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Ich war zu jener Zeit erst vierundzwanzig Jahre alt. Mein Leben war auch damals schon düster, unordentlich und bis zur Menschenscheu einsam. Ich verkehrte mit keinem Menschen, vermied es sogar, mit jemandem zu reden, und verkroch mich immer mehr in meinen Winkel. Während der Dienststunden in der Kanzlei gab ich mir sogar Mühe, niemanden anzusehen, und ich bemerkte recht wohl, daß meine Kollegen mich nicht nur für einen wunderlichen Kauz hielten, sondern (auch das schien mir immer so) mich sogar mit einer Art von Ekel anblickten. Es kam mir der Gedanke: Warum hat denn niemand außer mir die Empfindung, daß man ihn mit Ekel anblickt? Einer unserer Kanzleibeamten hatte ein ganz widerwärtiges, pockennarbiges Gesicht, die reine Verbrecherphysiognomie. Hätte ich ein so unanständiges Gesicht gehabt, so würde ich, glaube ich, nicht gewagt haben, jemanden anzusehen. Ein anderer trug eine so abgenutzte Uniform, daß es in seiner Nähe schon schlecht roch. Und doch zeigte keiner dieser Herren irgendwelche Verlegenheit, weder wegen seiner Kleidung noch wegen seines Gesichtes noch in geistiger Hinsicht. Weder der eine noch der andere von ihnen hatte die Vorstellung, daß jemand sie mit Ekel ansähe; und wenn sie diese Vorstellung gehabt hätten, so wäre es ihnen ganz gleichgültig gewesen; wenn nur die Vorgesetzten sie nicht so ansahen. Jetzt ist es mir vollkommen klar, daß ich selbst infolge meiner grenzenlosen Eitelkeit und, im Zusammenhange damit, infolge der maßlosen Ansprüche, die ich an mich selbst stellte, mich sehr häufig mit einer grimmigen, bis zum Ekel gehenden Unzufriedenheit betrachtete und infolgedessen in Gedanken meine Auffassung einem jeden zuschrieb. Ich haßte zum Beispiel mein Gesicht, fand es häßlich und vermutete sogar, daß ein gemeiner Ausdruck in ihm liege; und darum bemühte ich mich jedesmal, wenn ich zum Dienst kam, in qualvoller Weise, mich möglichst selbstbewußt zu benehmen und auf meinem Gesichte möglichst viel edle Gesinnung zum Ausdruck zu bringen, um nicht in den Verdacht der Gemeinheit zu geraten. „Mag mein Gesicht meinetwegen unschön sein“, dachte ich, „wenn es dafür nur edelmütig, ausdrucksvoll und vor allen Dingen außerordentlich klug aussieht.“ Zu meinem größten Leidwesen wußte ich jedoch mit Bestimmtheit, daß ich es niemals fertigbrachte, mit meinem Gesichte alle diese schönen Eigenschaften zum Ausdruck zu bringen. Aber was das Allerschrecklichste war: Ich fand mein Gesicht entschieden dumm. Und doch hätte ich mich vollkommen zufriedengegeben, wenn es nur klug ausgesehen hätte. Ich hätte mir sogar einen gemeinen Ausdruck gefallen lassen, falls man nur gleichzeitig mein Gesicht furchtbar klug gefunden hätte.

Selbstverständlich haßte ich unsere Kanzleibeamten sämtlich vom ersten bis zum letzten und verachtete sie alle, fürchtete mich aber gleichzeitig vor ihnen gewissermaßen auch. Es kam vor, daß ich sie auf einmal sogar über mich stellte. Das machte sich damals bei mir oft ganz plötzlich: Bald verachtete ich sie, bald stellte ich sie über mich. Ein gebildeter, ordentlicher Mensch kann nicht eitel sein, ohne an sich selbst grenzenlose Ansprüche zu stellen und ohne sich in manchen Augenblicken bis zum Haß zu verachten. Aber fast vor jedem, mit dem ich zusammenkam, mochte ich ihn nun über mich stellen oder ihn verachten, schlug ich die Augen nieder. Ich stellte sogar Experimente an: ob ich wohl den Blick