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iv

Ich hatte schon am vorhergehenden Abend gewußt, daß ich als erster ankommen würde. Aber darauf kam es mir jetzt gar nicht mehr an.

Von den andern war nicht nur noch niemand da, sondern ich hatte sogar Mühe, unser Zimmer zu finden. Der Tisch war noch nicht ganz fertig gedeckt. Was bedeutete das? Nach vielem Fragen erfuhr ich endlich von den Kellnern, daß das Diner zu sechs Uhr, nicht zu fünf, bestellt worden sei. Auch am Büfett wurde mir das bestätigt. Ich schämte mich sogar meiner Fragen. Es war erst fünfundzwanzig Minuten nach fünf. Wenn sie die Stunde umgeändert hatten, so wäre es jedenfalls ihre Pflicht gewesen, mich zu benachrichtigen, dazu ist die Stadtpost da; aber sie durften mich nicht in die Lage bringen, mich vor mir selbst … und auch vor den Kellnern schämen zu müssen. Ich setzte mich hin; ein Kellner deckte den Tisch zu Ende; seine Gegenwart steigerte bei mir das Gefühl der Kränkung. Kurz vor sechs Uhr wurden zu den bereits brennenden Lampen noch Kerzen ins Zimmer gebracht. Es war dem Kellner aber gar nicht eingefallen, diese gleich nach meiner Ankunft hereinzubringen. In dem anstoßenden Zimmer dinierten an verschiedenen Tischen zwei schweigsame Gäste, welche finstere, ärgerliche Gesichter machten. In einem der weiter entfernt gelegenen Zimmer ging es sehr lärmend her; es wurde sogar geschrien; man hörte eine ganze Rotte Menschen lachen; auch häßliches französisches Gekreisch war vernehmbar: Es war ein Diner mit Damen. Kurz, es war mir sehr verdrießlich zumute. Selten hatte ich in meinem Leben unangenehmere Minuten durchgemacht, so daß ich, als sie Punkt sechs Uhr alle zusammen erschienen, mich im ersten Augenblick über sie wie über eine Art von Befreiern freute und beinahe vergessen hätte, daß ich gekränkt aussehen mußte.

Swerkow trat als erster von allen durch die Tür; offenbar räumten die andern ihm den Vorrang ein. Sowohl er wie die andern lachten; aber als Swerkow mich erblickte, nahm er eine würdevolle Haltung an, trat ohne Eile, sich in der Taille wie aus Koketterie etwas nach vorn biegend, an mich heran und reichte mir freundlich, aber nicht sehr freundlich, die Hand, mit einer Art von vorsichtiger, beinahe generalmäßiger Höflichkeit, wie wenn er beim Handgeben sich vor irgend etwas in acht nähme. Ich hatte ganz im Gegenteil geglaubt, er würde sogleich beim Eintritt in sein altes dünnes, kreischendes Lachen ausbrechen und gleich bei den ersten Worten anfangen, seine flachen Späße und Witzchen loszulassen. Darauf war ich seit dem vorhergehenden Abend gefaßt gewesen; aber in keiner Weise hatte ich ein solches Benehmen von oben herab, eine solche exzellenzenhafte Freundlichkeit erwartet. Also war er jetzt völlig der Ansicht, daß er in jeder Hinsicht unermeßlich weit über mir stehe? Wenn er nur die Absicht hätte, mich durch dieses generalmäßige Benehmen zu beleidigen, dann würde das noch nicht viel zu sagen haben, dachte ich; dann würde ich einfach ausspucken. Wie aber, wenn wirklich, ohne jede Absicht, mich zu beleidigen, sich in seinem Hammelkopfe die Vorstellung gebildet hatte, daß er unermeßlich hoch über mir stehe und sich überhaupt nicht anders als gönnerhaft gegen mich benehmen könne? Schon diese bloße Vermutung benahm mir den Atem.

„Ich habe mit Erstaunen von Ihrem Wunsche, an unserm Zusammensein teilzunehmen, gehört“, begann er lispelnd und zischend und die Worte reckend, was er früher nicht getan hatte. „Wir sind so sehr lange nicht mit Ihnen zusammengekommen. Sie meiden uns. Mit Unrecht. Wir sind nicht so schreckliche Menschen, wie Sie glauben. Nun, jedenfalls freue ich mich, unsere Bekanntschaft zu er-neu-ern …“

Er wendete sich lässig ab, um seinen Hut auf das Fensterbrett zu legen.

