Versart

Versart. Unter diesem Worte verstehen wir nicht die metrische Beschaffenheit eines einzigen Verses, wodurch er sich von anderen unterscheidet, sondern die metrische und rhythmische Einrichtung eines ganzen Gedichtes. Man müsste ein sehr hartes Gefühl haben, um nicht zu merken, dass die Versart für den Inhalt und den Ton des Gedichtes gar nicht gleichgültig sei. Wer würde eine epische Erzählung in der kurzen anakreontischen Versart oder ein tändelndes Lied in dem feierlichen Hexameter vertragen können?

 Wenn also das Gedicht auch in seiner metrischen Sprache vollkommen sein soll, so muss eine schickliche Versart für dasselbe gewählt werden. Aber weder die Arten der Gedichte, noch die Versarten können alle bestimmt werden: und wenn dieses auch anginge, so würde doch allem Ansehen nach Niemand im Stande sein, für jedes Gedicht gerade die Versart zu bestimmen, die sich am besten dazu schickte. Man muss sich also hier bloß mit allgemeinen Anmerkungen begnügen; aber auch dabei hat man sich noch sehr in Acht zu nehmen, dass man der Versart weder zu viel einräume, noch ihre Kraft für gar zu gering halte.

 Man hat sich bis dahin in Ansehung der Gedichtsarten damit begnügen müssen, sie in gewisse, nur einigermaßen bestimmte, Klassen oder Gattungen ein

zuteilen: als lyrische, epische, dramatische u. s. w: und näher oder genauer, lassen sich auch die Versarten nicht bestimmen. Unsers Erachtens kommt es bei der Beurteilung, wie schicklich oder unschicklich eine Versart für diese oder jene Gedichtart sei, darauf an, dass man so gut es angeht, sich richtige Vorstellungen von der Art der Empfindung mache, die in dem Gedicht herrscht und danach die Empfindung dagegen halte, die durch die Versart geschildert oder erweckt wird. Die verschiedenen Tanzmelodien sind im Grunde nichts anders als Versarten, deren jede eine besondere oder doch besonders schattierte Empfindung erweckt, und unterhält. Nun ist offenbar, dass es fröhliche, komische, zärtliche, ernsthafte, heftige, gemäßigte, Tanzmelodien gibt; und schon daraus muss man den Schluss ziehen, dass es auch dergleichen Versarten gebe, dass folglich ein trauriges Gedicht eine andere Versart erfodere, als ein lustiges.

Gebt meiner Phyllis den Kranz! und:

      Dämpfet die schreckliche Gluth!

haben, wenn man nicht auf den Vortrag sieht, vollkommen einerlei Metrum und machen einerlei Rhythmus. Durch den richtigen Vortrag wird der erste fröhlich, der zweite fürchterlich: jener hat eine fröhliche, dieser eine traurige Lebhaftigkeit.

 Hieraus kann man abnehmen, dass es bei der Versart nicht bloß auf die mechanische Anordnung ankomme und; dass ein und eben dieselbe Versart sich zu ganz verschiedenem Ausdruck schicken könne, nachdem der Sinn der Worte einen Vortrag veranlasst. Wir finden auch in der Tat, dass Horaz dieselbe Versart zu Oden von sehr verschiedenen Charakter gewählt hat. Also lässt sich aus der toten Bezeichnung der Versart, die jeden Vers nach der Beschaffenheit und Folge seiner Füße durch Zeichen ausdrückt, noch sehr wenig schließen. Man kann die Probe mit Klopstocks Oden machen, deren Versart allgemein auf diese Art vorgezeichnet ist. Niemand wird aus den Vorzeichnungen erraten, was für ein besonderer Ton oder Ausdruck in jeder Ode herrsche; dieser wird erst durch den Vortrag bestimmt.

  Deswegen kann man dem Dichter über die Wahl der Versart keine besondere Regeln geben; man ist durch die Natur der Sache genötigt, bei wenigen allgemeinen Anmerkungen stehen zu bleiben.

 Eigentlich unterscheidet sich die gebundene Rede von der Prosa dadurch, dass sie in ihrem metrischen Gange gleichförmiger fließt. So bald eine Sprache etwas ausgebildet ist, nimmt zwar auch die prosaische Red in derselben, etwas rhythmisches an sich, in dem allemal einzelne Redesätze nach einem gewissen Wohlklang geordnet werden. Aber zwischen den verschiedenen auf einander folgenden Gliedern der ungebundenen Rede, wenn gleich jedes ein wohlklingendes Metrum hat, findet man nicht die Übereinstimmung, die ihnen die Gleichheit des Charakters gäbe, die in der gebundenen Rede allemal angetroffen wird. Die beste Prosa, in einzelne Glieder abgesetzt, zeigt uns eine Folge, in der wir kein gleichartiges Metrum, keinen anhaltenden Rhythmus, entdecken. Wenn auch jedes einzele Glied ein wirklicher Vers wäre, so ist es metrisch und rhythmisch betrachtet von anderer Art als die nächst vorhergehenden und folgenden. Also ändert sich der Charakter oder das ästhetische des Klanges von einem Gliede zum anderen; und wenn gleich jeder einzele Satz einen sehr guten Vers ausmachte, so würde doch in der Folge der Sätze das genau abgemessene und in gewissen Zeiten wiederkommende, vermisst werden.

