vii
„Ach, nicht doch, Lisa; wie kannst du nur von einem Buche reden, während doch ich selbst als Fernstehender hier ein Gefühl des Ekels habe. Übrigens bin ich eigentlich kein Fernstehender. All diese Vorstellungen sind jetzt wirklich in meiner Seele erwacht … Hast du selbst denn hier nicht ein Gefühl des Ekels? Nein, da sieht man, daß die Gewohnheit viel vermag! Weiß der Teufel, was die Gewohnheit aus einem Menschen machen kann. Und glaubst du wirklich im Ernst, daß du niemals altern, sondern lebenslänglich hübsch bleiben wirst und man dich hier in alle Ewigkeit behalten wird? Ich rede gar nicht einmal davon, daß es hier greulich ist … Indessen, eines möchte ich dir doch darüber sagen, ich meine über dein jetziges Leben: jetzt bist du jung, nett, hübsch, voll Gemüt und Gefühl; na, aber weiß du wohl, daß ich, als ich vorhin wieder zu mir kam, sogleich ein Gefühl des Ekels darüber empfand, hier mit dir zusammen zu sein? Man kann ja doch nur in betrunkenem Zustande hierher geraten. Wärest du aber an einem andern Orte und lebtest du so, wie ordentliche Leute leben, dann würde ich, ich sage nicht: dir den Hof machen, sondern mich vielleicht einfach in dich verlieben und mich über jedes Wort, ja über jeden Blick von dir freuen; beim Haustore würde ich auf dich passen und vor dir auf die Knie fallen; ich würde mich um deine Hand bewerben und es für eine Ehre halten, wenn mir dieselbe zuteil würde. Ich würde es nicht wagen, etwas Unreines von dir zu denken. Hier aber weiß ich ja, daß ich nur zu pfeifen brauche, dann kommst du zu mir, ob du willst oder nicht, und ich frage dann nicht nach deinem Willen, sondern du nach dem meinigen. Wenn der geringste Mann aus dem niederen Volke sich als Arbeiter verdingt, so begibt er sich doch nicht vollständig in die Sklaverei und weiß auch, daß er zu einem bestimmten Termine wieder frei wird. Aber du, wo hast du einen solchen Termin? Und was verkaufst du in die Sklaverei? Deine Seele, deine Seele, über die du gar nicht einmal zu verfügen berechtigt bist, mitsamt dem Körper! Deine Liebe gibst du jedem Trunkenbolde zur Beschimpfung hin! Deine Liebe! Und das ist ja doch das gesamte Eigentum eines Mädchens, sein Edelstein, sein Schatz, die Liebe. Um diese Liebe zu erringen, ist mancher bereit, sein Leben hinzugeben, in den Tod zu gehen. Aber wie hoch wird deine Liebe hier eingeschätzt? Du bist ja ganz käuflich, mit Haut und Haar; wozu soll da einer erst nach deiner Liebe trachten, wenn er auch ohne Liebe alles erreichen kann? Eine größere Beleidigung kann es ja aber für ein Mädchen gar nicht geben, verstehst du das? Da habe ich nun gehört, man suche euch Närrinnen dadurch zu trösten, daß man euch erlaubt, euch hier Liebhaber zu halten. Aber das ist ja doch nur eine Spielerei, nur ein Betrug, nur Spott über euch; und ihr glaubt, ihr hättet daran wirklich etwas! Wie? Liebt er dich etwa wirklich, dein Liebhaber? Ich kann‘s nicht glauben. Wie wird er dich lieben, wenn er weiß, daß man dich jeden Augenblick von ihm wegrufen kann? Wenn er sich darein fügt, muß er ein grundgemeiner Mensch sein! Hat er auch nur eine Spur von Achtung vor dir? Was hast du mit ihm gemein? Er macht sich über dich lustig und bestiehlt dich; das ist seine ganze Liebe! Du kannst noch froh sein, wenn er dich nicht schlägt. Aber vielleicht schlägt er dich auch. Frage ihn doch mal, wenn du einen solchen Liebhaber hast, ob er dich heiraten wird. Er wird dir ins Gesicht lachen, wenn er dich nicht anspuckt oder prügelt; und dabei ist er selbst vielleicht nicht einen zerbrochenen Groschen wert. Und was meinst du, für welchen Lohn hast du hier dein Leben zugrunde gerichtet? Dafür, daß man dir Kaffee zu trinken und satt zu essen gibt? Aber zu welchem Zwecke gibt man dir satt zu essen? Ein anderes, ehrenhaftes Mädchen würde keinen solchen Bissen herunterbringen, weil es weiß, wozu es gefüttert wird. Du bist hier deiner Wirtin