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viii

Es dauerte übrigens lange, bis ich mich dazu verstand, diese Wahrheit anzuerkennen. Als ich am Morgen nach einigen Stunden eines tiefen, bleiernen Schlafes aufgewacht war und mir sogleich den ganzen vorhergehenden Tag ins Gedächtnis zurückgerufen hatte, wunderte ich mich sogar über die „Sentimentalität“, die ich im Gespräche mit Lisa an den Tag gelegt hatte, und über all diese „Empfindungen von Schrecken und Mitleid“. „Daß einen eine solche weibische Nervenschwäche überkommen kann, pfui Teufel!“ dachte ich. „Und wozu habe ich ihr meine Adresse gegeben? Wie nun, wenn sie zu mir kommt? Übrigens, mag sie meinetwegen auch kommen; es schadet nichts“ … Aber das war jetzt offenbar nicht die Hauptsache, nicht das Wichtigste; ich mußte mich beeilen und um jeden Preis so schnell wie möglich meine Reputation in Swerkows und Simonows Augen wiederherstellen. Das war die Hauptsache. Lisa aber vergaß ich, mit diesen Sorgen beschäftigt, an diesem Morgen sogar vollständig.

Vor allen Dingen mußte ich unverzüglich an Simonow meine Schuld vom vorhergehenden Tage zurückzahlen. Ich entschloß mich zu einem verzweifelten Mittel: mir ganze fünfzehn Rubel von Anton Antonowitsch zu borgen. Es traf sich gut, daß er an diesem Morgen bei vorzüglicher Laune war: er gab mir das Geld sofort, auf die erste Bitte hin. Ich freute mich darüber so, daß ich, während ich den Wechsel unterschrieb, ihm mit dem Air eines Lebemannes in lässigem Tone erzählte, ich hätte gestern mit Freunden an einem Gelage im Hotel de Paris teilgenommen; „es war ein Abschiedsessen für meinen Schulkameraden, ja ich kann sagen für einen Jugendfreund; und wissen Sie, er ist ein gewaltiger Bonvivant, an ein luxuriöses Leben gewöhnt; na, selbstverständlich von guter Familie, beträchtliches Vermögen, glänzende Karriere, geistreich, liebenswürdig, hat Liebesintrigen mit vornehmen Damen, Sie verstehen. Wir haben ein halb Dutzend Flaschen mehr getrunken, als gut war, und …“ Und es machte sich nicht übel: ich brachte das alles mit großer Leichtigkeit, Ungezwungenheit und Selbstzufriedenheit heraus.

Als ich nach Hause gekommen war, schrieb ich sogleich an Simonow.

Noch heutigen Tages erinnere ich mich mit Vergnügen an den wahrhaft eines Gentlemans würdigen, gutmütigen, offenherzigen Ton meines Briefes. In gewandter und vornehmer Weise, vor allen Dingen aber ganz ohne überflüssige Worte nahm ich die Schuld an allem Geschehenen auf mich. Ich entschuldigte mich, „wenn es mir überhaupt gestattet ist, mich noch zu entschuldigen“, damit, daß ich, an den Genuß von Alkohol ganz und gar nicht gewöhnt, schon durch das erste Glas Branntwein betrunken geworden sei, das ich (wie ich angab) noch vor ihrer Ankunft, als ich auf sie im Hotel de Paris wartete, zwischen fünf und sechs Uhr getrunken hätte. Meine Bitte um Entschuldigung richtete ich vornehmlich an Simonow; ihn aber bat ich, von meinen Erklärungen auch allen andern Mitteilung zu machen, besonders Swerkow, den ich „nach meiner nebelhaften Erinnerung“ wohl beleidigt hätte. Ich fügte hinzu, ich würde selbst zu allen hinfahren, wenn ich nicht heftige Kopfschmerzen hätte und noch mehr mich schämte. Besonders zufrieden war ich mit dieser „Légèreté“, ja beinah Lässigkeit (übrigens von durchaus anständiger Art), die sich auf einmal in meiner Schreibweise bekundete und ihnen besser als alle möglichen Auseinandersetzungen von vornherein zu verstehen gab, daß ich „diese ganze gestrige widerwärtige Geschichte“ sehr kaltblütig ansähe und ganz und gar nicht zu Boden geschmettert wäre, wie die Herren wahrscheinlich dächten, sondern vielmehr die Sache mit der Gemütsruhe betrachtete, mit der ein sich selbst achtender Gentleman sie betrachten müsse. „Einem frischen jungen Manne ist aus so etwas kein Vorwurf zu machen“, das sollte ihnen als meine Anschauung erscheinen.