wenigstens dieses oder jenes Menschen würde aushalten können, und immer war ich der erste, der den Blick senkte. Das quälte mich bis zur Raserei. Ebenso hatte ich eine krankhafte Furcht davor, lächerlich zu erscheinen, und hielt mich daher in allem, was das Äußere betraf, sklavisch an das allgemein Übliche; hingebungsvoll bewegte ich mich in dem gemeinsamen Geleise und bekam einen großen Schreck vor jeder exzentrischen Regung, die ich an mir bemerkte. Aber wie hätte ich das auf die Dauer aushalten können? Meine geistige Entwicklung hatte etwas Krankhaftes, wie sich das bei einem gebildeten Menschen unserer Zeit so gehört. Meine Kollegen aber waren alle stumpfsinnig und einer dem andern ähnlich wie Hammel in einer Herde. Vielleicht schien es in der ganzen Kanzlei nur mir allein beständig, daß ich ein Feigling und ein Sklave sei, und zwar eben deswegen, weil ich geistig fortgeschritten war. Aber es schien mir nicht nur so, sondern es war auch tatsächlich so der Fall: Ich war ein Feigling und ein Sklave. Ich sage das ohne alle Verlegenheit. Jeder ordentliche Mensch unseres Zeitalters ist ein Feigling und ein Sklave und muß es sein. Das ist sein normaler Zustand. Davon bin ich tief überzeugt. Er ist so geschaffen und dazu eingerichtet. Und nicht nur in der Gegenwart, infolge irgendwelcher ihr eigenen zufälligen Umstände, sondern überhaupt in allen Zeitaltern muß ein ordentlicher Mensch ein Feigling und ein Sklave sein. Das ist ein Naturgesetz für alle ordentlichen Menschen auf der Erde. Und wenn es wirklich einmal vorkommt, daß einer von ihnen bei irgendwelcher Gelegenheit ein bißchen Mut entwickelt, so möge er sich darüber nicht weiter freuen und stolz sein; er wird schon bald bei einer anderen Gelegenheit den Schwanz einklemmen. Das ist das einzig Mögliche, und das wiederholt sich ewig. Wirklich mutig sind nur die Esel und ihre Bastarde, aber auch die nur bis zu der bewußten Mauer. Sie verdienen keine Beachtung; denn sie sind ganz bedeutungslos.

Noch ein anderer Umstand war es, der mich damals quälte, nämlich: daß niemand mir und ich niemandem ähnlich war. „Ich bin ein einzelner, und sie sind die gesamte Masse“, dachte ich und versank in Grübeleien.

Daraus ist zu ersehen, daß ich noch völlig knabenhaft war. Es kamen auch seltsame Widersprüche vor. Manchmal war es mir ja furchtbar zuwider, in die Kanzlei zu gehen; das ging so weit, daß ich oft vom Dienste ganz krank nach Hause zurückkehrte. Aber plötzlich, ganz ohne sichtbaren Grund, folgte dann wieder eine Periode des Skeptizismus und der Gleichgültigkeit (bei mir vollzog sich alles periodenweise), und siehe da, ich lachte selbst über meine Unduldsamkeit und Mäkelei und machte mir selbst wegen meiner „romantischen Denkweise“ Vorwürfe. Bald wollte ich mit niemandem reden, bald wieder wurde ich in vollem Gegensatze dazu nicht nur gesprächig, sondern geriet sogar auf den Einfall, meinen Kollegen freundschaftlich näherzutreten. Meine ganze Mäkelei war plötzlich (warum eigentlich?) verschwunden. Wer weiß, vielleicht war sie mir niemals wirklich eigen gewesen, sondern nur so etwas Äußerliches, aus Büchern Angenommenes? Ich bin bis heute noch nicht dazu gelangt, diese Frage zu beantworten. Einmal freundete ich mich sogar vollständig mit ihnen an, besuchte sie in ihren Wohnungen, spielte mit ihnen Préférence, trank mit ihnen Schnaps und unterhielt mich mit ihnen über das Avancement … Aber hier erlauben Sie mir bitte eine Abschweifung!