Geld schuldig, und so wird das immer sein, bis zum letzten Ende, bis zu der Zeit, wo die Besucher anfangen werden, dich zu verschmähen. Und diese Zeit wird schnell herankommen; vertraue nicht auf deine Jugend! Hier geht es ja damit im Galopp. Dann wird deine Wirtin dich hinauswerfen. Und sie wird dich nicht einfach hinauswerfen, sondern vorher lange mit dir herumzanken, dir Vorwürfe machen, dich ausschimpfen, als ob du nicht deine Gesundheit ihr zum Opfer gebracht und deine Jugend und deine Seele für sie zugrunde gerichtet, sondern vielmehr sie um ihre Habe gebracht, sie zur Bettlerin gemacht, sie bestohlen hättest. Und hoffe nicht, daß dir jemand beistehen werde: die andern Mädchen, deine Kameradinnen, werden ebenfalls über dich herfallen, um sich der Wirtin gefällig zu zeigen; denn hier befinden sich alle im Zustande der Sklaverei und haben längst alles Gewissen und Mitleid verloren. Sie sind zur tiefsten Stufe der Nichtswürdigkeit herabgesunken, und es gibt auf der Welt keine garstigeren, gemeineren, kränkenderen Schimpfreden als die, die du dann von ihnen zu hören bekommen wirst. Und alles wirst du hier opfern, alles ohne Ausnahme: deine Gesundheit und deine Jugend und deine Schönheit und deine Hoffnungen, und wirst im Alter von zweiundzwanzig Jahren wie eine Fünfunddreißigjährige aussehen und noch froh sein können und Gott danken müssen, wenn du nicht krank bist. Du denkst jetzt wohl, hier habest du keine Arbeit und könnest ein bequemes Leben fuhren. Aber eine schwerere Zuchthausarbeit hat es auf der ganzen Welt nie gegeben. Ich glaube, das ganze Herz müßte in Tränen zergehen. Und kein Wort darfst du zu sagen wagen, keine Silbe, wenn du von hier weggejagt wirst; du wirst weggehen wie eine Schuldbeladene. Du wirst in ein anderes Haus gehen, dann in ein drittes, dann noch irgendwohin und wirst zuletzt auf dem Heumarkte anlangen. Dort aber wirst du fortwährend geprügelt werden; das ist dort die liebenswürdige Form des Verkehrs; dort versteht der Besucher es gar nicht, zärtlich zu sein, wenn er das Mädchen nicht vorher geprügelt hat. Du glaubst vielleicht nicht, daß es da so häßlich zugeht? Geh einmal hin und paß auf; vielleicht wirst du es mit deinen eigenen Augen zu sehen bekommen. Ich habe dort einmal am Neujahrstage ein Mädchen an der Tür gesehen. Ihre Hausgenossen warfen sie zum Spott hinaus, damit sie ein bißchen durchfrieren sollte, weil sie gar zu sehr geheult hatte; und die Tür machten sie hinter ihr zu. Um neun Uhr morgens war sie schon vollständig betrunken, zerzaust, halbnackt, ganz zerprügelt. Ihr Gesicht war weiß geschminkt; aber die Augen lagen in schwarzen Beulen, und aus Mund und Nase lief ihr das Blut; irgendein Droschkenkutscher hatte soeben sein Mütchen an ihr gekühlt. Sie setzte sich auf die Steinstufen; in der Hand hatte sie einen Salzfisch; sie heulte, jammerte über ihr ‚trauriges Schicksal‘ und schlug mit dem Fisch auf die Stufen. Um sie herum drängten sich Droschkenkutscher und betrunkene Soldaten und hänselten sie. Du glaubst nicht, daß auch du einmal eine ebensolche werden wirst? Auch ich würde es nicht glauben wollen; aber woher weißt du es: vielleicht war zehn, acht Jahre vorher dieses selbe Mädchen mit dem Salzfisch von irgendwo hierher gekommen, frisch und unschuldig und rein wie ein Engel Gottes; sie wußte von nichts Schlechtem und errötete über jedes arge Wort. Vielleicht war sie von gleicher Art wie du, stolz, empfindlich, den anderen unähnlich; sie sah wie eine Königin aus und wußte selbst, welch ein hohes Glück denjenigen erwartete, der sie liebgewinnen und dessen Liebe sie erwidern würde. Und siehst du nun, womit es geendet hat? Wie? Wenn ihr nun gerade in dem Augenblicke, als sie mit diesem Fische auf die schmutzigen Stufen schlug, betrunken und zerzaust, wenn ihr in diesem Augenblicke all ihre früheren reinen Jahre im Vaterhause ins Gedächtnis kamen, als sie noch zur Schule