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Worte ohne Anschauung

Für den ersten Fall denken wir an Schillers Gedichtanfang: "Es lächelt der See." Daß das Lächeln des Sees eine Metapher sei, wird uns jeder Schuljunge sagen: Gemeint sei eine gewisse Heiterkeit des Landschaftsbildes. Die kürzeste Besinnung belehrt uns aber, daß Heiterkeit noch dieselbe Metapher ist; die Natur ist nicht heiter, nur die Menschen können es sein. Das Lächeln bedeutet also weiter nur Helligkeit.

Mit der Helligkeit allein ist es aber auch nicht getan. Stellen wir uns vor, wir stehen am Ufer des Sees unter der glühenden Sonne eines Julimittags, so empfinden wir nicht die Stimmung der Heiterkeit, weil die Hitze unserer Empfindung näher liegt als die Beleuchtung. Nun aber der "See", was sagt uns dieses Wort? Vor allem jedem nur das, was er einmal erlebt hat. Es kann ein See in der Ebene, es kann ein See im Hochgebirge sein, ein kleiner oder ein großer See, ein See im Walde oder ein baumloser See, ein See mit Menschenstaffage oder ohne solche, ein grüner oder ein blauer See, der schwarze See von Plöckenstein u. s. w. Gibt aber "es lächelt der See" auch nur eine dieser möglichen Anschauungen? Ich glaube, nein. Der Dichter selbst, besäße er diese lebhafte Malerphantasie, wäre ein Maler und kein Dichter geworden. Und vollends der Leser oder Hörer wird nur in Ausnahmsfällen die Anschauung an ein bestimmtes Landschaftsbild in sich "aufgeregt" finden und dann wahrscheinlich der Dichtung gar nicht mehr folgen können. Was in ihm geweckt wird, das ist eine ganz unbestimmte Empfindung; an das Wort See allein schon ist durch jahrhundertlangen Gebrauch eine Stimmung geknüpft, das Wort löst nicht die Seeanschauung aus, sondern — besonders in der Seelensituation des Poesieaufnehmens — nur diese Seestimmung, die zuinnerst eine metaphorische Anwendung des Seebildes auf menschliche Gefühle ist und die durch die Verbindung mit der deutlicheren Metapher "lächeln" nur differenziert wird. Ganz ähnlich steht es damit, wenn Goethe seine Kantate von der ersten Walpurgisnacht beginnt: "Es lacht der Mai". Wir sind uns des Anthropomorphismus in solchen scheinbar ganz banalen Sätzen freilich nicht bewußt. "Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist" (Goethe, Sprüche in Prosa, 216). Erst die Sprachkritik kann darüber aufklären, daß selbst ein noch schlichterer Satz, wie "es rauscht das Meer", der natürlich als Ausdruck der Landschaftsstimmung genau dem "es lächelt der See" entspricht, auch sprachlich keinen wirklichen Sinneseindruck wiedergibt, daß die Vorstellungen "Meer" und "rauschen" alle beide vom Menschengehirn allein in die Natur hineingedacht worden sind. Dies führt uns auf das andere Extrem der poetischen Sprache, auf die simpelsten Worte für konkrete Gegenstände.