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Nichts

Die Bejahung wird von guten Menschen höher geschätzt als die Verneinung; die Bejahung ist ja positiv, ist lebenfördernd; ist moralisch, ich weiß nicht, was sie sonst noch alles ist. In Wahrheit ist die Bejahung, sofern sie nicht die eingelernte Antwort auf eine Lehrerfrage oder eine Schülerfrage ist, nur das überflüssige Kopfnicken, mit dem ein lebhafter Mensch etwa sein Urteil begleitet; er könnte die Bejahung auch durch die laute Stimme oder durch einen Faustschlag auf den Tisch ausdrücken. Bei den allermeisten Urteilen, die überhaupt gefällt werden, versteht sich die Bejahung von selbst und wird in keiner Weise ausgedrückt oder mitgedacht; erst die Schullogik ist auf den Einfall gekommen, alle diese Urteile als bejahende Urteile von den verneinenden zu unterscheiden. Solange die Aufmerksamkeit nicht besonders auf den Urteilswillen oder auf einen Widerspruch hingelenkt wird, solange fügt die sogenannte Bejahung nichts zu dem Urteile hinzu; aber auch in den Ausnahmefällen fügt die Bejahung zum Urteile nicht mehr hinzu als ein Eid oder ein Schwur zu einer Aussage. Wir werden noch lernen, daß die Wahrheit sich vom Glauben gar nicht so sehr unterscheide; die ausdrückliche Bejahung oder der Eid behauptet nur: ich halte das für wahr oder ich glaube das, so wahr ich meinen Glauben für wahr halte. (Vgl. Art. Eid).

Um es schulgerechter auszudrücken: eine Aussage wird erst dann eine Bejahung genannt, wenn sie bewußt einer ausgesprochenen Verneinung oder dem Willen zu einer Verneinung entgegentritt. Die Lehre der alten Logik, daß jedes Urteil entweder ein bejahendes oder ein verneinendes sein müsse, ist ein erster, unsicher tappender Einteilungsversuch (neben dem nach der Quantität des Subjekts), wenn man die psychologische Wirklichkeit mit ihr vergleicht. Erst wenn die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit oder die Tatsache einer Verneinung gelenkt wird, entsteht die gesteigerte Seelensituation, die durch Steigerung der Gebärde, des Tons oder des Wortes zum einfachen Urteile die Bejahung hinzufügt. Die Bejahung ist erst die Verneinung einer Verneinung. An sich ist die Verneinung oder die Negation etwas, was zu dem Versuche eines Urteils hinzutritt; im Verhältnisse aber zur Bejahung ist die Negation das Primäre. Darauf haben schon Beneke und Sigwart sehr gut hingewiesen. Mit der Gleichwertigkeit von Bejahung und Verneinung fällt sehr viel fort, was die Logik seit Aristoteles über das Wesen dieser Urteilsform gelehrt hat. Die Verneinung ist insofern ein viel bestimmterer Begriff, als sie unmittelbar die Möglichkeit, die Brauchbarkeit eines Satzes ablehnt; aber sie ist wiederum der viel unbestimmtere Begriff, weil sie sich gegen jede Art des Urteils richten kann, also die Form jeder Urteilsart annehmen kann. Das negative Urteil kann zum positiven Urteile ebenso gut im konträren wie im kontradiktorischen Gegensatze stehn, ohne daß die Form der Negation den Unterschied ausdrückt; wie denn in allen Existenzial-Urteilen auch Vorstellungen behauptet oder negiert werden können, und dann niemand sagen könnte, was eigentlich negiert wird; wenigstens ein Prädikat wird da nicht negiert. Die Unbestimmtheit des Negationsbegriffes wäre am besten zu studieren an den Zusammensetzungen mit un (lat. in, griech. ἀν), weil da nicht nur der konträre und der kontradiktorische Gegensatz, sondern sehr häufig auch nur der geringere Grad einer Eigenschaft (unbestimmt, ungeschickt) durch die Vorsilbe bezeichnet wird; ja in vielen Substantiven drückt die Vorsilbe un eigentlich nur aus, daß das Ding dem Menschen unnütz, unangenehm oder schädlich sei (Unkraut, Untat, Unwetter); schließlich ist die Vorsilbe un hie und da über die Vorstellung des Ungeheuren hinweg zu einer bloßen Verstärkung geworden wie, in steigender Verblassung des Begriffs, in: Unzahl, Unmenge, Unkosten. (Man vergleiche den Artikel un in Pauls Deutschem Wörterbuch.) Der Sprachgebrauch hat in sehr vielen Fällen den Gegensatz durch ein positives Wort ausgedrückt (böse, blind), hat wieder in sehr vielen Fällen die Negation nur einer ganz bestimmten Bedeutung des positiven Wortes entgegengestellt; so verstehen wir unter unmoralisch den Gegensatz zu einer löblichen Charaktereigenschaft, müssen aber den Gegensatz zu der abstrakteren Bedeutung (»Der Mensch ist ein moralisches Wesen« d. h. ein Wesen, auf welches der Begriff der Moral angewendet wird) mit Hilfe der griechischen Negationspartikel bilden (amoralisch).