ging und der Nachbarsohn sie auf dem Wege erwartete und ihr beteuerte, daß er sie sein ganzes Leben lang lieben und ihr sein Dasein widmen werde, und als sie miteinander verabredeten, einander lebenslänglich zu lieben und sich zu heiraten, sobald sie groß geworden sein würden! Nein, Lisa, es wird noch ein Glück, ein wahres Glück für dich sein, wenn du dort irgendwo in einem Winkel im Kellergeschoß möglichst bald an der Schwindsucht stirbst, wie das Mädchen von gestern. Du sagst, ein Mädchen müsse sich ins Krankenhaus bringen lassen. Gut, wenn man sie dahin bringt; aber wenn die Wirtin sie nun noch brauchen kann? Die Schwindsucht ist eine solche Krankheit; das ist kein hitziges Fieber. Dabei hofft der Mensch, noch bis zum letzten Augenblicke und sagt, er sei gesund; er tröstet sich selbst. Aber für die Wirtin ist das gerade vorteilhaft. Du kannst sicher sein, es ist so; du hast ja deine Seele verkauft, und der Wirtin bist du überdies Geld schuldig; also darfst du nicht einmal mucksen. Wenn du aber im Sterben liegst, kümmert sich kein Mensch mehr um dich; alle wenden sich von dir ab; denn was können sie von dir noch für Nutzen haben? Sie machen dir noch Vorwürfe, daß du unnütz einen Platz einnimmst und nicht schnell genug stirbst. Wenn du trinken willst, kannst du lange bitten, und sie reichen dir nur mit Schimpfworten etwas: ‚Wann wirst du denn endlich krepieren, du Aas; du störst uns im Schlafe; die Besucher werden verdrießlich.‘ Das ist zuverlässig so; ich habe solche Reden selbst gehört. Wenn du im Verscheiden bist, stecken sie dich in den unsaubersten Winkel der Kellerwohnung, wo es dunkel und feucht ist; welches werden dann deine Gedanken sein, wenn du da so allein liegst? Sobald du gestorben bist, läßt man die Leiche eilig unter ungeduldigem Gebrumm von fremden Händen zurechtmachen; niemand segnet dich, niemand seufzt um dich; sie möchten dich nur so schnell wie möglich loswerden. Als Sarg kaufen sie einen ausgehöhlten Baumstamm und tragen dich hinaus, wie sie gestern jenes arme Mädchen hinausgetragen haben, und gehen zum Gedächtnistrinken in die Schenke. Im Grabe ist schlackriger, ekelhafter Schmutz und nasser Schnee; die Leute werden sich doch um deinetwillen nicht erst Umstände machen? ‚Laß sie runter, Iwan; na, nu sieh mal an, so ‘ne Geschichte: auch hier geht sie mit den Beinen nach oben, so ‘n Frauenzimmer! Faß doch die Stricke kürzer, Schlingel!‘ — ‚Es geht auch so.‘ — ‚Was heißt: geht auch so? Sie liegt ja auf der Seite. Sie ist doch auch ein Mensch gewesen; oder meinst du nicht? Na, dann ist‘s gut; schütte zu!‘ Nicht einmal schimpfen mögen sie sich um deinetwillen lange. Sie schütten das Grab so schnell wie möglich mit der nassen, bläulichen Lehmerde zu und gehen dann in die Schenke … Damit hat dein Andenken auf Erden ein Ende; zu anderen kommen die Kinder, die Väter, die Ehemänner ans Grab; aber an deinem Grabe fließt keine Träne, ertönt kein Seufzer, gedenkt deiner niemand. Kein Mensch, kein Mensch auf der ganzen Welt kommt jemals zu dir; dein Name verschwindet von dem Antlitze der Erde, gerade als wärest du überhaupt nicht dagewesen, als wärest du nie geboren! In Schmutz und Sumpf liegst du da, magst du auch nachts, wenn die Toten aufstehen, an den Sargdeckel pochen und rufen: ‚Laßt mich noch einmal auf die Welt, ihr guten Leute, damit ich noch ein bißchen lebe! Ich habe gelebt, ohne von meinem Leben etwas gehabt zu haben; mein Leben war ein elendes, klägliches; in einer Schenke am Heumarkt ist die Gedächtnisfeier begangen worden; laßt mich noch einmal ein bißchen auf der Erde leben, ihr guten Leute!“
Ich war dermaßen in eine pathetische Redeweise hineingeraten, daß ich einen Kehlkrampf herannahen fühlte, und … auf einmal hielt ich inne, richtete mich erschrocken halb auf und begann mit ängstlich geneigtem Kopfe und stark pochendem Herzen zu lauschen. Und zur Aufregung hatte ich allen Grund.