Bei uns in Rußland hat es, allgemein gesagt, niemals die dummen verstiegenen deutschen und namentlich französischen Romantiker gegeben, auf die nichts wirkt: Mag auch die Erde unter ihnen krachen, mag auch ganz Frankreich auf den Barrikaden zugrunde gehen — sie bleiben dieselben, ändern sich nicht einmal anstandshalber und werden bis an ihr Lebensende ihre verstiegenen Lieder singen, weil sie eben Dummköpfe sind. Bei uns aber, in Rußland, gibt es keine Dummköpfe; das ist bekannt: Gerade dadurch zeichnen wir uns vor den westeuropäischen Völkern und speziell vor den Deutschen aus. Folglich gibt es bei uns auch keine verstiegenen Charaktere in ihrem reinen Zustande. Das alles haben unsere damaligen „positiven“ Publizisten und Kritiker, die damals für Männer wie Kostanschoglo [Ein wirtschaftlich sehr tüchtiger Gutsbesitzer im zweiten Teil von Gogols „Toten Seelen“. (A. d. Ü.)] schwärmten und sie aus Dummheit für das russische Ideal hielten, unsern Romantikern nur angedichtet, da sie sie für ebenso verstiegene Menschen erachteten wie die in Deutschland oder Frankreich. Im Gegenteil bilden die Eigenschaften unseres Romantikers den vollständigen, diametralen Gegensatz zu denen des verstiegenen Westeuropäers und lassen sich mit den kleinen westeuropäischen Maßstäben gar nicht messen. (Erlauben Sie mir schon, mich des Wortes „Romantiker“ zu bedienen; es ist so ein altertümlicher, ehrbarer, würdiger, allbekannter Ausdruck.) Die Eigenschaften unseres Romantikers sind: alles zu verstehen, alles zu sehen, und zwar es oft unvergleichlich viel klarer zu sehen als unsere positivsten Geister; mit niemandem und mit nichts Kompromisse einzugehen, aber zugleich nichts geringzuschätzen; allem aus dem Wege zu gehen, allem schlau nachzugeben, niemals das nützliche, praktische Ziel aus dem Auge zu verHeren (zum Beispiel hübsche Dienstwohnungen, nette Ruhegehälter, blitzende Orden); dieses Ziel durch alle enthusiastischen Schwärmereien und Bändchen lyrischer Gedichte hindurch unbeirrt zu verfolgen und gleichzeitig auch „das Schöne und Erhabene“ sich bis zu seinem Lebensende unversehrt zu bewahren und nebenbei trotz aller Mühen und Sorgen auch seine eigene werte Persönlichkeit wie ein kostbares Kleinod vollkommen unbeschädigt zu erhalten, sei es auch nur zum Nutzen dieses selben „Schönen und Erhabenen“. Ja, unser Romantiker ist ein großzügiger Mensch und der größte Spitzbube, den es bei uns gibt; das kann ich Ihnen versichern; sogar aus eigener Erfahrung. Natürlich trifft das alles nur zu, wenn der Romantiker klug ist. Aber was rede ich da! Ein Romantiker ist immer klug; ich wollte auch nur bemerken, daß es zwar bei uns auch dumme Romantiker gegeben hat, dies aber nicht in Betracht kommt, da sie sich noch in der Blüte ihrer Kraft vollständig in Deutsche umgewandelt und, um ihr Kleinod bequemer erhalten zu können, sich dort irgendwo, meist in Weimar oder im Schwarzwald, niedergelassen haben. Ich zum Beispiel habe die dienstliche Tätigkeit aufrichtig verachtet und sie nur notgedrungen nicht an den Nagel gehängt, weil ich für mein Sitzen im Bureau Geld bekam. Das Resultat also war (beachten Sie das wohl!), daß ich sie trotz meiner Verachtung nicht an den Nagel hängte. Unser Romantiker wird eher den Verstand verlieren (was übrigens nur sehr selten passiert), als daß er seine Tätigkeit an den Nagel hängt, wenn er nicht eine andere Karriere in Aussicht hat; und mit Gewalt wird man ihn auch nicht wegjagen, sondern ihn höchstens als „König von Spanien“ ins Irrenhaus bringen, aber auch das nur, wenn er in besonders hohem Grade verrückt geworden sein sollte. Aber verrückt werden ja bei uns nur dünne, hellblonde Leute. Eine überaus große Zahl von Romantikern macht bei uns eine vorzügliche Karriere. Sie besitzen eine ganz außerordentliche Vielseitigkeit! Und welche Fähigkeit zu den verschiedenartigsten Verfehlungen! Ich habe schon damals meine Freude daran gehabt und bin auch jetzt noch derselben Meinung. Eben daher gibt es bei uns so viele „großzügige Charaktere“, die sogar beim tiefsten Falle niemals ihr Ideal verlieren; und obgleich sie für ihr Ideal keinen Finger rühren, und obgleich sie ausgesprochene Räuber und Diebe sind, so lieben und achten sie doch ihr ursprüngliches Ideal bis zu Tränen und sind im Grunde ihres Herzens außerordentlich ehrenhaft. Ja, nur bei uns kann der ausgesprochene Schuft im Grunde seines Herzens von vollkommener und sogar edler Ehrenhaftigkeit sein und dabei doch gleichzeitig ruhig ein Schuft bleiben. Ich wiederhole: Fortwährend entwickeln sich unsere Romantiker zu solchen Spitzbuben in geschäftlichen Dingen (das Wort „Spitzbuben“ gebrauche ich in freundlichem Sinne) und beweisen eine so feine Nase für die Wirklichkeit und eine solche Kenntnis des realen Lebens, daß die Obrigkeit und das Publikum bei diesem Anblick vor Staunen starr sind und nur bewundernd mit der Zunge schnalzen können. Ihre Vielseitigkeit ist wahrhaft erstaunlich, und Gott weiß, wozu diese sich unter den kommenden Verhältnissen noch herausbilden wird und was sie uns für die Zukunft verspricht. Aber das Material ist nicht übel! Ich sage das nicht etwa aus übertriebenem, lächerlichem Patriotismus. Übrigens bin ich überzeugt, daß Sie wieder glauben, ich machte mich lustig. Aber wer weiß, vielleicht ist auch das Umgekehrte der Fall, und Sie sind überzeugt, daß ich wirklich so denke. In jedem Falle, meine Herren, werde ich mir Ihre beiden Meinungen zur Ehre anrechnen und sie mir zu besonderem Vergnügen gereichen lassen. Meine Abschweifung aber wollen Sie mir bitte verzeihen!