Der Umstand, daß die Negation sich bereits auf ein Etwas beziehen muß, auf ein Urteil, eine Vorstellung oder auch nur eine Wahrnehmung, daß die Negation (die ich jetzt im weiteren Sinne nehme als das negative Urteil) in gesteigerter Rede gegen eine Bejahung streitet, wird uns nun vielleicht die merkwürdige Erscheinung erklären helfen, daß die Partikel der Negation, deren einfacher Sinn so viel leichter zu fühlen als zu definieren ist, in so vielen Sprachen zuerst einen schwerfälligen Ausdruck fand, der nur durch Abschleifung zu einem kurzen und geläufigen Redeteil geworden ist. Es klingt wie ein Ton zänkischer Rechthaberei aus den Worten, die z. B. im lat. nihil (ne hilum d. h. filum, nicht einen Faden, nicht ein Haar) im ital. niente (von ens)1, im franz. ne pas (von passus, nicht einen Schritt) und rien (von res) die deutschen Worte nicht und nichts bezeichnen. Nur in der lebhaften Negation von streitsüchtigen Bejahungen konnten so inhaltreiche Worte zu Partikeln entwerten.

An den deutschen Worten sind zwei sprachliche Erscheinungen von besonderem Interesse gut zu studieren; zunächst die Tatsache, daß die modernen Sprachen sich um die Logik und um die pedantische Regel des Latein, nach welcher zwei Verneinungen eine Bejahung ausmachen, nicht immer gekümmert haben, vielmehr die Verneinung durch eine Verdoppelung des Ausdrucks zu verstärken lieben; sodann die übereinstimmende Neigung der Sprache, diese Verstärkung durch die allgemeinste Verneinung, durch die Verneinung von Etwas, also substantivisch auszudrücken. Es ist wohl ein Gipfel der Personifikationssucht, daß sogar das Nichts, das einfache Nichtwollen, Nichtsehen, Nichtsein, sobald man es sprachlich auszudrücken versuchte, in die Sprachform des Substantivs gebracht werden mußte.

Schon die jetzige Partikel nicht war ursprünglich ein Substantiv, genau wie franz. ne … pas; gebildet zweimal: aus ne wicht und aus nie (ni êo) wicht, d. h. nicht was, nicht irgend eine Kleinigkeit; ich brauche nur kurz zu erwähnen, daß engl. not und naught in ähnlicher Weise entstanden ist. Wicht (in Wichtelmännchen noch erhalten) bezeichnete ursprünglich ein kleines Ding, eine Kleinigkeit, so daß die Übereinstimmung der substantivischen Negierungen nicht und ne … pas mit dem lat. Substantiv nihil in die Augen fällt; sollte auch da eine Lehnübersetzung zugrunde liegen, was ich kaum glauben kann, so müßte sie in eine uralte Zeit zurückreichen, in der die Etymologie von nihil noch im Volksbewußtsein vorhanden war. Man achte aber darauf, daß, als die starke Bedeutung von nicht aus dem Sprachgefühle verschwunden war, bald wieder die Neigung aufkam, das nicht mehr verstandene nicht (nicht eine Kleinigkeit) durch ein ähnliches Wort zu ersetzen: nicht ein Blatt, ein Stroh, eine Bohne, eine halbe Bohne, ein Ei, ein Haar, nicht einen Pfifferling, einen Deut, ein Jota, ein Bißchen. Noch Luther konnte dieses nicht im Sinne unseres Nichts verwenden; von den vielen Zusammensetzungen dieses alten Substantivs mit Präpositionen haben sich einige (mit nichten, zu nichte, welch letzterer Ausdruck übrigens genaue Lehnübersetzung des biblischen εἰς οὐδεν, ad nihilum, Matth. 5, 13 zu sein scheint) bis in unsere Zeit herübergerettet.