„Und was liegt sogar für ein scherzhafter Esprit darin, der eines Marquis würdig wäre!“ dachte ich voll Bewunderung, als ich mein Schriftstück noch einmal durchlas. „Und das kommt alles daher, daß ich ein fortschrittlich entwickelter, gebildeter Mensch bin! Ein anderer würde an meiner Stelle nicht wissen, wie er sich aus der Klemme ziehen solle; aber ich habe mir schon herausgeholfen und bin schon wieder fidel, und alles daher, daß ich ein gebildeter, fortschrittlich entwickelter Mensch der Neuzeit bin. Und vielleicht ist das auch wirklich gestern alles vom Alkohol hergekommen. Hm! … aber nein, vom Alkohol kann es nicht gekommen sein. Branntwein habe ich überhaupt nicht getrunken, als ich von fünf bis sechs auf sie wartete. Ich habe Simonow belogen, gewissenlos belogen; aber ich mache mir kein Gewissen daraus …

Übrigens scher‘ ich mich den Teufel um die ganze Geschichte. Die Hauptsache ist, daß ich sie hinter mir habe.“

Ich legte sechs Rubel in den Brief, siegelte ihn zu und ersuchte Apollon, ihn zu Simonow hinzutragen. Als Apollon hörte, daß in dem Briefe Geld liege, wurde er höflicher und erklärte sich bereit hinzugehen. Gegen Abend ging ich aus, um einen Spaziergang zu machen. Ich hatte vom vorhergehenden Tage her noch Kopfschmerz und ein Gefühl des Schwindels. Aber je mehr der Abend heranrückte, und je mehr sich die Dämmerung verdichtete, um so mehr änderten und verwirrten sich meine Empfindungen und mit ihnen auch meine Gedanken. Es war da in meinem Innern, in der Tiefe meines Herzens und Gewissens, etwas, was nicht starb, nicht sterben wollte und sich in einem brennenden Schmerze kundgab. Ich drängte mich vorzugsweise in den belebtesten Geschäftsstraßen umher, in der Meschtschanskaja-Straße, in der Sadowaja-Straße und am Jussupow-Garten. Besonders liebte ich es immer, in diesen Straßen in der Dämmerung umherzugehen, namentlich wenn dort die bunte Menge der Passanten dichter wird: es sind das Geschäftsleute und Handwerker, die mit sorgenvollen, ja ärgerlichen Gesichtern von ihrer Tagesarbeit nach Hause gehen. Es gefiel mir besonders dieses Hasten um den kleinen Gewinn, dieses brutal prosaische Treiben. Diesmal aber hatte dieses ganze Straßengedränge die Wirkung, meine Nerven noch mehr zu reizen. Ich konnte schlechterdings nicht mit mir zurechtkommen und zu einem Abschluß gelangen. In meiner Seele erhob sich etwas, erhob sich unaufhörlich schmerzend und wollte sich nicht beruhigen. Ganz verstört kehrte ich nach Hause zurück. Ich hatte eine Empfindung, als ob ein Verbrechen auf meiner Seele lastete.

