Vielstimmig

  Vielstimmig. (Musik) So nennt man den Satz, der aus mehr als vier Stimmen besteht, deren jede ihre besondere Melodie hat. In so fern bei dem Dreiklang ein Intervall desselben verdoppelt werden muss, sollte der vierstimmige Gesang, der aus Bass, Tenor, Alt und Diskant besteht, auch schon zum vielstimmigen gerechnet werden; denn eigentlich ist der Satz vielstimmig, der die Verdoppelung eines oder mehrer zum Akkord gehöriger Intervalle erfordert. Da nun der konsonierende Akkord außer dem Grundton, der zum Fundamentalbasse gehört und für keine besondere Stimme gerechnet wird, nur drei Intervalle enthält, die Oktaveoder Prime, deren Terz und Quinte, die in drei Stimmen können verteilt werden, so erfordert die vierte Stimme bei jeder konsonierenden Harmonie schon die Verdoppelung oder Wiederholung eines der konsonierenden Intervalle. Indessen wird nach dem gewöhnlichen Gebrauch des Wortes nur der Gesang, der mehr als vier Stimmen hat, vielstimmig genannt; daher im vielstimmigen Gesang auf jeden Akkord, wenn er gleich, wie der wesentliche Septimenakkord, aus vier Intervallen besteht, wenigstens ein Intervall muss verdoppelt werden.

 Beim vielstimmigen Gesang hat man außer den allgemeinen Regeln des Satzes besonders noch nötig zu wissen, was für Intervalle zur Vermehrung der Harmonie sollen verdoppelt werden. Wir haben deswegen hier vornehmlich zu zeigen, wie diese Verdoppelung am schicklichsten geschehe.

  Hier ist vorerst dieses zur Grundregel anzunehmen, dass bei dissonierenden Akkorden die Dissonanzen nicht können verdoppelt werden; weil dieses offenbar verbotene Oktaven verursachen würde. Denn da die Auflösung der Dissonanzen ihren Gang völlig bestimmt, so müsste die verdoppelte Dissonanz in beiden Stimmen, wo sie vorkommt, einerlei Gang nehmen, folglich würden dadurch notwendig Oktaven entstehen.

 Es ist also eine allgemeine Regel, dass nur die Konsonanzen können verdoppelt werden. Dabei ist dieses die natürlichste Ordnung, dass die Verdoppelung nach der Ordnung, in der die Konsonanzen erzeugt werden, geschehe. Wir haben anderswo1 gezeigt, dass diese harmonische Progreßion 1 1/2 1/3 1/4 1/5 u.s.w. alle konsonierenden Töne oder Intervalle in ihrer natürlichen Ordnung enthalte. Daher kann man den Schluss ziehen, dass, wo nur eine Konsonanz zu verdoppeln ist, am natürlichsten die Oktave 1/2 verdoppelt werde; wo zwei zu verdoppeln sind, Oktaveund Quinte 1/2 und 1/3. Wo drei zu verdoppeln sind Octav, Quinte und die doppelte Oktave 1/2, 1/3, 1/4, und so fort. Dieses ist die wichtigste Grundregel zur Verdoppelung. Doch kann sie nicht allemal genau beobachtet werden, weil dadurch bisweilen in irgend einer Stimme unharmonische Fortschreitungen entstehen könnten. Auch kann man aus der angezeigten Erzeugung der Konsonanzen zum vielstimmigen Satz diese wichtige Regel herleiten, dass in den tiefen Stimmen die Konsonanzen weiter auseinander, in den oberen aber näher an einander zu bringen sind, wie schon anderswo angemerkt worden.2

 Das Wichtigste aber, was hiernächst anzumerken ist, ist dieses, dass man bei verwechselten Akkorden allemal die wahre Grundharmonie vor Augen habe; weil ohne dieses nicht kann beurteilt werden, ob ein Intervall könne verdoppelt werden oder nicht. Durch die Verwechslung nimmt eine Dissonanz oft das Ansehen der Konsonanz an und kann dennoch nicht verdoppelt werden. So ist z.B. in dem Akkord, die Quinte die eigentliche Dissonanz3 und kann folglich nicht verdoppelt werden. Wenn man also sagt: dass nur die Konsonanzen können verdoppelt werden, so ist dieses von den Konsonanzen des eigentlichen Fundamentaltons zu verstehen, auf den man also beständig Rücksicht zu nehmen hat.