„Warten Sie schon lange?“ fragte Trudoljubow.

„Ich bin Punkt fünf Uhr gekommen, wie es mir gestern gesagt wurde“, antwortete ich laut und in gereiztem Tone, der eine nahe Explosion erwarten ließ.

„Hast du ihm denn nicht mitgeteilt, daß wir die Stunde umgeändert haben?“ wandte sich Trudoljubow an Simonow. „Nein. Ich habe es vergessen“, erwiderte dieser, aber ohne jedes Bedauern, und ging, ohne sich auch nur bei mir zu entschuldigen, weg, um die kalten Vorspeisen zu bestellen.

„Also sind Sie schon eine Stunde hier? Ach, Sie Armer!“ rief Swerkow spöttisch; denn nach seiner Auffassung mußte das wirklich furchtbar komisch gewesen sein. In sein Gelächter stimmte dann auch Ferfitschkin mit seiner niederträchtigen, hellen, dünnen Stimme ein, die wie das Gekläff eines Schoßhündchens klang. Auch ihm erschien meine Situation als eine sehr verlegene und komische.

„Das ist durchaus nicht lächerlich!“ schrie ich Ferfitschkin an, da ich in immer größere Erregung geriet. „Nicht ich trage die Schuld, sondern andere, die es verabsäumt haben, mir Mitteilung zu machen. Das … das … das … ist einfach absurd.“

„Nicht nur absurd, sondern noch etwas Ärgeres“, brummte Trudoljubow, der sich in einer ungeschickten Weise meiner annahm. „Sie sind gar zu gutmütig. Das ist geradezu eine Unhöflichkeit. Natürlich keine absichtliche. Wie hat Simonow nur … hm!“

„Wenn mir jemand einen solchen Streich gespielt hätte“, bemerkte Ferfitschkin, „dann hätte ich …“

„Ja, dann hätten Sie sich etwas zu essen und zu trinken bestellt“, unterbrach ihn Swerkow, „oder sich einfach, ohne zu warten, das Diner servieren lassen.“

„Sie werden zugeben müssen, daß ich das ohne weiteres hätte tun können“, sagte ich in scharfem Tone. „Wenn ich wartete, so …“

„Setzen wir uns, meine Herren!“ rief der wieder eintretende Simonow. „Es ist alles bereit; für den Champagner übernehme ich jede Bürgschaft; er ist vorzüglich gekühlt … Ich wußte ja Ihre Wohnung nicht; wo hätte ich Sie da suchen sollen?“ wandte er sich auf einmal an mich, aber wieder, ohne mich anzusehen. Offenbar war er gegen mich mißgestimmt; gewiß hatte er nach meinem Besuche vom vorhergehenden Tage über die Sache nachgedacht.

Alle setzten sich hin, auch ich. Der Tisch war rund. Zu meiner Linken saß Trudoljubow, zu meiner Rechten Simonow. Swerkow saß mir gegenüber, Ferfitschkin neben ihm, zwischen ihm und Trudoljubow.

„Sa-a-gen Sie mal, sind Sie … in einem Ministerialdepartement?“ fuhr Swerkow fort, sich mit mir abzugeben. Da er sah, daß ich verdrießlich war, glaubte er allen Ernstes, er müsse gegen mich freundlich sein und mich sozusagen aufmuntern. „Was will der Mensch nur von mir?“ dachte ich wütend. „Will er, daß ich ihm eine Weinflasche an den Kopf werfe?“ Infolge mangelnder Gewöhnung geriet ich überaus schnell in eine gereizte Stimmung hinein.

„Nein, ich bin in der ***-Kanzlei“, antwortete ich kurz und blickte dabei auf meinen Teller.

„Und … ge-fällt es Ihnen in Ihrer Stel-lung? Sa-agen Sie, was hat Sie ver-an-laßt, Ihre frühere Stellung aufzugeben?“

„Die Ver-an-las-sung war eben, daß ich meine frühere Stellung aufgeben wollte“, erwiderte ich und zog dabei die Worte dreimal so arg in die Länge; denn ich konnte mich kaum noch beherrschen. Ferfitschkin prustete los. Simonow warf mir einen ironischen Blick zu; Trudoljubow hörte auf zu essen und betrachtete mich neugierig.