Es quälte mich beständig der Gedanke, daß Lisa kommen könnte. Sonderbar kam es mir vor, daß von all den Erinnerungen an den vergangenen Tag die Erinnerung an sie mich besonders, gewissermaßen ganz abgesondert von den übrigen, quälte. Alles andere hatte ich gegen Abend schon vollständig vergessen; ich hatte es mit einer geringschätzigen Gebärde hinter mich geworfen und war mit meinem Briefe an Simonow immer noch ganz zufrieden. Aber was jene Sache anlangte, so war ich eigentümlicherweise nicht mehr zufrieden. Es war gerade, als wenn ich mich lediglich um Lisa quälte. „Wie nun, wenn sie kommt?“ dachte ich unaufhörlich. „Nun gut, das schadet ja nichts; mag sie kommen! Hm! Unangenehm ist zum Beispiel schon allein dies, daß sie sehen wird, wie ich lebe. Gestern erschien ich ihr gegenüber als ein solcher Held … aber jetzt, hm! Das ist aber auch wirklich unangenehm, daß ich so heruntergekommen bin. Es sieht geradezu bettlermäßig in meiner Wohnung aus. Und ich habe es fertiggebracht, gestern in einem solchen Anzuge zum Diner zu fahren! Und mein Wachstuchsofa, aus dem die Bastfüllung herauskommt! Und mein Schlafrock, mit dem ich meinen Körper nicht bedecken kann! Welche Lumpen! … Und sie wird das alles sehen; auch meinen Apollon wird sie sehen. Dieser Racker wird sie gewiß beleidigen. Er wird gegen sie ungezogen sein, um mich zu ärgern. Ich aber werde selbstverständlich nach meiner Gewohnheit es mit der Angst bekommen, werde vor ihr hin und her trippeln und mich mit meinen Schlafrockschößen zu bedecken suchen, werde lächeln und lügen. Ach, wie häßlich! Und das ist noch nicht einmal das Häßlichste! Es gibt noch etwas Wichtigeres, Garstigeres, Gemeineres! Ja, Gemeineres! Daß ich wieder, wieder diese ehrlose, lügnerische Maske vorbinden muß! …“

Als ich bis zu diesem Gedanken gelangt war, fuhr ich heftig auf:

„Warum soll diese Maske ehrlos sein? Worin besteht die Ehrlosigkeit? Ich habe gestern aufrichtig gesprochen. Ich erinnere mich, daß auch in mir echte Empfindung vorhanden war. Ich beabsichtigte gerade, in ihr edle Empfindungen wachzurufen … Wenn sie zu weinen anfing, so war das ganz gut; das wirkt wohltätig …“

Aber trotzdem konnte ich mich absolut nicht beruhigen. Diesen ganzen Abend über, noch als ich schon nach Hause zurückgekehrt war, noch nach neun Uhr, als in keiner Weise mehr mit der Möglichkeit von Lisas Kommen zu rechnen war, schwebte mir ihr Bild vor, und was die Hauptsache war, ich hatte sie immer in ein und derselben Situation vor Augen. Speziell ein bestimmter Augenblick von all den Ereignissen des vorhergehenden Tages stand mir besonders klar vor der Seele: der Augenblick, als ich das Zimmer mit dem Streichholz erleuchtete und ihr blasses, verzerrtes Gesicht mit dem gequälten Blicke sah. Und was für ein klägliches, unnatürliches, verzerrtes Lächeln in jenem Augenblicke auf ihrem Gesichte lag! Aber ich wußte damals noch nicht, daß ich noch nach fünfzehn Jahren mir Lisa immer gerade mit diesem kläglichen, verzerrten, unangebrachten Lächeln vorstellen würde, das sie damals gezeigt hatte.