Die Freundschaft mit meinen Kollegen hielt ich selbstverständlich nicht lange aus, verzankte mich sehr bald gründlich mit ihnen und hörte infolge meiner damaligen jugendlichen Unerfahrenheit sogar auf, sie zu grüßen, als ob ich alle Beziehungen zu ihnen abbrechen wollte. Das hat sich mit mir übrigens nur ein einziges Mal zugetragen. Im ganzen bin ich immer allein gewesen.

Zu Hause bildete die Lektüre meine Hauptbeschäftigung. Ich wollte durch äußere Eindrücke alles das, was unaufhörlich in mir siedete, ersticken. Aber von äußeren Eindrücken war das einzige, was für mich im Bereiche der Möglichkeit lag, die Lektüre. Diese half natürlich viel: Sie erregte mich, labte mich und peinigte mich. Aber manchmal langweilte sie mich doch auch furchtbar. Ich wollte doch auch Bewegung haben, und so ergab ich mich denn plötzlich einer geheimen, verborgenen, garstigen Ausschweifung, wiewohl nur in mäßigem Umfange. Infolge meiner steten, krankhaften Reizbarkeit hatten meine Leidenschaften eine brennende Schärfe. Die Ausbrüche waren hysterisch, von Tränen und Krämpfen begleitet. Außer der Lektüre hatte ich nichts, wozu ich hätte meine Zuflucht nehmen können; das heißt, es war in meiner Umgebung damals nichts vorhanden, was ich hätte achten können, und wonach es mich hingezogen hätte. Außerdem befand ich mich in einer trüben Seelenstimmung; es stellte sich ein hysterisches Verlangen nach Gegensätzen, nach Kontrasten ein, und da fing ich denn an, ausschweifend zu leben. Aber ich habe das alles ja soeben nicht gesagt, um mich zu rechtfertigen … Übrigens, nein! Ich habe gelogen! Ich wollte mich wirklich rechtfertigen. Diese Bemerkung mache ich für mich, meine Herren. Ich will nicht lügen. Ich habe mein Wort gegeben.

Ich betrieb diese Ausschweifungen einsam, bei Nacht, im geheimen, ängstlich, in schmutziger Manier, mit einem Schamgefühl, das mich selbst in den ekelhaftesten Augenblicken nicht verließ und mich in solchen Augenblicken sogar dazu brachte, mich selbst zu verwünschen. Meine Seele empfand schon damals den Drang, mich von den Menschen abzusondern. Ich hatte eine furchtbare Angst, daß mir jemand begegnen, mich sehen und erkennen könnte. Ich besuchte verschiedene, sehr obskure Lokale.

Als ich einmal in der Nacht bei einem Restaurant niedrigen Ranges vorbeikam, sah ich durch das erleuchtete Fenster, wie die Herren sich beim Billard mit den Queues prügelten und wie einer von ihnen durch das Fenster hinausgeworfen wurde. Zu anderer Zeit wäre mir das sehr ekelhaft erschienen; aber damals überkam mich plötzlich eine solche Stimmung, daß ich diesen hinausgeworfenen Herrn beneidete, ihn dermaßen beneidete, daß ich sogar in das Restaurant, in das Billardzimmer hineinging: „Vielleicht“, dachte ich, „werde auch ich mich prügeln und ebenfalls aus dem Fenster hinausgeworfen werden.“

Ich war nicht betrunken; aber was sollte ich machen, - bis zu solchen hysterischen Anfällen kann einen der Trübsinn peinigen! Aber es kam zu nichts Besonderem. Es stellte sich heraus, daß ich nicht einmal fähig war, aus dem Fenster zu springen, und ich ging weg, ohne mich geprügelt zu haben. Gleich nach meinen Eintritt erledigte mich dort ein Offizier.