Swerkow krümmte sich ein wenig zusammen, tat aber so, als hätte er nichts bemerkt.

„Nu-u-un, und Ihr Lohn?“

„Was für ein Lohn?“

„Ich meine Ihr Ge-halt?“

„Aber wozu examinieren Sie mich so?“

Indessen sagte ich sogleich, wieviel Gehalt ich bekam. Ich war furchtbar rot geworden.

„Das ist nicht viel“, bemerkte Swerkow würdevoll.

„Ja, da kann man nicht in feinen Restaurants dinieren!“ fügte Ferfitschkin frech hinzu.

„Meiner Ansicht nach ist das sogar geradezu ärmlich“, bemerkte Trudoljubow ernst.

„Und wie mager Sie geworden sind, wie Sie sich verändert haben … seit jener Zeit …“ fügte Swerkow hinzu, nunmehr nicht ohne Bosheit, indem er mit einer Art von unverschämtem Mitleid mich und meinen Anzug musterte.

„Aber machen Sie ihn doch nicht ganz verlegen!“ rief Ferfitschkin kichernd.

„Mein Herr, lassen Sie sich sagen, daß ich mich nicht verlegen machen lasse“, brach ich nun endlich los. „Hören Sie wohl? Ich diniere hier, ‚in einem feinen Restaurant‘ für mein eigenes Geld, für mein eigenes und nicht für fremdes; merken Sie sich das, Monsieur Ferfitschkin!“

„Wie-ie? Wer diniert denn hier nicht für sein Geld? Sie reden, als ob …“ nahm Ferfitschkin den Kampf auf; er war krebsrot geworden und sah mir grimmig gerade in die Augen.

„Nun ja, nun ja!“ antwortete ich, da ich fühlte, daß ich zu weit gegangen war; „und ich glaube, es wäre besser, wenn wir uns mit einem klügeren Gespräche unterhielten.“

„Sie beabsichtigen wohl, Ihren Verstand leuchten zu lassen?“

„Seien Sie unbesorgt; das wäre hier völlig überflüssig.“

„Aber Sie sind wohl ganz ins Gackern hineingekommen, mein Herr, wie? Haben Sie auch nicht in Ihrem Lepartement“ (so!) „den Verstand verloren?“

„Genug, meine Herren, genug!“ rief Swerkow im Tone des unbestrittenen Gebieters.

„Wie dumm das Gerede ist!“ brummte Simonow.

„Wahrhaftig, es ist dumm; wir sind hier als eine Gesellschaft von Freunden zusammengekommen, um mit einem guten Freunde vor seiner Abreise eine Abschiedsfeier zu begehen, und da fangen Sie Streit an!“ sagte Trudoljubow, sich in grobem Tone an mich allein wendend. „Sie haben sich uns gestern selbst aufgedrängt; stören Sie nun nicht die allgemeine Harmonie …“

„Genug, genug!“ rief Swerkow. „Hören Sie auf, meine Herren; das schickt sich wirklich nicht. Da will ich Ihnen lieber erzählen, wie ich mich vorgestern beinahe verheiratet hätte …“

Und nun folgte eine satirische Erzählung, wie dieser Herr sich vor zwei Tagen beinahe verheiratet hätte. Von der Heirat sagte er übrigens kein Wort; aber in der Erzählung wimmelte es von Generälen, Obersten und sogar von Kammerjunkern, und Swerkow war unter ihnen fast die Hauptperson. Es erhob sich ein beifälliges Gelächter; Ferfitschkin kreischte sogar vor Vergnügen.

Alle ließen mich unbeachtet, und ich saß mundtot gemacht und gedemütigt da.