Am andern Tage war ich schon wieder geneigt, das alles für Unsinn, für Nervenüberreizung und vor allen Dingen für Übertreibung zu halten. Ich hatte immer diese meine schwache Seite gekannt und mich manchmal sehr vor ihr gefürchtet: „Ich übertreibe alles; das ist mein Fehler“, wiederholte ich mir allstündlich. Aber „übrigens wird Lisa doch vielleicht kommen“, das war der Refrain, mit dem damals alle meine Überlegungen schlossen. Ich beunruhigte mich dermaßen, daß ich manchmal in Wut geriet: „Sie wird kommen; unbedingt wird sie kommen!“ rief ich aus und rannte dabei im Zimmer hin und her; „wenn nicht heute, so wird sie morgen kommen und wird mich antreffen! All diese ‚reinen Herzen‘ haben diesen verdammten Hang zum Romantischen! O über die Ekelhaftigkeit, Dummheit, Borniertheit dieser garstigen ‚sentimentalen Seelen‘! Na, wie kann man das nur nicht begreifen, wie kann man das nur nicht begreifen?“ Aber hier stockte ich selbst und sogar in starker Betroffenheit.

„Und wie weniger Worte“, dachte ich so nebenbei, „wie weniger idyllischer Schilderungen bedurfte es (und diese idyllischen Schilderungen waren noch dazu unecht, buchmäßig, ein Kunstprodukt), um sofort einem menschlichen Leben die Richtung zu geben, die ich wollte! Das macht die Jungfräulichkeit und die Frische des Bodens!“

Manchmal kam mir der Gedanke, selbst zu ihr hinzufahren, „ihr alles zu erzählen“ und sie zu bitten, sie möchte nicht zu mir kommen. Aber da, bei diesem Gedanken, wurde in mir ein solcher Ingrimm rege, daß ich, wie ich glaube, diese „verdammte“ Lisa zermalmt hätte, wenn sie auf einmal neben mir gestanden hätte; beleidigt hätte ich sie, angespuckt, hinausgejagt, geprügelt!

Aber es verging ein Tag, ein zweiter, ein dritter — sie kam nicht, und ich begann mich zu beruhigen. Besonders munter und heiter pflegte ich nach neun Uhr abends zu werden, ja ich überließ mich dann sogar manchmal Träumereien, und zwar solchen von recht angenehmer Art; ich sagte mir zum Beispiel: „Ich rette Lisa gerade dadurch, daß sie zu mir kommt und ich mit ihr rede. Ich unterrichte und bilde sie. Schließlich bemerke ich, daß sie mich liebt, leidenschaftlich liebt. Ich tue, als ob ich es nicht wahrnähme (ich weiß eigentlich nicht, warum ich so tue; wahrscheinlich nur so um des guten Scheines willen). Zuletzt wirft sie, das schöne Mädchen, ganz verwirrt, zitternd und schluchzend sich mir zu Füßen und sagt, ich sei ihr Retter und sie liebe mich mehr als alles auf der Welt. Ich bin erstaunt, aber … ‚Lisa‘, sage ich, ‚meinst du denn, daß ich deine Liebe nicht bemerkt habe? Ich habe alles gesehen, alles erraten; aber ich durfte nicht als erster an dein Herz herantreten, weil ich für dich eine Respektsperson war und fürchtete, du könntest dich aus Dankbarkeit absichtlich zwingen, meine Liebe zu erwidern, und selbst gewaltsam in deinem Herzen ein Gefühl hervorzurufen, das vielleicht vorher nicht vorhanden war; das wollte ich aber nicht; denn das ist Despotismus. Das ist taktlos‘“ (nun, kurz gesagt, ich verhedderte mich da in so einer westeuropäischen, George Sandschen, unsagbar edlen Finesse). „,Aber jetzt, jetzt bist du mein; du bist mein Geschöpf; du bist rein und schön; du bist mein schönes Weib.

Als volle, wahre Herrin tritt

Erhobnen Hauptes in mein Haus!‘ Darauf fuhren wir dann ein schönes Leben, reisen ins Ausland …“ Und so ging das noch eine ganze Weile weiter. Aber diese Phantasien wurden mir schließlich selbst zuwider, und das Ende vom Liede war, daß ich mir selbst die Zunge herausstreckte.

