck mir neun Zehntel meiner persönlichen Würde rauben werde. Ich wußte auch, daß es sehr unwürdig war, so zu denken. „Aber jetzt handelt es sich nicht um das Denken; jetzt rückt das wirkliche Leben heran“, dachte ich und wurde ganz kleinmütig. Desgleichen wußte ich schon damals ganz genau, daß ich alle diese Dinge in einer ungeheuerlichen Weise übertrieb; aber was war zu machen? ich war nicht mehr imstande, mich zu beherrschen, und wurde vom Fieber geschüttelt. In voller Verzweiflung stellte ich mir alles im voraus vor: wie dieser „Schuft“, der Swerkow, mich von oben herab und kühl begrüßen, mit welcher stumpfsinnigen, durch nichts zu überwindenden Verachtung der dumme Trudoljubow mich ansehen, in einer wie häßlichen, dreisten Weise der nichtswürdige Ferfitschkin, um seinem Gönner Swerkow zu gefallen, über mich kichern, wie vorzüglich Simonow das alles im stillen verstehen und wie sehr er mich wegen meiner elenden Eitelkeit und meines unwürdigen Kleinmutes verachten werde, und vor allen Dingen: wie kläglich und alltäglich das alles sein werde, wie wenig dem höheren Stile der Literatur entsprechend! Gewiß, das beste wäre gewesen, überhaupt nicht hinzugehen. Aber das war nun schon völlig unmöglich; wenn es mich irgendwohin zog, dann konnte ich schlechterdings nicht widerstehen. Ich hätte mich nachher mein ganzes Leben lang gehöhnt: „Siehst du wohl, du hast Angst gehabt, hast vor dem wirklichen Leben Angst gehabt, hast Angst gehabt!“ Vielmehr wünschte ich leidenschaftlich, diesem ganzen „Gesindel“ zu zeigen, daß ich ganz und gar nicht ein solcher Feigling sei, wie ich selbst es von mir glaubte. Ja noch mehr: Gerade im stärksten Paroxysmus meines Feigheitsfiebers phantasierte ich davon, daß ich die Oberhand gewinnen, den Sieg davontragen, sie in Entzücken versetzen, sie zwingen würde, mich zu lieben, na, zum Beispiel „wegen meiner erhabenen Gedanken und wegen meines unzweifelhaften Esprits“. Ich sagte mir: „Sie werden Swerkow links liegen lassen; er wird abseits sitzen, schweigen und sich schämen; ich werde ihn einfach plattdrücken. Nachher werde ich mich meinetwegen wieder mit ihm versöhnen und mit ihm Brüderschaft trinken.“ Aber am allerschmerzlichsten und kränkendsten war für mich dies, daß ich schon damals wußte, vollkommen und bestimmt wußte, daß mir in Wahrheit an alledem nichts lag, daß ich in Wahrheit überhaupt nicht den Wunsch hatte, sie plattzudrücken, zu unterwerfen, in Entzücken zu versetzen, und daß ich für dieses ganze Resultat, wenn mir seine Erreichung wirklich gelänge, keinen Groschen geben würde. O wie heiß bat ich Gott, daß dieser Tag recht schnell vorübergehen möchte! In unbeschreiblicher Beängstigung trat ich an das Fenster, öffnete die Luftscheibe und sah in den trüben Nebel des dicht herabfallenden nassen Schnees hinaus …

Endlich schlug meine jämmerliche kleine Wanduhr fünf. Ich ergriff meine Mütze, und indem ich mir Mühe gab, Apollon nicht anzusehen, der schon seit dem Morgen auf die Auszahlung seines Lohnes wartete, aber in seiner Dummheit davon nicht als erster anfangen wollte, schlüpfte ich an ihm vorbei aus der Tür und fuhr in einem Droschkenschlitten erster Klasse, den ich mir absichtlich für meinen letzten halben Rubel genommen hatte, wie ein vornehmer Herr nach dem Hotel de Paris.