„Mein Gott, ist das eine Gesellschaft für mich!“ dachte ich. „Und als was für einen Dummkopf habe ich mich ihnen gezeigt! Diesem Ferfitschkin habe ich aber doch zu viel erlaubt. Sie denken, die Tölpel, sie hätte mir eine Ehre damit erwiesen, daß sie mir einen Platz an ihrem Tische eingeräumt haben, und begreifen nicht, daß ich, ich es bin, der ihnen eine Ehre erweist, und nicht sie mir! ‚Mager geworden! Anzug!‘ Ach, die verfluchten Hosen! Swerkow hat vorhin gleich den gelben Fleck an meinem Knie bemerkt … Aber was soll ich hier noch? Ich will sofort, diesen Augenblick vom Tische aufstehen, meinen Hut nehmen und einfach weggehen, ohne ein Wort zu sagen … Aus Verachtung! Morgen aber kann ich sie ja meinetwegen zum Duell fordern. Die Schufte! Die sieben Rubel sollen mir nicht leid tun. Am Ende denken sie … Hol´s der Teufel! Die sieben Rubel tun mir nicht leid! Diesen Augenblick gehe ich fort! …“

Natürlich blieb ich da.

Ich trank vor Verdruß Lafitte und Sherry, immer ganze Gläser voll. Da ich das nicht gewohnt war, wurde ich schnell betrunken, und mit der Trunkenheit wuchs auch mein Ärger. Ich bekam auf einmal Lust, sie alle in der dreistesten Weise zu beleidigen und dann sogleich wegzugehen. „Ich will den richtigen Augenblick abpassen und ihnen dann zeigen, wen sie vor sich haben; dann mögen sie sagen: ‚Er ist zwar ein komischer, aber ein kluger Mensch‘, … und … und … kurz, hol sie der Teufel!“

Ich ließ meine trüb gewordenen Augen in frecher Manier bei ihnen allen herumgehen. Aber sie taten, als hätten sie mich vollständig vergessen. Bei ihnen war viel Lärm, Geschrei und Lustigkeit. Das Wort führte immer Swerkow. Ich begann zuzuhören. Swerkow erzählte von einer schönen, stolzen Dame, die er schließlich dahin gebracht habe, ihm ihre Liebe zu gestehen (natürlich log er pferdemäßig); besonders behilflich sei ihm bei dieser Affäre sein intimer Freund Kolja gewesen, ein Fürst, Husarenoffizier, Besitzer von dreitausend Seelen.

„Dabei existiert dieser Kolja, der Besitzer von dreitausend Seelen, überhaupt nicht; er schwindelt Ihnen etwas vor“, warf ich plötzlich dazwischen.

Eine kleine Weile waren alle stumm.

„Sie sind schon jetzt betrunken“, äußerte endlich Trudoljubow, indem er sich dazu herbeiließ, mich zu bemerken, und verächtlich einen schrägen Blick nach meiner Seite zu warf. Swerkow betrachtete mich schweigend wie einen merkwürdigen Käfer. Ich schlug die Augen nieder. Simonow goß mit möglichster Beschleunigung Champagner in die Gläser.

Trudoljubow hob sein Glas in die Höhe, und nach ihm taten dies alle, außer mir.

„Auf deine Gesundheit und auf eine glückliche Reise!“ rief er Swerkow zu. „Auf die alten Jahre unserer Freundschaft, meine Herren, und auf unsere Zukunft! Hurra!“

Alle tranken aus und drängten sich dann um Swerkow, um ihn zu küssen. Ich rührte mich nicht; das volle Glas stand vor mir, ohne daß ich es erhoben hätte.

„Werden Sie denn nicht trinken?“ brüllte Trudoljubow, der die Geduld verloren hatte und sich drohend zu mir wandte.

„Ich will selbst einen Toast ausbringen, einen eigenen Toast … und dann werde ich austrinken, Herr Trudoljubow.“

„Ein gräßliches Subjekt!“ brummte Simonow.

Ich richtete mich auf meinem Stuhle gerade und ergriff in fieberhafter Aufregung das Glas; ich bereitete mich darauf vor, etwa Ungewöhnliches zu sagen, wußte aber selbst noch nicht, was ich eigentlich sagen würde.

„Silence!“ rief Ferfitschkin. „Jetzt kommt etwas Kluges!“

Swerkow wartete mit sehr ernster Miene; er begriff, wie die Sache stand.