„Aber die Wirtin wird ihr, ‚so einem gemeinen Frauenzimmer‘, gar nicht die Erlaubnis zum Ausgehen geben“, dachte ich. „Ich glaube, diese Mädchen dürfen nicht viel Spazierengehen, am wenigsten abends“ (ich hatte aus unklarem Grunde die Vorstellung, sie müsse unbedingt am Abend kommen, speziell um sieben Uhr). „Indessen hat sie gesagt, sie habe sich noch nicht vollständig in die Knechtschaft begeben, sondern genieße besondere Rechte; also, hm! Hol‘s der Teufel, sie wird kommen, bestimmt kommen!“

Es war noch ein Glück, daß mich in dieser Zeit Apollon durch seine Grobheiten zerstreute. Er brachte mich um den letzten Rest meiner Geduld! Er war mein Plagegeist, die Geißel, die mir die Vorsehung gesandt hatte. Ich und er, wir führten schon seit mehreren Jahren einen ununterbrochenen Krieg miteinander, und ich haßte ihn. O Gott, und wie haßte ich ihn! Ich glaube, ich hatte in meinem ganzen Leben noch keinen Menschen so gehaßt, wie ich ihn haßte, namentlich in manchen Augenblicken. Er war schon bei Jahren, hatte ein würdevolles Wesen und beschäftigte sich zum Teil mit Schneiderei. Aber (ich weiß nicht warum) er verachtete mich, und sogar in einer maßlosen Weise, und benahm sich gegen mich mit einem unerträglichen Hochmute. Übrigens behandelte er alle Menschen sehr von oben herab. Man brauchte nur diese weißen Augenbrauen und Wimpern, diesen glattgekämmten Kopf, diese Tolle, die er sich über der Stirn frisierte und mit Fastenöl salbte, diesen ernsten, immer spitz zusammengedrückten Mund anzusehen, und man fühlte, daß eine Persönlichkeit vor einem stand, die niemals an ihrer eigenen Vortrefflichkeit zweifelte. Er war im höchsten Grade Pedant, der größte Pedant, mit dem ich jemals auf der Erde zusammengekommen bin, und dabei von einem Selbstgefühl, wie es höchstens für Alexander den Großen gepaßt hätte. Er war in jeden Knopf, den er am Leib trug, in jeden seiner Fingernägel verliebt, entschieden verliebt; das sah man ihm an! Er benahm sich gegen mich wie ein reiner Despot, redete mit mir äußerst wenig, und wenn es sich so traf, daß er mich ansah, so tat er das mit einem festen, majestätisch-selbstbewußten, beständig spöttischen Blicke, der mich manchmal geradezu wütend machte. Seine Obliegenheiten verrichtete er mit einer Miene, als ob er mir die größte Gnade erwiese. Übrigens tat er für mich so gut wie nichts und hielt sich überhaupt nicht für verpflichtet, etwas zu tun. Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß er mich für den größten Dummkopf auf der ganzen Welt hielt und, wenn er „die Beziehungen zu mir fortbestehen ließ“, dies einzig und allein deswegen tat, weil er von mir monatlich Lohn beziehen konnte. Er war damit einverstanden, für einen Monatslohn von sieben Rubel bei mir nichts zu tun. Für den Ärger, den ich mit ihm hatte, werden mir gewiß einmal viele Sünden verziehen werden. Mein Haß gegen ihn steigerte sich mitunter so, daß ich beim bloßen Anblicke seines Ganges beinah Krämpfe bekam. Besonders widerwärtig aber war mir seine Art zu lispeln und zu zischen. Er hatte eine etwas zu lange Zunge oder so etwas Ähnliches, infolge wovon er beständig lispelte und zischte, und ich glaube, er war darauf furchtbar stolz in der Vorstellung, daß ihm das eine außerordentliche Würde verleihe. Er sprach leise und gemessen, legte dabei die Hände auf den Rücken und schlug die Augen nieder. Besonders brachte er mich in Wut, wenn er manchmal anfing, in seinem Kämmerchen hinter der Halbwand Psalmen zu lesen. Ihn lesen zu hören, war für mich eine wahre Folter. Aber er liebte es außerordentlich, abends Psalmen zu lesen, mit seiner leisen, gleichmäßigen Stimme, in etwas singendem Tone, ganz wie das neben einer Leiche üblich ist. Es ist interessant, daß er das schließlich zu seiner Haupttätigkeit gemacht hat: er beschäftigt sich jetzt berufsmäßig damit, bei Leichen die Psalmen zu lesen; außerdem vertilgt er Ratten und fabriziert Wichse. Aber damals war ich nicht imstande, ihn wegzujagen; es war, als wäre er mit meiner Existenz chemisch verbunden. Zudem hätte auch er selbst um keinen Preis eingewilligt, von mir wegzugehen. In einer Chambre garnie zu wohnen, das war mir unmöglich: meine Wohnung war mein Separatwinkel, meine Schildkrötenschale, mein Futteral, in dem ich mich vor der ganzen Menschheit versteckte; Apollon aber erschien mir (weiß der Teufel warum) als ein notwendiges Zubehör zu dieser Wohnung, und ich brachte es ganze sieben Jahre lang nicht fertig, ihn wegzujagen.