Ich stand beim Billard und versperrte ihm, als er vorbeigehen wollte, ohne es zu bemerken, den Weg; da faßte er mich bei den Schultern und stellte mich ohne ein Wort der Ankündigung und der Erklärung schweigend von dem Platze, wo ich stand, auf einen andern; er selbst aber ging vorbei, als ob er mich gar nicht bemerkt hätte. Ich hätte es ihm sogar verziehen, wenn er mich geprügelt hätte; aber das konnte ich ihm schlechterdings nicht verzeihen, daß er mich an einen andern Platz gestellt und so vollständig ignoriert hatte. Weiß der Teufel, was ich damals für einen richtigeren, regelrechteren, anständigeren, sozusagen mehr buchmäßigen Streit gegeben hätte! Man hatte mich behandelt wie eine Fliege. Dieser Offizier war von hohem Wuchs, ich dagegen ein kleiner, schwächlicher Mensch. Übrigens hatte ich es in der Hand, einen Streit herbeizuführen: Ich brauchte nur meiner Entrüstung Ausdruck zu geben, und man hätte mich gewiß aus dem Fenster hinausgeworfen. Aber ich entschied mich anders und zog es vor, ergrimmt zu verschwinden. In Verwirrung und Aufregung verließ ich das Restaurant und begab mich geradewegs nach Hause; am andern Tage aber setzte ich meine Ausschweifung fort; ich war noch schüchterner, bedrückter und trauriger als früher, als ob mir die Tränen in die Augen kommen wollten; aber ich setzte mein Treiben dennoch fort. Glauben Sie übrigens nicht, daß der Grund für mein feiges Benehmen dem Offizier gegenüber Feigheit gewesen wäre: Ich war im Grunde meines Herzens nie ein Feigling, wiewohl ich mich, wo es aufs Handeln ankam, stets feige benommen habe; aber — warten Sie noch ein wenig mit Ihrem Lachen; es gibt dafür eine Erklärung; ich habe für alles eine Erklärung; davon können Sie überzeugt sein.

O wenn doch dieser Offizier einer von denen gewesen wäre, die sich auf ein Duell einließen! Aber nein, er war gerade einer von jenen (leider längst verschwundenen) Herren, die es vorzogen, mit den Queues zu operieren oder, wie der Leutnant Pirogow bei Gogel, mittels der Vorgesetzten. Auf ein Duell aber ließen sie sich nicht ein, und mit unsereinem, einem armseligen Zivilisten, hätten sie ein Duell unter allen Umständen für unpassend gehalten — und überhaupt hielten sie das Duell für etwas Unsinniges, Freidenkerisches, Französisches; sie selbst aber erlaubten sich oft Beleidigungen, namentlich wenn sie hochgewachsen waren.

Daß ich mich damals feige benahm, geschah nicht aus Feigheit, sondern aus grenzenloser Eitelkeit. Ich fürchtete nicht die große Gestalt des Offiziers, auch nicht, daß man mich gehörig durchprügeln und durchs Fenster hinauswerfen werde; physische Tapferkeit besaß ich wirklich in ausreichendem Maße; aber an moralischer Tapferkeit mangelte es mir. Ich fürchtete, daß alle Anwesenden, von dem frechen Marqueur angefangen bis zu dem niedrigen, übelriechenden, dort herumschwenzelnden Beamten mit seinem pickelbesäten Gesichte und mit seinem fettigen Rockkragen, mich nicht verstehen und mich auslachen würden, wenn ich meiner Entrüstung Ausdruck gegeben und angefangen hätte, in buchmäßiger Sprache zu ihnen zu reden. Denn über den Ehrenpunkt, das heißt nicht über die Ehre, sondern über den Ehrenpunkt (point d‘honneur) kann man ja bei uns bis auf den heutigen Tag überhaupt nicht anders als in buchmäßiger Sprache reden. In gewöhnlicher Sprache geschieht des Ehrenpunktes gar keine Erwähnung. Ich war vollkommen überzeugt (so viel richtiges Gefühl für die Wirklichkeit besaß ich doch trotz aller Romantik!), daß sie alle geradezu geplatzt wären vor Lachen, der Offizier aber mich nicht einfach (das heißt in nicht beleidigender Weise) durchgeprügelt, sondern mir sicherlich Stöße mit dem Knie versetzt, mich in dieser Art um das Billard herumgetrieben und erst dann sich vielleicht erbarmt und mich durchs Fenster hinausspediert hätte. Selbstverständlich konnte ich diese klägliche Geschichte mit meinem Davongehen nicht abgetan sein lassen. Ich begegnete diesem Offizier nachher häufig auf der Straße und erkannte ihn sehr gut wieder. Ich weiß nur nicht, ob auch er mich erkannte. Wahrscheinlich nicht; ich schließe das aus gewissen Anzeichen. Aber ich, ich blickte ihn voll Grimm und Haß an, und so dauerte