„Herr Leutnant Swerkow“, begann ich, „lassen Sie sich sagen, daß ich die Phrasen und die Phrasenhelden und die geschnürten Taillen hasse … Das ist der erste Punkt; auf diesen folgt der zweite.“

Alle gerieten in unruhige Bewegung. „Zweiter Punkt: Ich hasse die leichtfertigen Weiber und die Schürzenjäger. Und besonders die Schürzenjäger! Dritter Punkt: Ich liebe die Wahrheit und die Aufrichtigkeit und die Ehrenhaftigkeit“, fuhr ich fast mechanisch fort; denn ich selbst begann schon, vor Schreck starr zu werden, da ich gar nicht begriff, wie ich das alles so hinredete. „Ich liebe den Gedanken, Monsieur Swerkow; ich liebe die wahre Kameradschaftlichkeit auf gleichem Fuße, nicht … hm … Ich liebe … Indes, warum nicht? Auch ich werde auf Ihre Gesundheit trinken, Monsieur Swerkow. Verfuhren Sie Tscherkessinnen, erschießen Sie die Feinde des Vaterlandes, und … und … Auf Ihre Gesundheit, Monsieur Swerkow!“

Swerkow erhob sich von seinem Stuhle, machte mir eine Verbeugung und sagte: „Ich danke Ihnen sehr.“

Er war furchtbar beleidigt und war sogar ganz blaß geworden.

„Hol´s der Teufel!“ brüllte Trudoljubow und schlug mit der Faust auf den Tisch.

„Nein, für so etwas haut man einem eins in die Fresse!“ kreischte Ferfitschkin.

„Hinausjagen muß man ihn!“ brummte Simonow.

„Kein Wort, meine Herren, keine Gebärde!“ rief Swerkow feierlich und hemmte dadurch die allgemeine Entrüstung. „Ich danke Ihnen allen; aber ich werde selbst verstehen, ihm zu zeigen, wie ich seine Worte schätze.“

„Herr Ferfitschkin, gleich morgen werden Sie mir Genugtuung für die soeben von Ihnen gesprochenen Worte geben!“ sagte ich laut, mich würdevoll zu Ferfitschkin wendend.

„Sie meinen ein Duell? Wie es Ihnen beliebt“, antwortete dieser; aber wahrscheinlich kam meine Herausforderung so komisch heraus und paßte so wenig zu meiner Figur, daß alle, darunter zuletzt auch Ferfitschkin sich nur so schüttelten vor Lachen.

„Na, wir wollen uns nicht um ihn kümmern! Er ist ja schon vollständig betrunken!“ sagte Trudoljubow mit einer Miene des Ekels.

„Ich werde es mir nie verzeihen, daß ich ihn habe teilnehmen lassen!“ brummte Simonow wieder.

„Jetzt sollte ich ihnen allen ein paar Flaschen an die Köpfe werfen“, dachte ich, ergriff eine Flasche und … goß mir ein ganzes Glas ein.

„Nein, ich will lieber bis zum Schlusse sitzenbleiben!“ dachte ich weiter. „Sie würden sich nur darüber freuen, meine Herren, wenn ich wegginge. Um keinen Preis. Ich werde absichtlich bis zum Schlusse sitzenbleiben und trinken, zum Zeichen meiner völligen Geringschätzung Ihrer Personen. Ich werde sitzenbleiben und trinken; denn hier ist eine Schenke, und ich bezahle mein Geld. Ich werde sitzenbleiben und trinken, weil ich Sie für Nullen erachte, für Menschen, die gar nicht existieren. Ich werde sitzenbleiben und trinken … und auch singen, wenn ich Lust habe, ja, auch singen; denn dazu habe ich das Recht … zum Singen … hm!“