Es war zum Beispiel ein Ding der Unmöglichkeit, ihm seinen Lohn auch nur für zwei oder drei Tage vorzuenthalten. Er hätte mich in einer solchen Weise behandelt, daß ich nicht gewußt haben würde, wo ich bleiben sollte. Aber in diesen Tagen war ich dermaßen auf alle Menschen ergrimmt, daß ich, ohne mir über den Grund und Zweck klar zu sein, mir vornahm, Apollon zu bestrafen und ihm seinen Lohn erst nach vierzehn Tagen auszuzahlen. Ich hatte schon vor langer Zeit, schon vor ein paar Jahren, einmal versucht, dies zu tun, lediglich um ihm zu zeigen, daß er sich mir gegenüber nicht so aufspielen dürfe, und daß ich, wenn ich wolle, ihm seinen Lohn jederzeit vorenthalten könne. Ich hatte mir damals vorgenommen, zu ihm kein Wort darüber zu sagen und sogar absichtlich zu schweigen, um seinen Stolz zu brechen und ihn dazu zu zwingen, daß er selbst als erster von dem Lohne zu reden anfing. Dann wollte ich die ganzen sieben Rubel aus dem Tischkasten herausnehmen, ihm zeigen, das ich das Geld besäße und expreß beiseitegelegt hätte, ihm aber sagen, ich wolle ihm seinen Lohn nicht geben, ich wolle es nicht, wolle es einfach nicht, weil das nun einmal so mein Wille als Herr sei; denn er benehme sich respektlos und sei ein Grobian; aber wenn er mich respektvoll bitte, dann würde ich mich vielleicht erweichen lassen und ihm das Geld geben; andernfalls könne er noch vierzehn Tage warten oder drei Wochen oder einen ganzen Monat …