  Bei den Akkorden, die zufällige Dissonanzen haben, muss die Verdoppelung der Konsonanzen, in welche die Dissonanzen sich auflösen, vermieden werden. Wo z.B. 9 8. vorkommt, verdoppelt man erst Quint und Terz, die Oktaveaber nur, wenn dieses noch nicht hinlänglich ist, alle Stimmen zu versehen; bei 4 3. verdoppelt man erst Quint und Oktave und nur bei sehr viel Stimmen die Terz des Basstons; bei verdoppelt man erst die Quinte und nur, wenn man noch mehr Töne nötig hat, danach die Oktave und denn die Terz; bei dem Sextenakkord, der die Septime zum Vorhalt hat, wird auch erst die Oktave des Basses verdoppelt, ehe man die Sexte dazu nimmt.

 Eine wichtige Anmerkung zur Lehre des vielstimmigen Satzes, kann aus den sogenannten Mixturen der Orgeln gezogen werden. Denn daher kann man lernen, dass zu einem konsonierenden Akkord in gehöriger Entfernung und Schwäche des Tones, mancherlei Dissonanzen mitgenommen werden können, ohne den Gesang dissonierend zu machen. Wenn in einem Tonstück so viel Stimmen wären als Register in einer großen Orgel sind, so könnten die Töne in den verschiedenen Stimmen nach Maßgabe der Mixturen der Orgel sehr füglich verteilt werden.

 Der vielstimmige Gesang hat an sich etwas feierliches und großes und ist also vorzüglich bei solchen Gelegenheiten zu gebrauchen, wo die Gemüter durch große Pracht und Feierlichkeit ausserordentlich zu rühren sind.

 Es ist vielleicht nicht ausgemacht, aber doch höchst wahrscheinlich, dass die Alten keinen vielstimmigen Gesang gehabt haben. Allgemein schreibt man seine Einführung einem englischen Bischoff Dünstan, der im X Jahrhundert gelebt hat, zu. Aber der große Galiläi sagt, dass nach allen von ihm angestellten Untersuchungen sich ergebe, der vielstimmige Gesang sei nicht früher, als 150 Jahre vor seiner Zeit, aufgekommen. Diese Epoche würde gegen das Jahr 1430 fallen.4 Der Abbe Le-Beuf, der sich sehr tief in Untersuchungen über die Beschaffenheit der ältern Kirchenmusik eingelassen, versichert, dass man die ältesten Spuren des vielstimmigen Gesangs erst gegen Ende des XII Jahrhunderts finde.5 Er soll daher entstanden sein, dass auf gewissen Stellen der Lieder, besonders am Ende, zwei Stimmen, die sonst durchaus im Unisonus gingen, Terzen gegen einander gesungen haben. Dieses nannte man Organizare in duplo.

Wollte man den Schluss auf das Wort Amen oder Allelujah, dreistimmig machen, so bekam ein dritter Sänger eine Stimme, die um eine Oktave höher als die erste war und zum vierstimmigen Schluss, wurde auch die zweite Stimm um eine Oktave höher genommen.

 Noch im XIV Jahrhundert wurde der vielstimmige Gesang, wie der angeführte französische Schriftsteller beweiset, von vielen für einen Missbrauch und für eine Verderbung des alten guten Gesangs gehalten; daher Papst Johannes XXII in einer Bulle vom Jahre 1322 denselben einzuschränken suchte.6

 

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1 S. Saite. Klang.

2 S. Eng.

3 S. Quintsextenakkord.

4 S. Dessen Dialogo della Musica Antica e moderna.

5 S. Dessen Traité historique et pratique sur le chant ecclesiastique. Paris 1741. 8. S. 74.

6 S. S. 90 in dem angezogenen Werke.

 


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