Notwendigkeit
Ich habe öfter davor gewarnt, die beiden Begriffe Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit miteinander zu verwechseln; Gesetzmäßigkeit oder Gesetzlichkeit ist die wohlfeile Anerkennung der Tatsache, daß wir da und dort in der Wirklichkeit Gesetze gefunden haben, d. h. ökonomische Zusammenfassungen von Erfahrungen; der Glaube an die Notwendigkeit ist eine die Erfahrung gern leitende Überzeugung, ein Dogma, das freilich durch kühnen Analogieschluß wieder aus der Erfahrung abgeleitet ist. Ich will nun zu zeigen versuchen, daß die Notwendigkeit am letzten Ende ein negativer Begriff ist, genau so wie der Gegenbegriff Zufall, und daß die Gesetzmäßigkeit nur auf dem Gebiete des positiven Wissens zu suchen und zu finden ist. Husserl hat neuerdings objektive Notwendigkeit und objektive Gesetzlichkeit für identisch erklärt; wenn ich nur wüßte, wie Notwendigkeit, eine menschliche Betrachtungsweise der Wirklichkeit, jemals objektiv werden kann.
Ich habe (Kr. d. Spr. III S. 579 ff.) darzustellen mich bemüht, daß der unklare Zufallsbegriff historisch zuerst einer anthropomorphischen Absicht, dann einer metaphysischen Wesentlichkeit, endlich einer wieder anthropomorphischen Notwendigkeit entgegengesetzt wurde; und daß in dem Begriffe Notwendigkeit, der leicht mit dem Fatum vertauscht wurde, doch wieder die Absicht eines menschenähnlichen Wesens versteckt war (vgl. auch Art. Zufall). Hier aber möchte ich den Ton besonders darauf legen, daß der Notwendigkeitsbegriff wieder historisch durch Negierung eines ältern Glaubens entstanden ist, des Glaubens an den Eintritt von Wirkungen ohne ihre Ursache. Dieser alte Glaube heißt Fetischismus, wenn die Wirkung ohne zureichenden Grund von armen Teufeln erwartet wird, deren Seelensituation uns völlig fremd ist; derselbe Glaube heißt unter uns ein Aberglaube, wenn bildungsstolze Menschen zusehen müssen, daß vom Gesundbeten Wirkungen erwartet werden. Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß nur wir im Fetisch und im Beten keinen zureichenden Grund sehen, daß aber der Fetischneger und unsere gläubigen Landsleute die unausweichliche Verknüpfung von Ursache und Wirkung deutlich zu sehen glauben. Der Glaube oder das Dogma unserer Zeit leugnet Wirkungen ohne zureichende Ursachen und hat für diese negative Überzeugung eine ganze Reihe von positiven Ausdrücken, die alle zu den ewigen Wahrheiten unseres besten Wissens zu gehören scheinen. Man nennt diese Wahrheiten auch Gesetze. Ich behaupte nun, daß diese allgemeinsten und weltumfassenden Gesetze, die Fundamentalsätze unserer Naturwissenschaften, so verschieden ihr Ausdruck und ihr Gesichtspunkt ist, alle den gleichen Sinn haben und zwar einen negativen Sinn. Ob man seit Menschengedenken von der Notwendigkeit spricht, von dem Kausalitätsgesetz, ob man seit 400 Jahren vom Gesetze der Trägheit spricht, seit 100 Jahren von der Erhaltung des Stoffs, seit 50 Jahren von der Erhaltung der Kraft, immer ist nur gemeint: der alte Glaube an Wirkungen ohne natürliche Ursachen ist nicht mehr wahr. Würde man statt Kausalitätsgesetz, genauer und richtiger Kausalitäts bedürfnis sagen, so käme deutlicher heraus, daß es sich nur um eine neue Sehnsucht handelt, um eine neue Überzeugung. Alle diese Formulierungen des Glaubens an eine unzerreißbare Kette der Notwendigkeit drücken eigentlich, immer nur von einem neuen Gesichtspunkte, das neue negative Dogma aus: es gibt keinen persönlichen Gott, es gibt keine Wunder, keine außernatürlichen Ursachen. Die eherne Kette der Notwendigkeit ist unzerreißbar geworden für unsere Vorstellung. Wo immer moderne Menschen sich mit dem alten Gottesbegriff abzufinden gesucht haben, da hat ihr Gott den Charakter der Persönlichkeit abgestreift, ist ein pantheistischer Gott geworden, der trotz seiner Allmacht nie und nirgends die Notwendigkeit durchbrechen kann. Was muß, geschieht. Für wessen Denken der Gottesbegriff noch notwendig ist, weil er ihn glaubt, für den ist dennoch eine freie Einwirkung Gottes auf den Weltlauf unvorstellbar geworden. Darum besonders ist Spinoza seit Goethe Lieblingsphilosoph unserer Dichter, weil Spinoza das alte hübsche Wort beibehalten und dennoch stärker als irgend jemand vor ihm die eherne Kette der Notwendigkeit erkannt hat. »In rerum natura nullum datur contingens; sed omnia ex necessitate divinae naturae determinata sunt ad certo modo existendum et operandum.« (Eth. I. prop. 29.) Die natura naturata und die natura naturans sind die gleiche Notwendigkeit. Die natura naturans kann kein Wunder wirken, die natura naturata duldet kein Wunder. Ich will an zweien der bekanntesten Wunder deutlich machen, wie das negative Dogma von der Notwendigkeit alles Naturgeschehens uns ein Wunder nicht mehr glauben läßt, ohne daß jedesmal die Unmöglichkeit des Wunders streng zu beweisen wäre; ich denke an den Stillstand der Sonne auf Befehl eines Gottes und an die Auferweckung von Toten.