Aber ich sang nicht. Ich gab mir nur Mühe, keinen von ihnen anzusehen; ich nahm die ungeniertesten Haltungen ein und wartete mit Ungeduld auf den Moment, wo sie selbst, als erste, anfangen würden, mit mir zu sprechen. Aber leider fingen sie nicht an. Und wie sehr, wie sehr wünschte ich in diesem Augenblicke, mich mit ihnen zu versöhnen! Es schlug acht, endlich auch neun. Sie gingen vom Tische zum Sofa hinüber. Swerkow streckte sich auf das Polster hin und legte das eine Bein auf ein rundes Tischchen. Dorthin wurde auch der Wein gebracht. Er ponierte ihnen wirklich drei Flaschen. Mich lud er natürlich nicht dazu ein. Alle setzten sich um ihn, wie er da auf dem Sofa lag, herum. Sie hörten ihm beinah mit andächtiger Verehrung zu. Es war zu sehen, daß sie ihn wirklich gern hatten. „Warum nur? Warum nur?“ dachte ich im stillen. Mitunter gerieten sie in einen trunkenen Enthusiasmus und küßten einander. Sie redeten vom Kaukasus und worin die wahre Leidenschaft bestehe und vom Galbik [Ein Kartenspiel (A. d. Ü.)] und von vorteilhaften Dienststellen und wieviel Einkünfte der Husarenoffizier Podcharschewski habe, den keiner von ihnen persönlich kannte (sie freuten sich über die Höhe seiner Einkünfte), und über die außerordentliche Schönheit und Anmut der Fürstin D***a, die ebenfalls keiner von ihnen jemals gesehen hatte; zuletzt sprachen sie sich dahin aus, daß Shakespeare unsterblich sei.

Ich lächelte geringschätzig und ging auf der anderen Seite des Zimmers, dem Sofa gerade gegenüber, an der Wand entlang hin und her: vom Tische bis zum Ofen und wieder zurück. Ich wollte ihnen mit Gewalt zeigen, daß ich sie nicht nötig hätte; aber dabei trat ich absichtlich mit den Hacken auf und stampfte tüchtig. Aber es war alles vergeblich. Sie wandten mir keine Aufmerksamkeit zu. Ich hatte die Geduld, in dieser Weise gerade vor ihnen von acht bis elf Uhr auf und ab zu gehen, immer an ein und derselben Stelle: vom Tische bis zum Ofen und vom Ofen wieder bis zum Tische.

„Das ist nun eben so mein Wille, und niemand kann es mir verbieten.“ Mehrmals blieb der Kellner, wenn er hereinkam, stehen, um nach mir hinzusehen; von dem häufigen Umwenden war mir der Kopf schwindlig; zeitweilig glaubte ich im Fieberdelirium befangen zu sein. Innerhalb dieser drei Stunden schwitzte ich dreimal und wurde dreimal wieder trocken. Manchmal drang mit tiefstem, ätzendem Schmerze in mein Herz der Gedanke ein, daß zehn Jahre, zwanzig Jahre, vierzig Jahre vergehen würden und ich immer noch, selbst noch nach vierzig Jahren, mit einem Gefühle des Ekels und der Scham an diese unwürdigsten, lächerlichsten und schrecklichsten Augenblicke meines ganzen Lebens zurückdenken würde. In einer gewissenloseren, freiwilligeren Weise sich selbst zu erniedrigen, war ein Ding der Unmöglichkeit; ich begriff das vollständig, jawohl, und fuhr dennoch fort, vom Tische bis zum Ofen und wieder zurück zu gehen. „Oh, wenn ihr nur wüßtet, welcher Gefühle und Gedanken ich fähig bin und welchen hohen Grad geistiger Entwicklung ich erreicht habe!“ dachte ich in einzelnen Augenblicken, indem ich mich in Gedanken nach dem Sofa wandte, wo meine Feinde saßen. Aber meine Feinde benahmen sich so, als ob ich gar nicht im Zimmer wäre. Einmal, nur ein einziges Mal wandten sie sich zu mir, nämlich als Swerkow von Shakespeare zu reden anfing und ich plötzlich verächtlich auflachte. Ich prustete in einer so gemachten, häßlichen Weise los, daß sie alle mit einem Male ihr Gespräch unterbrachen und schweigend, ernsthaft und ohne zu lachen mich etwa zwei Minuten lang beobachteten, wie ich an der Wand hin und her ging, vom Tische bis zum Ofen, und „ihnen keinerlei Beachtung schenkte“. Aber weitere Folgen hatte das nicht: Sie redeten mich nicht an und kümmerten sich nach den zwei Minuten wieder nicht mehr um mich. Es schlug elf.

„Meine Herren!“ rief Swerkow, sich vom Sofa erhebend. „Jetzt wollen wir alle dorthin!“

„Natürlich, natürlich!“ antworteten die andern.

