Verrückung. (Musik) Durch dieses Wort bezeichnen wir eine, nur eine kurze Zeit dauernde oder aus gewissen Absichten glücklich veranstaltete Zerstörung der Harmonie oder Ordnung, da ein oder mehr Töne aus ihrer Stelle entweder völlig oder zu früh weggerückt werden. Dergleichen Verrückungen oder Wegrückungen kommen so wohl in der Harmonie als in der Melodie vor.
Die harmonische Verrückung kann auf zweierlei Weise vorkommen: 1. indem man die Grundharmonie auf einen Augenblick zerstöret, aber auch sogleich wieder herstellet; und 2. indem man den Akkord nicht gleich in seiner Vollkommenheit hören lässt. In beiden Fällen aber geschiehet es so, dass die Grundharmonie darum nicht aus dem Gefühl gebracht wird.
Im ersten Fall ist die Verrückung in der Harmonie das, was der Durchgang in der Melodie ist und in den Stimmen, wo die Verrückung geschieht, geht ein Durchgang in der Melodie vor.1 Z.B. Verrückungen dieser Art geschehen ohne alle Vorbereitung; sie zerstören die vorhergehende Harmonie auf der schlechten Zeit des Taktes und stellen sie auf der folgenden guten mit doppelter Annehmlichkeit wieder her. Sie dienen außerdem bald zur Verbindung des Gesangs in den einzelnen Stimmen, bald zur Unterhaltung der Bewegung oder das Stillestehen derselben zu verhindern. Die Intervalle, mit denen diese Art der Verrückung bewerkstelliget wird, sind allgemein gegen die Grundnote dissonierend, und werden auch durchgehende Dissonanzen genannt.
Im zweiten Fall entstehen die zufällig dissonierenden Akkorde, die nur auf der guten Zeit des Taktes vorkommen können und deren Dissonanzen vorbereitet und aufgelöset werden müssen. Hievon aber ist in verschiedenen Artikeln hinlänglich gesprochen worden2. Wir merken nur noch an, dass die harmonische Verrückung in beiden Fällen nur bei solchen Akkorden, die von einer beträchtlichen Länge und Gewicht sind, angebracht werden kann.
Eine andere Art der Verrückung, die aber nur in der Melodie statt hat, ist die, wenn ein oder mehrere Töne durch Vorausnahme oder Verzögerung3 früher oder später als sie sollten, eintreten. Hievon wird in einem besonderen Artikel gesprochen4.
Zeit, Rhythmus und Bewegung können auch auf mancherlei Weise verrückt werden. Wenn z.B. im 3/8 Takt drei Viertel gesetzt werden, die den Zeitraum von zwei Takten einnehmen und gleich schwer vorgetragen werden, wodurch die Taktbewegung auf eine kurze Zeit ganz vernichtet wird. Diese Art der Verrückung kann in Unentschlossenheit oder in dem Ausdruck der Furcht oder in ein Singstück bei überaus starken und nachdrücklichen oder trozigen Worten oder wenn man den Zuhörer nach einer einförmigen und langweiligen Fortschreitung der Bewegung unvermutet durch etwas fremdes und ungewöhnliches erschüttern und wieder aufmuntern will, von der größten Kraft sein; wenn sie nur mit Überlegung angebracht wird. Oder wenn in einem Allegro ein paar Takte Adagio angebracht werden; oder beide Bewegungen in entgegengesetzten Leidenschaften mit einander abwechseln; oder wenn die Bewegung auf eine kurze Zeit gar stille steht, wie bei Fermaten 5. Hierher gehören auch die unvermutete Ruhe mitten in einem Takt; der ungerade Rhythmus von drei oder fünf Takten oder die Art der Verrückung, nach der bei nachdrücklichen Worten wesentlich lange Noten zu kurzen und kurze zu langen Noten gemacht werden, wie in diesem Beispiel einer Graunischen Opernarie: Jedermann erkennt gleich, dass diese Art der Verrückung in Singstücken nur über solche Worte oder Silben angebracht werden kann, die sie vertragen. In dem Stabat mater des Pergolesi; das der großen Bewunderung, womit so viele davon sprechen, unerachtet von uns für ein sehr fehlerhaftes und schlechtes Werk gehalten wird, findet sich folgende Arie: wo diese Verrückung so unschicklich angebracht ist, dass jedem Sprachkenner bei Anhörung derselben die Haut schaudert.
Alle diese Verrückungen der Zeit, des Rhythmus und der Bewegung gehen über das Gewöhnliche hinaus und bringen, wenn sie sparsam und mit Überlegung angebracht werden, viel Freies und Großes in die Schreibart. Große Meister bringen damit die größten Wirkungen hervor; Stümper legen damit ihre Unwissenheit und ihre Ungeschicklichkeit an den Tag. Bei jenen stehen sie allezeit am rechten Ort und die Übertretung der Regeln wird in ihren Werken oft zur größten Schönheit; bei diesen stehen sie niemals recht, sie zerstören die Ordnung und bringen Verwirrung und Unsinn hervor.
Anfängern der Setzkunst ist zu raten, dass sie sich strenge an die Regeln halten, die die Ordnung zum Endzweck haben und sich vollkommen darin festsetzen, ehe sie anfangen, die Ausnahmen großer Meister nachzuahmen und sich dieser letzt angezeigten Arten der Verrückungen zu bedienen.
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1 S. Durchgang.
2 S. Dissonanz S. 264 . Auflösung S. 88 . Vorhalt.
3 Anticipatio, Retardatio.
4 S. Verzögerung.
5 S. Fermate.