Von einem Festhalten der Sonne auf ihrer Bahn erzählt nicht nur die jüdische, sondern auch die griechische Mythologie; Jehova ließ die Sonne stillstehen, um dem jüdischen Heere Zeit zu lassen, und Zeus ließ die Sonne stillstehen, um sein Beilager mit Alkmene zu verlängern. Daß die Astronomie jetzt die Erde sich drehen läßt, würde nicht viel an der Vorstellung stören; der Gott könnte die Erde festhalten und so wäre der scheinbare Stillstand der Sonne wieder vorstellbar. Aber alle unsere Kenntnisse von den gesetzmäßigen Bewegungen unseres Sonnensystems widersetzen sich dieser Vorstellung; die Gravitation, die Trägheit, die Erhaltung der Energie überreden uns, daß das Weltall zusammenbrechen müßte, wenn der Lauf eines Planeten gehemmt würde. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie macht uns die Vorstellung von einem Stillstand der Erde oder der Sonne vollends ganz unvorstellbar, weil wir uns zu fragen gewöhnt haben, wo denn diese ungeheure Kraft herkommen und wohin sie gehen sollte. Bei dem Stillstand der Sonne ist das Wunder also unvorstellbar geworden, weil es dem Begriffe der Notwendigkeit widerspricht; und diese Notwendigkeit ist jetzt durch Naturgesetze begründet, besser begründet als vor Newton.
Nicht ganz so steht es um die Auferweckung vom Tode, die ebenfalls in vielen Mythologien und Märchen zu finden ist. Wir sind in der Biologie noch nicht zu so strengen Gesetzen gelangt wie in der Mechanik des Himmels. Der strenge Beweis, daß tote Materie nicht lebendig gemacht werden könne, ist noch nicht geführt. Auch das Gesetz der Entropie ist noch nicht so sicher gefaßt, daß man aus ihm die Unmöglichkeit ableiten könnte, den Verlauf des Lebensprozesses umzukehren. Auch ist der Tod kein so leicht definierbarer Begriff; der Eintritt des Todes läßt sich nicht mit mathematischer Genauigkeit auf eine bestimmte Sekunde nachrechnen. Und dennoch ist uns auch dieses Wunder nicht mehr vorstellbar, weil es der Notwendigkeit des Naturgeschehens zu widersprechen scheint.
Den Gedanken, daß Notwendigkeit eigentlich ein negativer Begriff sei, hat schon Dühring ausgesprochen, (ich zitiere nach Eisler: Wirklichkeitsphilosophie S. 372): »Unmöglichkeit ist der Kern aller Notwendigkeit, die daher sogar wesentlich einen verneinenden Charakter hat. In aller Notwendigkeit liegt es, daß etwas nicht anders sein kann. Es ist also etwas Einschränkendes vorhanden, in Bezug worauf der gedankliche Zwang statthat.« Der gedankliche Zwang oder die innere Nötigung ist schon viel früher von den beiden großen Antipoden Hume und Kant als charakteristisch für die Notwendigkeit dargestellt worden; Hume sagt: die Notwendigkeit sei etwas, das im menschlichen Geiste besteht, nicht in den Gegenständen; Kant sagt: nichts geschehe durch ein blindes Ohngefähr und dieser Satz sei ein Naturgesetz a priori. Daß Kant den technischen Ausdruck a priori bemüht, der Skeptiker Hume durch Gewohnheit zu der Vorstellung von einer Notwendigkeit oder Kausalität gelangen läßt, ändert wenig an dem, worin beide Männer einig waren: beide negieren etwas Positives durch den Begriff der Notwendigkeit.
Die Auffassung der Notwendigkeit als eines bloß negativen Gedankendings scheint mir nicht unwichtig zu sein für unsere Stellung zur Natur. Solange die Menschen die Notwendigkeit sich als eine Kraft vorstellten, sie als Gottheit, als Schicksal, als Fatum personifizierten, solange wurde das kleine Individuum von dieser ungeheuren Kraft erdrückt; die Notwendigkeit war furchtbar. Jetzt ist uns die Notwendigkeit nur noch eine Negation jeder besondern Kraft, jetzt ist sie nichts außer der Natur, zu welcher auch wir gehören. Freundlich, heiter steht uns das Gedankending der Notwendigkeit gegenüber; und mit seiner heitern Resignation konnte Goethe (der in diesen prachtvollen Versen allerdings wieder Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit miteinander vertauscht) rufen: »Nach ewigen, ehernen großen Gesetzen müssen wir alle unseres Daseins Kreise vollenden.« Und vorher: »Denn unfühlend ist die Natur.«