Veränderungen. Variationen

Veränderungen. Variationen. (Musik) Man kann zu einer Folge von Harmonien oder Akkorden mehrere Melodien setzen, die alle nach den Regeln des harmonischen Satzes richtig sind. Wenn also eine Melodie von Sängern oder Spielern wiederholt wird, so können sie das zweitemal vieles ganz anders als das erstemal singen oder spielen, ohne die Regeln des Satzes zu verlezen; geübte Tonsetzer aber verfertigen bisweilen über einerlei Harmonien, mehrere Melodien, die mehr oder weniger den Charakter der ersten beibehalten: für beide Fälle braucht man das Wort Variation, das wir durch Veränderungen ausdrücken.

 Die ältern Tonsetzer pflegten allgemein ihre Melodien in einfachen oder etwas langen Noten zu setzen und also nur das Wesentliche auszudrücken. Dieses gab denn besonders in Stücken von langsamer Bewegung, geschickten Spielern und Sängern Gelegenheit, diese einfachen Töne mit Geschmack und Empfindung etwas zu verzieren. Weil aber viel Sänger und Spieler dieses nicht ohne Verlezung der Harmonie oder des Ausdrucks zu tun vermochten; so gewöhnten sich die Setzer nach und nach an, die schicklichsten Verzierungen, schon als wesentlich zur Melodie gehörige Verschönerungen, selbst zu setzen. Nun werden diese Verzierungen von üppigen Sängern wieder mit neuen Verzierungen, die bei der Wiederholung noch vielfältig verändert werden, verbrämt. Dadurch entsteht denn der, zwar eine sehr fertige und bis zur Verwunderung künstliche Kehle anzeigende, aber aller wahren Kraft und alles Nachdrucks gänzlich beraubte Gesang, der jetzt beinahe überall gesucht wird. So wie die meisten Melodien der so genannten galanten Musik gegenwärtig von Tonsetzern ausgearbeitet und verziert, geschrieben werden, sollten sie, wenigstens das erstemal, ohne weitere Zusätze gesungen oder gespielt werden. Bei der Wiederholung stünde dem geschickten Sänger noch immer frei, schickliche Veränderungen anzubringen. Es ist aber kaum nötig zu erinnern, dass dieses nur solche Sänger und Spieler tun können, die wahre Kenntnis der Harmonie und des melodischen Ausdrucks haben. Da diese etwas selten sind, so hört man allgemein in Operen Veränderungen, wodurch Melodie und Harmonie nicht bloß verdunkelt, sondern völlig verdorben werden. Es gibt so gar Sänger, die gewisse Veränderungen, die sie von ihren Sangmeistern gelernt haben, bei jeder Gelegenheit, selbst da, wo sie sich am wenigsten schicken, wieder anbringen. Dieses ist ein Missbrauch, dem sich die Kapellmeister aus vollen Kräften wiedersetzen sollten; weil in der Tat der theatralische Gesang dadurch völlig verdorben wird. Die meisten Arien werden jetzt so gesungen, dass sie den reichen gothischen Gebäuden der mittlern Zeiten gleichen, an denen das Auge nichts glattes sieht, sondern überall durch geschnitzte Zierraten, die alle Teile wie im Spinngeweb überziehen, gleichsam gefangen wird.

 Die Sangmeister sollten es sich zur Pflicht machen, ihre Schüler zu überzeugen, dass das wahre Verdienst eines Sängers in dem richtigen, jeder Empfindung angemessenen Vortrag der vom Tonsetzer vorgeschriebenen Töne bestehe und dass sie bei verständigen Zuhörern, dadurch mehr Ruhm erwerben als durch die künstlichsten Veränderungen.

 In Liedern kann es notwendig werden, Veränderungen anzubringen; denn es trifft sich oft, dass die auf einerlei Töne fallenden Worte in einer Strophe etwas mehr Nachdruck und einen empfindsamern Ausdruck erfordern als in einer anderen. Dann kann ein Sänger durch schickliche Veränderungen die Melodie, die der Tonsetzer für alle Strophen gleich gemacht, für jede besonders nach Erfordernis abändern.

 Instrumentisten schweifen allgemein in Veränderungen eben so aus, wie die Sänger. Mancher glaubt, die Kunst des Spielens bestehe bloß darin, dass zehnmal mehr Töne gespielt werden als auf dem Papier ausgedruckt sind oder dass er die Arbeit des Tonsetzers als einen Text anzusehen habe, über dem er eine Zeitlang spielen soll. Wir empfehlen den Spielern das, was der vortrefliche Bach in seinem Werke von der wahren Art das Klavier zu spielen über die Veränderungen angemerkt hat, wohl zu überlegen.1

 Kleine Melodien für Instrumente als Sarabanden, Couranten und andere Tanzstücke, sind zu kurz, um ohne Veränderung etlichemal hintereinander gespielt zu werden. Daher haben verschiedene berühmte Tonsetzer dergleichen Stücke mit mancherlei veränderten Melodien gesetzt, die immer auf dieselbe Folgen von Harmonien passen. Die besten Veränderungen in dieser Art, die man als Muster anpreisen kann, sind die von Couperin und von dem großen J. Seb. Bach. Eine noch höhere Gattung von ganz veränderten Melodien, sind die Sonaten mit veränderten Reprisen. Hr. C. P. Em. Bach, hat deren sechs für Klavier herausgegeben, die er der Prinzeßin Amalia von Preußen dedicirt hat. Der Vorbericht zu diesem Werk enthält einige nützliche Anmerkungen über die Kunst zu verändern.

 Die höchste Gattung von Veränderungen ist unstreitig die, da bei jeder Wiederholung andere auf den doppelten Kontrapunkt beruhende Nachahmungen und Kanons vorkommen. Von J. Seb. Bach hat man in dieser Art eine Arie für das Klavier mit dreißig solcher Veränderungen; und eben dergleichen über das Lied, Vom Himmel hoch, da komm ich her, die man für das Höchste der Kunst ansehen kann. Bewunderungswürdig ist dabei dieses, dass bei jeder Veränderung die erstaunliche Kunst der harmonischen Ver

setzungen fast durchgängig mit einem schönen und fließenden Gesang verbunden ist. Von eben diesem großen Mann hat man auch eine gedruckte Fuge aus dem D mol, die einige zwanzigmal verändert ist, wobei alle Arten des einfachen, zwei- drei- und vierfachen Kontrapunkts in gerader und verkehrter Bewegung, auch mancherlei Arten des Kanons vorkommen. In dieser Art verdienen auch die Fugen des französischen Tonsetzers d'Anglebert, ingleichen verschiedene Arbeiten eines Frobergers, Johann Kriegers2, desgleichen aus den vortreflichen 12 Violinsolo und die folie d'Espagne des berühmten Corelli als Muster angeführt zu werden.

 Wir wollen hier nur noch anmerken, dass bei Symphonien und Ouverturen, selbst die ersten Violinisten sich schlechterdings aller Veränderungen enthalten und sich nicht einmal durchgehende Noten zu Ausfüllung einer Terz, erlauben sollen; weil dadurch in dergleichen Stücken gar leicht Quinten und Oktaven entstehen. Begleitende Instrumentisten, besonders die Ripienisten, sollen sich aller Veränderungen gänzlich enthalten.

 

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1 In dem Kap. vom Vortrage. §. 31.

2 Dieser war Musikdirektor in Zittau. Die Stücke von denen hier die Rede ist, sind im Jahr 1699 unter dem Titel: anmutige Klavierübungen; bestehend in un- terschiedenen Ricercarien, Präludien, Fugen etc. herausgekommen.

 


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