 Der natürliche Grund dieses Unterschieds zwischen der gebundenen und ungebundenen Rede, scheint daher zu kommen, dass der Dichter in Empfindung; in einem höheren oder geringern Grad der Begeisterung, spricht, die er an den Tag zu legen und durch den Rhythmus zu unterhalten sucht, da der in Prosa redende, bloß auf die Folge seiner Begriffe sieht und die Unterstützung der Empfindung, durch das Abgemessene der Rede nicht sucht.

 Da nun die gebundene Rede überhaupt aus einer, wenigstens eine Zeitlang gleich anhaltenden, Empfindung entsteht, so folgt daraus überhaupt, dass man den Wert oder die Schicklichkeit jeder Versart aus der Natur der Empfindung oder Laune, die im Gedichte herrscht, beurteilen müsse. Beispiele werden dieses begreiflich machen.

 Wer bloß lehren oder zum bloßen Unterricht erzählen will, kann zwar von seiner Materie in einem Grad gerührt sein, dass er sie in gebundener Rede vorträgt, aber das Rhythmische derselben, wird natürlicher Weise schwächer sein und der ungebundenen Rede näher kommen als wenn er stärker gerührt wäre. Da seine Rede mehr vom Verstand als von der Empfindung geleitet wird, so wird wenig Gesang darin sein. Zu dergleichen Inhalt schickt sich demnach eine freie Versart. Die schwache Laune des Dichters wird ohne genau bestimmten Rhythmus durch metrische Gleichförmigkeit schon genug unterstützt. Kürzere und längere Verse, wann auch keiner dem anderen rhythmisch gleich wäre, können auf einander folgen. Aber im Silbenmaße wird doch, wo nicht eine ganz strenge, doch eine merkliche Gleichförmigkeit herrschen; sie wird allemal ganz oder eine Zeitlang jambisch oder trochäisch fortfließen. Der epische Dichter, auch der Lehrende, der seine Materie schon mit gleich anhaltender Feierlichkeit vorträgt; fällt natürlicher Weise, auf eine schon mehr gebundene Sprache, und sucht schon mehr einen anhaltenden Rhythmus. Er spricht durchaus oder doch immer eine Zeitlang in gleichen rhythmischen Abschnitten. Von dieser Art ist unsere alexandrinische und auch die griechische und lateinische epische Versart, die in Hexametern fließt.

 Noch bestimmter und tiefer ist der lyrische Dichter gerührt, dessen Materie selbst durchaus gleichartiger ist. Er äußert bloß Empfindung und alles was er sagt, entsteht, nicht sowohl aus Nachdenken oder aus dem Verstande als aus Empfindung. Darum ist ihm eine genauer abgepasste oder strengere Versart natürlich, die, wie wir vom gleichen Rhythmus angemerkt haben, die Empfindung nicht nur unterhält, sondern verstärkt. Soll die Empfindung lang in einem Tone fortgehen, so schickt sich die strophische Einteilung vollkommen gut dazu, wie aus dem erhellt, was wir im Artikel von Rhythmus über die Tanzmelodien angemerkt haben. Denn starke Empfindungen pflegen nicht lang anhaltend zu sein, wenn sie nicht immer neu unterstützt oder genährt werden.

 Der Odendichter befindet sich schon in einer merklich anderen Gemütslage als der ein Lied dichtet;1 Darum ist es auch natürlich, dass die Versart verschieden sei. In beiden Fällen, ist die strophische Einteilung natürlich; aber unter den zu einer Strophe gehörigen Versen, wird im Liede mehr Gleichförmigkeit sein als in der Ode; weil das Lied eine vollkommen gleich anhaltende Empfindung voraussetzt.

 Diese Anmerkungen scheinen mir wenigstens aus der Natur der Sache zu folgen. Ob sie aber einer noch näheren Anwendung auf die Beschaffenheit der verschiedenen Versarten fähig seien, getraue ich mir nicht zu sagen. Niemand scheint fähiger zu sein, diese Materie gründlich auszuführen als unser Klopstock, wie die von ihm bekannt gemachten Fragmente über die Theorie des Versbaues und der Versarten hinlänglich beweisen.

 

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1 Dieses ist im Art. Lied gezeigt worden.

 


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