das … mehrere Jahre! Mein Ingrimm wuchs und steigerte sich sogar mit den Jahren. Zuerst begann ich, heimlich über diesen Offizier Erkundigungen einzuziehen. Das hatte für mich seine Schwierigkeiten, da ich mit keinem Menschen bekannt war. Aber einmal rief ihn jemand auf der Straße mit seinem Familiennamen an, als ich ihm von weitem nachging, wie wenn ich an ihn angebunden wäre, und so erfuhr ich seinen Familiennamen. Ein andermal folgte ich ihm bis zu seiner Wohnung und erfuhr für ein Zehnkopekenstück von dem Hausknecht, wo er wohnte, in welchem Stockwerk, ob allein oder mit jemandem zusammen, und so weiter — kurz, alles, was man von einem Hausknecht erfahren kann. Eines Morgens kam mir, obwohl ich mich sonst nie mit Schriftstellerei befaßte, der Gedanke, diesen Offizier in satirischer Art, karikierend, in Form einer Novelle abzukonterfeien. Ich schrieb diese Novelle mit vielem Genuß. Ich bediente mich einer scharfen Polemik, ja sogar der Verleumdung; den Familiennamen modelte ich anfangs nur so um, daß man ihn sogleich erkennen konnte; aber dann, nach reiflicher Überlegung, änderte ich ihn vollständig und sandte meine Schrift den „Vaterländischen Aufzeichnungen“ ein. Aber die polemische Literatur war damals noch nicht Mode geworden, und so wurde meine Novelle nicht gedruckt. Das ärgerte mich sehr. Manchmal war ich nahe daran, vor Wut zu ersticken. Endlich faßte ich den Entschluß, meinen Gegner zum Duell zu fordern. Ich verfaßte einen schönen, reizvollen Brief an ihn, in dem ich ihn anflehte, mich um Entschuldigung zu bitten; im Falle der Weigerung deutete ich ziemlich bestimmt auf ein Duell hin. Der Brief war so abgefaßt, daß der Offizier, wenn er auch nur eine Spur von Verständnis für das „Schöne und Erhabene“ besaß, unfehlbar mußte zu mir gelaufen kommen, um mir um den Hals zu fallen und mir seine Freundschaft anzubieten. Und wie schön wäre das gewesen! Was für ein herrliches Leben hätten wir zusammen geführt! „Er würde mich mit seiner stattlichen Gestalt beschützen, und ich würde ihn durch meine Bildung und durch meine Ideen veredeln, und was könnte sich nicht sonst noch alles daraus entwickeln!“ Stellen Sie sich vor, daß damals schon zwei Jahre seit der mir angetanen Beleidigung vergangen waren und meine Herausforderung ein schauderhafter Anachronismus war, trotz der Geschicklichkeit, mit der ich ihn in meinem Briefe zu erklären und zu bemänteln suchte. Aber Gott sei Dank (bis auf den heutigen Tag danke ich dem Allerhöchsten dafür mit Tränen), ich schickte meinen Brief nicht ab. Ein kalter Schauer läuft mir über die Haut, wenn ich daran denke, welche Folgen eine Absendung desselben hätte haben können. Und auf einmal … auf einmal rächte ich mich auf die einfachste, genialste Weise! Es kam mir plötzlich ein leuchtender Gedanke. Ich ging an Festtagen manchmal zwischen drei und vier Uhr nach dem Newski-Prospekt und promenierte dort auf der Sonnenseite. Das heißt, ein Promenieren war es eigentlich nicht, sondern ich machte dort zahllose Qualen, Demütigungen und Gallenergüsse durch; aber gerade das war mir gewiß Bedürfnis. Ich wand mich wie ein Aal in der unschönsten Weise zwischen den Fußgängern hin und her und wich unaufhörlich aus; bald vor Generälen, bald vor Chevaliergarde- und Husarenoffizieren, bald vor Damen; ich fühlte in diesen Augenblicken krampfhafte Schmerzen im Herzen und eine Hitze im Rücken bei dem bloßen Gedanken an die Jämmerlichkeit meiner Kleidung und an die Jämmerlichkeit und Gemeinheit meiner sich hin und her windenden kleinen Gestalt. Das war eine Märtyrerpein, eine ununterbrochene, unerträgliche Demütigung durch einen Gedanken, der in eine dauernde, unmittelbare Empfindung überging, daß ich nämlich all diesen vornehmen Leuten gegenüber nur eine Fliege sei, eine garstige, unnütze Fliege, zwar klüger als sie alle, gebildeter als sie alle, edler als sie alle (das verstand sich von selbst), aber doch eine Fliege, die allen fortwährend Platz machte und von allen fortwährend erniedrigt und beleidigt wurde. Warum ich mich dieser Pein unterzog, warum ich auf den Newski-Prospekt ging, das weiß ich nicht. Aber es zog mich einfach dorthin, sowie ich eine Möglichkeit dazu hatte.