Man vergleiche mhd. ich enweiz niht mit franz. je ne sais pas; die Ähnlichkeit ist offenbar; in beiden Sprachen wird die Negation dadurch verstärkt, daß gesagt wird, man wisse nicht einmal eine Kleinigkeit; auch im Franz. erhielt pas mit der Zeit allein die Bedeutung der Negation (pas du tout usw.), aber nicht in solchem Maße wie das deutsche nicht, welches ja auch das Zeichen der Negation (ne) noch einmal vernehmen ließ. So verlor nicht, als seit dem 12. Jahrhunderte die erste Negationspartikel (en) zu verschwinden begann, seinen substantivischen Wert, den man nur mit sehr feinem Gehör noch aus altertümlichen Wendungen herausfühlen mag.

Lange Zeit wurde nicht so zugleich für non und für nihil gebraucht, bis das pedantische Bedürfnis nach einem klar unterschiedenen Substantiv dazu führte, den Genetiv nichtes zum Range eines neuen Substantivs zu erheben; Grimm hat gelehrt, daß dieses Nichts entstanden sei aus der alten Doppelverstärkung Nichtesnicht (ganz und gar nichts); das zweite nicht wurde seit dem 14. Jahrhunderte fortgelassen und nichtes zu nichts verkürzt; ich möchte dazu bemerken, daß der kleinste positive Gegensatz von nichts, das Wörtchen es, ebenfalls in sehr vielen Fällen (sie haben's kein Gewinn, er hat es kein Hehl usw.) ein Genetiv war, der heute nur noch von einem feinen Sprachgefühl als solcher empfunden wird. Seit dem 16. Jahrhundert kommt die Pedanterei auf, das Wort durch Vorsetzung des bestimmten oder unbestimmten Artikels den konkreten Substantiven noch ähnlicher zu machen: das Nichts, ein Nichts. Von nun ab konnten nicht nur denkende Dichter wie Haller und Schiller von einem Nichts wie von einer sinnfälligen Erscheinung reden, sondern auch die Philosophen konnten besser als bisher mit dem Begriffe hantieren; und bereits Klinger spottet: es ist ein ganz artiges Bestreben unserer Philosophen, das denkbare Nichts zu einem erkennbaren Etwas zu machen. (Betracht. II. 379.)

So ist die Negation, die in irgend einer Urzeit wahrscheinlich ein ganz physiologischer Laut des Ekels und der Ablehnung war, ein nasales Herausstoßen der Luft, das vielleicht symbolisch ein Ausspeien widerwärtiger Speise bedeutete (vgl.  Kr. d. Spr. II S. 152 ff.) dazu gekommen, durch ein substantivisches Wort ausgedrückt zu werden, das dann, im Deutschen beinahe unverändert, noch einen besondern substantivischen Sinn erhielt, wenigstens in substantivischer Form den kontradiktorischen Gegensatz des verblaßtesten Abstraktums benannte, den Gegensatz von Etwas, von Sein. Und nun halte man unmittelbar daneben, was alles Hegel aus diesem Nichts zu machen gewagt hat. In diesem Falle jonglierte Hegel mit dem Begriffe in unerhörter Weise: er warf ihn hoch empor, bis der Begriff über die Erdatmosphäre und über alles mögliche Denken hinausgeriet, fing ihn dann wieder auf und durfte den Satz aufstellen, »daß Sein und Nichts dasselbe ist«. Hegel fühlt ganz gut, wie leicht man über diesen Satz lachen könne; es erfordere das keinen großen Aufwand von Witz. »Der Satz, Sein und Nichts ist dasselbe, erscheint für die Vorstellung als ein so paradoxer Satz, daß sie ihn vielleicht nicht für ernstlich gemeint hält. In der Tat ist er auch von dem härtesten, was das Denken sich zumutet, denn Sein und Nichts sind der Gegensatz in seiner ganzen Unmittelbarkeit, d. h. ohne daß in dem einen schon eine Bestimmung gesetzt wäre, welche dessen Beziehung auf das Andere enthielte.« (Enzyklopädie² S. 101.) Es braucht wohl nicht daran erinnert zu werden, daß Hegel im Werden die Wahrheit des Seins und die Wahrheit des Nichts als Einheit erblickte. Er wunderte sich nicht einmal über die Unbegreiflichkeit dieser Begriffsbewegung; er spricht darüber (a. a. O. 103) mit souveräner Verachtung: »Insofern das Nicht-begreifen-können die Ungewohnheit ausdrückt, abstrakte Gedanken ohne alle sinnliche Beimischung festzuhalten, spekulative Sätze zu fassen, so ist weiter nichts zu sagen, als daß die Art des philosophischen Wissens allerdings verschieden ist von der Art des Wissens, an das man im gemeinen Leben gewöhnt ist, so wie auch von der, die in andern Wissenschaften herrscht.«