Ich drehte mich mit einer kurzen Wendung zu Swerkow hin. Ich war dermaßen zerbrochen und zermartert, daß ich diesen Zustand selbst um den Preis meines Lebens beenden mußte. Ich fieberte; meine vom Schweiße durchnäßten Haare waren an der Stirn und an den Schläfen festgetrocknet.

„Swerkow, ich bitte Sie um Verzeihung“, sagte ich in scharfem, entschlossenem Tone. „Ferfitschkin, und Sie auch, und Sie alle, Sie alle; ich habe Sie alle beleidigt!“

„Aha! Das Duell ist ihm doch unbehaglich!“ zischelte Ferfitschkin boshaft.

Ich fühlte einen scharfen Schmerz am Herzen.

„Nein, ich fürchte mich nicht vor dem Duell, Ferfitschkin! Ich bin bereit, mich gleich morgen mit Ihnen zu duellieren, aber erst nach der Versöhnung. Ich bestehe sogar auf dem Duell, und Sie können es mir nicht abschlagen. Ich will Ihnen beweisen, daß ich mich nicht vor dem Duell fürchte. Sie sollen den ersten Schuß haben; ich aber werde in die Luft schießen.“

„Er will sich selbst trösten!“ bemerkte Simonow.

„Er kneift einfach!“ fügte Trudoljubow hinzu.

„So lassen Sie einen doch vorbeigehen; warum stellen Sie sich einem denn in den Weg? … Na, was wollen Sie noch?“ fragte Swerkow verächtlich.

Sie hatten sämtlich rote Köpfe und ihre Augen glänzten: Sie hatten viel getrunken.

„Ich bitte Sie um Ihre Freundschaft, Swerkow; ich habe Sie beleidigt, aber …“

„Beleidigt? Sie mich? Lassen Sie sich sagen, mein Herr, daß Sie nie und unter keinen Umständen mich beleidigen können.“

„Nun haben wir uns aber lange genug mit Ihnen aufgehalten; scheren Sie sich weg!“ fügte Trudoljubow hinzu. „Wir wollen fahren.“

„Aber Olimpija bekomme ich, meine Herren; das ist meine Bedingung!“ rief Swerkow.

„Wir machen sie dir nicht streitig, nein, nein!“ antworteten die andern lachend.

Ich stand blamiert da. Lärmend verließ die Rotte das Zimmer; Trudoljubow stimmte irgendein dummes Lied an. Simonow blieb noch einen Augenblick zurück, um den Kellnern ein Trinkgeld zu geben. Ich trat plötzlich an ihn heran.

„Simonow, geben Sie mir sechs Rubel!“ sagte ich in entschlossenem, verzweifeltem Tone.

Er sah mich höchst erstaunt mit stumpfsinnigen Augen an. Auch er war betrunken.

„Wollen Sie denn etwa auch dorthin mit uns mit?“

„Ja.“

„Ich habe kein Geld!“ antwortete er kurz, lächelte verächtlich und wollte aus dem Zimmer gehen.

Ich ergriff ihn am Mantel. Ich hatte eine Empfindung, als ob mich ein schwerer Traum bedrückte.

„Simonow, ich habe gesehen, daß Sie Geld haben; warum schlagen Sie es mir ab? Bin ich denn ein Schuft? Hüten Sie sich, es mir abzuschlagen: Wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten, zu welchem Zwecke ich Sie darum bitte! Es hängt davon alles ab, meine ganze Zukunft, alle meine Pläne …“

Simonow holte das Geld heraus und warf es mir beinahe hin.

„Nehmen Sie, wenn Sie sich nicht schämen!“ sagte er mitleidlos und lief davon, um die andern einzuholen.

Ich blieb einen Augenblick allein. Unordnung, Speisereste, ein zerschlagenes Glas auf dem Fußboden, verschütteter Wein, Zigarettenstümpfe, Berauschtheit und Fieberhitze im Kopfe, quälendes Leid im Herzen und schließlich der Kellner, der alles mit angesehen und mit angehört hatte und mir nun neugierig ins Gesicht blickte.

„Dorthin!“ rief ich. „Entweder werden sie alle vor mir auf die Knie fallen, meine Füße umfassen und mich um meine Freundschaft anflehen, oder … oder ich werde diesem Swerkow eine Ohrfeige geben!“