Schon lange hatte ich geahnt, daß ich ihr die ganze Seele umkehrte und ihr das Herz zerriß, und je sicherer mir diese Vermutung wurde, um so mehr wünschte ich, mein Ziel möglichst schnell und möglichst vollständig zu erreichen. Das Spiel, das ich trieb, riß mich hin; übrigens war es nicht ein bloßes Spiel.
Ich wußte, daß ich steif, gekünstelt, ja mit einem Worte buchmäßig redete, und ich verstand auch gar nicht anders zu reden als „wie aus einem Buche“. Aber das setzte mich nicht in Verlegenheit; ich wußte ja, ich fühlte, daß ich verstanden wurde, und daß gerade diese buchmäßige Ausdrucksweise der Sache noch förderlich sein konnte. Aber jetzt, wo ich die Wirkung erzielt hatte, wurde ich auf einmal ängstlich. Nein, noch nie, noch nie in meinem Leben war ich Zeuge einer solchen Verzweiflung gewesen! Sie lag mit dem Gesichte nach unten, drückte es fest in das Kissen und umfaßte dieses mit beiden Armen. Die Brust wollte ihr zerspringen. Ihr ganzer junger Leib zuckte wie in Krämpfen. Das in der Brust zusammengepreßte Schluchzen beengte diese, zerriß sie und bahnte sich plötzlich in Jammerlauten und Geschrei einen Ausgang. Da drückte sie sich noch fester gegen das Kissen: sie wollte, daß niemand hier, keine lebende Seele von ihrer Qual und von ihren Tränen etwas merkte. Sie biß in das Kissen, biß sich den Arm blutig (das sah ich nachher), krallte sich mit den Fingern in ihre aufgelösten Haarflechten, hielt den Atem an, preßte die Zähne aufeinander und wurde ganz starr vor übermäßiger Anstrengung. Ich wollte etwas zu ihr sagen; ich bat sie, sich zu beruhigen; aber ich fühlte, daß ich das nicht durfte; selbst am ganzen Leibe von einem Fieberschauder geschüttelt und beinah von Entsetzen gepackt, sprang ich plötzlich auf und begann tastend, so gut es ging, mich zum Weggehen fertigzumachen. Es war dunkel; so sehr ich mich auch bemühte, konnte ich damit doch nicht so schnell zustande kommen. Auf einmal fand ich beim Herumfühlen ein Streichholzschächtelchen und einen Leuchter mit einem ganzen, noch nicht angezündet gewesenen Lichte. Sowie das Zimmer hell wurde, sprang Lisa plötzlich vom Bette auf, setzte sich hin und sah mich mit ganz entstelltem Gesichte, mit einem halbwahnsinnigen Lächeln wie von Sinnen an. Ich setzte mich neben sie und ergriff ihre Hände; sie kam wieder zu sich, machte eine Bewegung zu mir hin, als ob sie mich umarmen wollte, wagte es aber doch nicht und ließ leise den Kopf vor mir sinken.
„Lisa, liebes Kind, ich habe unrecht getan … verzeih mir“, begann ich; aber der kräftige Druck, mit dem sie meine Hände zwischen ihren Fingern zusammenpreßte, ließ mich erraten, daß meine Worte unangebracht waren, und ich schwieg.
„Da hast du meine Adresse, Lisa; komm zu mir!“
„Ja, ich werde kommen …“, flüsterte sie in festem Tone; aber den Kopf hob sie immer noch nicht in die Höhe.
„Jetzt aber werde ich weggehen; lebe wohl … auf Wiedersehen!“
Ich stand auf, und sie erhob sich ebenfalls; auf einmal aber errötete sie über das ganze Gesicht, zuckte zusammen, ergriff ihr Tuch, das auf einem Stuhle lag und schlug es um Schultern und Brust bis ans Kinn hinauf. Nachdem sie das getan hatte, lächelte sie wieder in einer schmerzlichen Weise, errötete und sah mich seltsam an. Mir war weh ums Herz; ich hatte es eilig, wegzugehen und zu verschwinden.