Aber wie grimmig ich damals auch war, so hatte er mich dennoch besiegt. Ich hatte es nicht einmal vier Tage lang ausgehalten. Er hatte mit demjenigen Mittel angefangen, mit dem er in ähnlichen Fällen immer anfing (denn ähnliche Fälle hatte es schon mehrere gegeben, so probeweise, und ich bemerke, daß ich alles vorherwußte und seine gemeine Taktik auswendig kannte); nämlich er pflegte das so zu machen: Er begann damit, einen außerordentlich ernsten Blick auf mich zu richten und ihn mehrere Minuten lang nicht von mir abzuwenden, namentlich wenn ich die Wohnung verließ oder er mich bei meiner Rückkehr empfing. Wenn ich dann standhielt und tat, als ob ich diese Blicke gar nicht bemerkte, so schritt er, immer noch schweigend wie vorher, zum zweiten Grade der Folter. Er pflegte dann auf einmal ohne jeden äußeren Anlaß mit leisem, weichen Gange in mein Zimmer zu kommen, wenn ich darin auf und ab ging oder las, an der Tür stehen zu bleiben, die eine Hand auf den Rücken zu legen, den einen Fuß seitwärts zu stellen und seinen Blick, der dann nicht mehr bloß ernst, sondern höchst verächtlich war, auf mich zu richten. Wenn ich ihn plötzlich fragte, was er wolle, so gab er keine Antwort und fuhr noch einige Sekunden lang fort, mich starr anzusehen; darauf preßte er in einer ganz besonderen Art mit vielsagender Miene die Lippen zusammen, drehte sich langsam auf dem Flecke um und ging langsam in sein Kämmerchen. Etwa zwei Stunden darauf kam er auf einmal wieder heraus und erschien wieder in derselben Weise vor mir. Es kam vor, daß ich in meiner Wut ihn gar nicht erst fragte, was er wolle, sondern einfach selbst in strenger, gebieterischer Manier den Kopf in die Höhe hob und ebenfalls anfing, ihn starr anzusehen. So sahen wir einander manchmal ein paar Minuten lang an; endlich drehte er sich langsam und würdevoll um und ging wieder auf zwei Stunden weg … Wenn ich mich auch durch dieses Mittel nicht zur Vernunft bringen ließ und zu revoltieren fortfuhr, so begann er auf einmal, mich ansehend, zu seufzen, lange und tief zu seufzen, als wolle er mit diesem einen Seufzer die ganze Tiefe meines moralischen Falles ausmessen, und selbstverständlich endete die Sache schließlich damit, daß er vollständig siegte: ich wütete und schrie; aber ich sah mich trotzdem genötigt, das, um was es sich handelte, auszuführen.

Diesmal jedoch hatte das gewöhnliche Manöver der ernsten Blicke kaum angefangen, als ich sogleich außer mich geriet und wütend auf ihn losstürzte. Ich befand mich auch ohne dies schon in übermäßig gereiztem Zustande.

„Hiergeblieben!“ schrie ich wie ein Rasender, als er sich, die eine Hand auf den Rücken haltend, langsam und schweigend umdrehte, um sich nach seinem Kämmerchen zu begeben; „hiergeblieben! Dreh dich um, dreh dich um; ich rede mit dir!“ Und mein Brüllen klang wohl sehr ungewöhnlich; denn er drehte sich wirklich um und begann mich sogar mit einer gewissen Verwunderung zu betrachten. Indessen sagte er auch jetzt noch kein Wort, und eben das war es, was mich wütend machte.

„Wie kannst du dich erdreisten, ungerufen zu mir hereinzukommen und mich so anzusehen? Antworte!“

Aber nachdem er mich wieder schweigend eine halbe Minute lang angesehen hatte, begann er von neuem sich umzudrehen.

„Hiergeblieben!“ brüllte ich, indem ich zu ihm hinstürzte. „Nicht von der Stelle! So! Jetzt antworte: was hast du hier gewollt?“

„Wenn Sie jetzt einen Befehl für mich haben, so ist es meine Obliegenheit, ihn auszuführen“, antwortete er, wieder erst nach einigem Stillschweigen, mit seiner lispelnden Sprache leise und gemessen, wobei er die Augenbrauen in die Höhe zog und langsam den Kopf von einer Schulter nach der andern hin und her bog; und alles das tat er mit einer entsetzlichen Seelenruhe.

„Das ist keine Antwort auf meine Frage, du Henkersknecht!“ schrie ich, vor Zorn zitternd. „Ich will dir selbst sagen, du Henkersknecht, weshalb du hierher kommst: du siehst, daß ich dir deinen Lohn nicht auszahle; du selbst aber willst aus Stolz mich nicht darum höflich bitten, und deshalb kommst du her, um mich mit deinen dummen Blicken zu bestrafen, zu peinigen, und hast gar keine Ahnung, du Henkersknecht, wie dumm das ist, wie dumm, wie dumm, wie dumm!“

Er wollte sich wieder schweigend umdrehen; aber ich packte ihn bei der Schulter.