Ich begann damals bereits jene Genußempfindungen durchzumachen, von denen ich schon im ersten Teile gesprochen habe. Nach der Geschichte mit dem Offizier aber fühlte ich mich noch stärker dorthin gezogen: Auf dem Newski-Prospekt begegnete ich ihm am häufigsten; dort konnte ich ihn nach Herzenslust betrachten. Er ging ebenfalls vorzugsweise an Festtagen dorthin. Zwar trat auch er vor Generälen und anderen vornehmen Persönlichkeiten zur Seite und schlängelte sich ebenfalls wie ein Aal zwischen ihnen hin; aber solche Leute wie unsereinen, ja auch noch besser gekleidete, drückte er einfach beiseite; er ging gerade auf sie zu, als ob er freien Luftraum vor sich hätte, und wich unter keinen Umständen aus. Ich berauschte mich, wenn ich ihn so ansah, an meinem Ingrimm und … trat jedesmal ingrimmig vor ihm zur Seite. Es war mir eine qualvolle Empfindung, daß ich es nicht einmal auf der Straße fertigbrachte, mich mit ihm auf gleichen Fuß zu stellen. „Warum trittst du unfehlbar als erster zur Seite?“ schalt ich mich selbst in einem Wutanfall, wenn ich manchmal in der Nacht um zwei oder drei Uhr aufwachte. „Warum gerade du und nicht er? Für dergleichen gibt es ja doch kein Gesetz; das steht ja doch nirgends geschrieben. Na, kann es denn nicht zu gleichen Teilen geschehen, wie es gewöhnlich geschieht, wenn höfliche Leute einander begegnen: Er weicht zur Hälfte aus und du zur Hälfte, und so geht ihr, einander wechselseitig respektierend, vorüber.“ Aber das geschah nicht, und immer war ich derjenige, der zur Seite trat; er aber bemerkte es gar nicht, daß ich ihm auswich. Und da blitzte auf einmal ein höchst bewundernswerter Gedanke in meinem Kopfe auf. „Wie wär‘s“, dachte ich, „wenn ich es absichtlich unterließe, selbst auf das Risiko hin, ihn zu stoßen; was wird dann daraus werden?“ Dieser dreiste Gedanke gewann allmählich so viel Gewalt über mich, daß er mir keine Ruhe mehr ließ. Ich malte mir das fortwährend mit Anstrengung aus und ging absichtlich häufiger nach dem Newski-Prospekt, um es mir noch deutlicher vorzustellen, wie ich das angreifen würde, falls ich es täte. Ich war von diesem Plane ganz entzückt. Er schien mir immer mehr probabel und ausführbar. „Natürlich werde ich ihm nicht geradezu einen Stoß versetzen“, dachte ich, schon im voraus durch die Freude gutmütiger gestimmt, „sondern ich werde einfach nicht zur Seite treten und infolgedessen mit ihm zusammenstoßen, nicht so, daß es sehr weh tut, sondern nur so, daß die Schultern aneinander kommen, gerade so viel, als es nach den Regeln des Anstandes zulässig ist; so daß ich ihn ebenso stark stoße wie er mich.“ Endlich war ich vollkommen dazu entschlossen. Aber die Vorbereitungen nahmen noch sehr viel Zeit in Anspruch. Erstens mußte ich zur Zeit der Ausführung möglichst anständig aussehen und daher auf mein Äußeres Sorgfalt verwenden. „Das ist für alle Fälle gut; wenn zum Beispiel ein öffentlicher Skandal entsteht (und es ist dort ein erstklassiges Publikum: Da geht eine Gräfin, da geht Fürst D., da gehen alle möglichen Schriftsteller), dann muß man gut gekleidet sein; das tut seine Wirkung und stellt uns ohne weiteres in den Augen der höchsten Gesellschaft gewissermaßen auf gleiche Stufe.“ In dieser Absicht ließ ich mir mein Gehalt im voraus geben und kaufte mir bei Tschurkin ein Paar schwarze Handschuhe und einen anständigen Hut. Schwarze Handschuhe schienen mir den Eindruck größerer Gesetztheit zu machen und mehr bon ton zu sein als zitronengelbe, die ich zuerst in Aussicht genommen hatte. „Das ist eine zu grelle Farbe; das sieht zu sehr danach aus, als wollte der Betreffende auffallen“, und ich nahm die zitronengelben nicht. Ein gutes Hemd mit weißen, knöchernen Knöpfen hatte ich schon längst bereitgelegt; aber was mich sehr aufhielt, war der Mantel. Mein Mantel war an sich recht gut und hielt warm; aber er war nicht mit Pelz gefuttert, sondern nur wattiert und hatte einen Schuppkragen, was höchst lakaienhaft aussah. Ich mußte unter allen Umständen den Kragen umändern und mir einen Biberkragen anschaffen, in der Art, wie ihn die Offiziere tragen. Zu diesem Zwecke ging ich häufig nach dem Kaufhofe, und nach längerem Schwanken entschied ich mich für einen billigen deutschen Biber. Diese deutschen Biber tragen sich zwar sehr schnell