„Warten Sie einen Augenblick!“ sagte sie plötzlich, als wir schon auf dem Flur dicht bei der Tür waren, hielt mich mit der Hand am Mantel zurück, stellte hastig das Licht hin und lief fort; offenbar war ihr etwas eingefallen, und sie wollte etwas holen, um es mir zu zeigen. Als sie weglief, war sie wieder ganz rot geworden, ihre Augen glänzten, auf ihren Lippen zeigte sich ein Lächeln: was mochte sie nur haben? Ich wartete in unwillkürlicher Spannung. Eine Minute darauf kehrte sie wieder zurück mit einem Blicke, der für etwas um Verzeihung zu bitten schien. Überhaupt war das nicht mehr jenes Gesicht und jener Blick wie am Anfang: finster, mißtrauisch und starr. Ihr Blick war jetzt bittend, weich und zugleich zutraulich, freundlich und schüchtern. So blicken Kinder jemanden an, den sie sehr liebhaben und den sie um etwas bitten. Sie hatte hellbraune Augen, schöne, lebhafte Augen, die es verstanden, sowohl Liebe als auch finsteren Haß widerzuspiegeln.
Ohne mir eine Erklärung zu geben, als ob ich wie ein höheres Wesen alles auch ohne Erklärungen verstehen müßte, hielt sie mir ein Blatt Papier hin. Ihr ganzes Gesicht strahlte in diesem Augenblicke nur so auf in einem überaus naiven, fast kindlichen Gefühle des Triumphes. Ich faltete das Blatt auseinander. Es war ein Brief, den ein Student der Medizin oder etwas Ähnliches an sie gerichtet hatte, eine sehr schwülstige, blumenreiche, aber außerordentlich respektvolle Liebeserklärung. Ich habe die einzelnen Ausdrücke jetzt nicht mehr im Gedächtnisse; aber ich erinnere mich noch sehr gut, daß durch die hochtrabenden Wendungen ein echtes Gefühl hindurchblickte, das sich nicht fingieren läßt. Als ich zu Ende gelesen hatte, begegnete ich ihrem auf mich gerichteten heißen, gespannten, kindlich ungeduldigen Blicke. Sie hing mit den Augen ordentlich an meinem Gesichte und wartete ungeduldig, was ich sagen würde. Mit wenigen Worten und eilig, aber mit einer Art von freudigem Stolze sagte sie mir zur Erklärung, sie sei irgendwo auf einem Tanzabend gewesen, in einer Familie, „bei sehr, sehr guten Leuten, in einer Familie, und wo sie noch nichts, gar nichts wissen“; denn sie sei ja auch hier erst seit kurzem und nur so vorläufig und hätte sich überhaupt noch nicht dazu entschlossen, da zu bleiben, und werde unbedingt weggehen, sowie sie ihre Schuld werde abbezahlt haben … Na, und da sei denn auch dieser Student gewesen und habe den ganzen Abend mit ihr getanzt und geredet, und es habe sich herausgestellt, daß er ebenfalls aus Riga stammte und schon als kleiner Knabe mit ihr bekannt gewesen war, und daß sie miteinander gespielt hatten; nur sei das schon sehr lange her; und er kenne auch ihre Eltern; aber „davon“ wisse er nichts, nichts, nichts und argwöhne auch nichts! Und am Tage nach der Tanzgesellschaft (das heißt, vor drei Tagen) habe er ihr durch ihre Freundin, mit der sie zu der Gesellschaft gegangen sei, diesen Brief geschickt … und … na, das sei alles. Sie schlug wie verschämt ihre leuchtenden Augen nieder, als sie mit ihrer Erzählung fertig war.
Die Ärmste, sie bewahrte den Brief dieses Studenten wie eine Kostbarkeit auf und war hingelaufen, um diese ihre einzige Kostbarkeit zu holen, weil sie nicht wollte, daß ich wegginge, ohne erfahren zu haben, daß auch sie ehrenhaft und aufrichtig geliebt werde und jemand mit ihr respektvoll rede. Gewiß ist es diesem Briefe beschieden, für immer in der Schatulle ohne weitere Folgen zu liegen. Aber wenn auch; ich bin überzeugt, daß sie ihn ihr ganzes Leben lang wie eine Kostbarkeit aufbewahren wird, wie ihren Stolz und ihre Rechtfertigung; hatte sie doch auch jetzt in einem solchen Augenblicke an diesen Brief gedacht und ihn mir gebracht, um vor mir naiv damit zu prahlen und ihr Ansehen in meinen Augen zu erhöhen; auch ich sollte ihn sehen und loben. Ich sagte nichts, drückte ihr die Hand und ging hinaus. Es war mir ein Bedürfnis fortzugehen. Ich ging den ganzen Weg zu Fuß, trotzdem es immer noch mit großen Flocken schneite. Ich fühlte mich erschöpft, bedrückt, von verständnisloser Benommenheit gequält. Aber die Wahrheit blitzte schon durch die Benommenheit hindurch. Die häßliche Wahrheit!