„Hör mal zu!“ schrie ich ihn an. „Da ist das Geld, siehst du, da ist es!“ (ich nahm es aus dem Tischkasten heraus), „die ganzen sieben Rubel; aber du bekommst sie nicht, bekommst sie nicht eher, als bis du mit respektvoller, unterwürfiger Miene kommst und mich um Verzeihung bittest. Nun hast du es gehört!“

„Das kann nicht geschehen!“ antwortete er mit maßlosem Selbstgefühl.

„Es wird geschehen!“ schrie ich. „Ich gebe dir mein Ehrenwort, es wird geschehen!“

„Ich habe auch gar nichts getan, wofür ich Sie um Verzeihung bitten sollte“, fuhr er fort, wie wenn er gar nicht gehört hätte, was ich ihm zuschrie. „Vielmehr haben Sie selbst mich einen Henkersknecht genannt, wofür ich Sie jederzeit bei der Polizei wegen Beleidigung belangen kann.“

„Geh hin! Belange mich!“ schrie ich; „geh sofort, diese Minute, diese Sekunde! Aber du bist doch ein Henkersknecht! Ein Henkersknecht! Ein Henkersknecht!“ Aber er sah mich nur an, drehte sich dann um und ging, ohne auf das zu hören, was ich ihm nachrief, und ohne sich noch einmal zurückzuwenden, mit ruhigen Schritten in sein Kämmerchen.

„Wenn Lisa nicht gewesen wäre, so wäre nichts von alledem geschehen!“ sagte ich mir im stillen. Nachdem ich dann etwa eine Minute lang dagestanden hatte, begab ich mich würdevoll und feierlich, aber mit langsam und stark pochendem Herzen selbst zu ihm hinter die Halbwand.

„Apollon!“ sagte ich leise und in einzelnen Absätzen; ich konnte nur mühsam atmen, „geh sofort und ohne den geringsten Verzug hin und hole den Polizeiinspektor!“

Er hatte sich unterdessen schon an seinem Tische niedergelassen, die Brille aufgesetzt und eine Näharbeit vorgenommen. Aber als er meinen Befehl hörte, prustete er auf einmal vor Lachen los.

„Geh sofort hin, augenblicklich! Geh hin, oder es passiert etwas, was du nicht ahnst.“

„Sie sind wahrhaftig nicht bei Verstand“, bemerkte er, ebenso langsam lispelnd wie sonst; er hob nicht einmal den Kopf in die Höhe und fuhr fort, seine Nadel einzufädeln. „Wo hat man das je gehört, daß jemand selbst gegen sich die Polizei rufen läßt? Und was den Versuch, mich einzuschüchtern, anlangt, so haben Sie sich damit vergebliche Mühe gemacht; denn es wird nichts passieren.“

„Geh hin!“ kreischte ich und faßte ihn an der Schulter. Ich fühlte, daß ich im nächsten Augenblicke auf ihn losschlagen würde.

Aber ich bemerkte nicht, daß gerade in diesem Moment die Flurtür leise und langsam geöffnet wurde und eine Gestalt eintrat, stehenblieb und uns erstaunt zu betrachten begann. Ich blickte hin, wurde starr vor Scham und stürzte in mein Zimmer. Dort griff ich mir mit beiden Händen in die Haare, lehnte mich mit dem Kopfe gegen die Wand und verharrte wie versteinert in dieser Stellung.

Nach etwa zwei Minuten hörte ich die langsamen Schritte Apollons.

„Da fragt eine nach Ihnen“, sagte er und sah mich dabei besonders ernst an; dann trat er zur Seite und ließ Lisa an sich vorbei. Er wollte nicht fortgehen und betrachtete uns spöttisch.

„Geh hinaus! Geh hinaus!“ befahl ich ihm ganz fassungslos. In diesem Augenblicke machte meine Wanduhr eine gewaltige Anstrengung, fing an zu zischen und schlug dann sieben.