ab und nehmen dann ein miserables Aussehen an; aber am Anfange, solange sie noch neu sind, sehen sie sogar sehr anständig aus; und ich brauchte ihn ja auch nur für ein Mal. Ich fragte nach dem Preise: Er war doch recht teuer. Nach gründlichem Überlegen beschloß ich, meinen Schuppkragen zu verkaufen. Was die noch fehlende, für mich sehr beträchtliche Summe anlangte, so wollte ich meinen Tischvorsteher Anton Antonowitsch Setotschkin bitten, sie mir zu leihen; dies war ein bescheidener, ernster, gesetzter Mann, der niemandem Geld lieh, dem ich aber früher, bei meinem Eintritt in den Dienst, von der hohen Persönlichkeit, die meine Anstellung verfügte, besonders empfohlen worden war. Dieses Vorhaben bereitete mir schreckliche Qualen. Anton Antonowitsch um Geld zu bitten, das erschien mir als ein ungeheuerliches Unternehmen, dessen ich mich schämen müßte. Ich konnte sogar zwei, drei Nächte nicht schlafen, wie ich denn überhaupt damals wenig schlief und mich in einem fieberhaften Zustande befand; mein Herz schlug bald so matt, als ob es ganz aussetzen wollte, bald wieder begann es auf einmal zu springen, zu springen, zu springen! Anton Antonowitsch war zuerst sehr erstaunt, dann runzelte er die Stirn, dann überlegte er, lieh mir aber doch schließlich das Geld, nachdem er sich von mir hatte einen Schuldschein ausstellen lassen, der ihm das Recht gab, sich das geliehene Geld nach zwei Wochen aus meinem Gehalte auszahlen zu lassen. Auf diese Weise war endlich alles bereit; ein hübscher Biberkragen prangte an der Stelle des häßlichen Schupps, und ich begann allmählich zur Ausführung zu schreiten. Es gleich bei der ersten Begegnung so aufs Geratewohl zu tun, das war denn doch nicht möglich; das mußte mit Verstand ausgeführt werden, also allmählich. Ich muß indes gestehen, daß ich nach mehrfachen Versuchen der Verzweiflung nahe war: Wir stießen eben nicht zusammen; es war absolut nicht zu machen! Ich mochte mich noch so sehr vorbereitet haben und noch so fest entschlossen sein — es schien, daß wir im nächsten Augenblicke zusammenstoßen würden; ich blickte hin — und wieder war ich seitwärts ausgewichen, und er ging vorbei, ohne mich zu bemerken. Ich sprach sogar, wenn ich ihm näherkam, ein Gebet, daß Gott mir Energie verleihen möge. Einmal war ich schon vollständig entschlossen; aber die Sache endete damit, daß ich ihm nur vor die Füße geriet, weil es mir im allerletzten Augenblick auf handbreite Entfernung an Mut fehlte. Er ging in aller Ruhe an mir vorbei, und ich flog wie ein Ball zur Seite. In dieser Nacht war ich wieder krank; ich fieberte und phantasierte. Und plötzlich endete alles auf die denkbar beste Weise. In der vorhergehenden Nacht hatte ich endgültig beschlossen, mein verderbliches Vorhaben nicht zur Ausführung zu bringen und alles zu unterlassen, und mit dieser Absicht ging ich zum letztenmal nach dem Newski-Prospekt, bloß um zu sehen, wie ich alles unterlassen würde. Plötzlich, drei Schritte von meinem Feinde entfernt, faßte ich ganz unerwartet einen Entschluß, kniff die Augen zusammen, und — wir prallten kräftig aufeinander, Schulter gegen Schulter! Ich war keinen Zoll breit zur Seite gewichen und ging wie ein vollkommen Gleichberechtigter an ihm vorbei! Er blickte sich nicht einmal um und tat, als hätte er es nicht bemerkt; aber er tat nur so, davon bin ich überzeugt. Bis auf den heutigen Tag bin ich davon überzeugt! Selbstverständlich hatte ich bei dem Zusammenstoße das meiste abbekommen, da er stärker war als ich; aber darauf kam es nicht an. Die Hauptsache war, daß ich meine Absicht erreicht, meine Würde aufrechterhalten hatte, nicht im geringsten ausgewichen war und mich öffentlich mit ihm auf die gleiche soziale Stufe gestellt hatte. Nachdem ich mich so für alles vollständig gerächt hatte, kehrte ich nach Hause zurück. Ich war in einer begeisterten Stimmung. Ich triumphierte und sang italienische Arien. Natürlich werde ich Ihnen nicht das schildern, was mit mir drei Tage darauf geschah; wenn Sie meinen ersten Teil, „Das Dunkel“, gelesen haben, so können Sie es selbst erraten. — Der Offizier wurde später irgendwohin versetzt; es sind jetzt schon vierzehn Jahre, daß ich ihn nicht gesehen habe. Wie mag es ihm jetzt gehen, dem lieben Menschen? Wen mag er beiseite drängen?