Es ließe sich ein Buch von beträchtlichem Umfange schreiben, wenn man darstellen wollte, wie Hegel psychologisch und wie er historisch zu der Gleichsetzung der kontradiktorischen Gegensätze Sein (also Etwas) und Nichts gekommen sein möchte; ich will nur mit zwei Worten auf zwei Punkte hinweisen. Individuell, also psychologisch hatte Hegel den Wunsch oder die Aufgabe, den ontologischen Beweis für das Dasein Gottes, den Kant endlich vernichtet hatte, wieder in der alten Glorie herzustellen; dafür mit erfand er seine fünf bis sechs Grade des Seins (Sein, Dasein, Existenz usw.), dafür wurde der höchste Begriff, der des Seins für die Wirklichkeit zum letzten Begriffe gemacht, dafür wurde Denken und Sein ebenso gleichgesetzt wie Sein und Nichts, so daß beinahe eine Gleichsetzung von Denken und Nichts herausgekommen wäre. Historisch aber geht der ontologische Beweis, dessen sich Hegel so liebevoll annimmt, auf den mittelalterlichen Wortrealismus zurück.

Man halte wieder einmal fest, daß in dem Jahrhunderte langen Kampfe zwischen Nominalisten und Realisten schon die Keime zu den meisten modernen Spekulationen verborgen liegen; man achte besonders darauf, daß der mystische Pantheismus aus dem einstens orthodoxen Wortrealismus hervorging, der moderne Atheismus jedoch aus dem schon damals ketzerischen Nominalismus. Dann wird es verständlich, wie schon von der offiziellen Kirche (Augustinus) das Nichts dem Etwas gleichgesetzt werden konnte, wie dann später die mystische Theologie die Gottheit zu einer Art Negation machen konnte. Der Wortrealismus, oder der Wortaberglaube äußert sich über das Nichts kaum irgendwo krasser als in einer Schrift »De nihilo et tenebris« deren Verfasser der Abt Fredegisus war, ein Schüler von Alcuin. Gott habe allen Dingen Namen geben lassen, also gebe es kein Ding ohne sein zugehöriges Wort und kein Wort ohne sein zugehöriges Ding; darum müsse das durch Nichts Bezeichnete ebenfalls Etwas sein. Ein Spiel mit dieser wortabergläubischen Gleichsetzung von Nichts und Etwas war nun schon bei Dionysius Areopagita die verneinende Theologie gewesen, die in Gott das Unsagbare sah. Meister Eckhart ringt dann immer wieder mit der Negation in der Gottesvorstellung; er unterscheidet zwischen Gott und Gottheit. Außer Gott ist die Kreatur ein lauteres Nichts. Gott wirkt, die Gottheit wirket nicht. Aber auch Gott ist zugleich Nichts und Eins. »Was icht ist, das ist auch nicht.«

Hegel, der das abendländische Philosophieren für Jahrzehnte zu nichte machte, dessen unerhörte Kraft im Durcharbeiten alter Begriffe aber doch nicht geleugnet werden kann, wird in seiner Deutung des Nichtbegriffs wie in seiner ganzen Sprachtyrannei wohl am ehesten zu retten sein, wenn wir den Mut haben, ihn gegen die Gewohnheit der Philosophiegeschichte den Mystikern zuzurechnen. Ist Mystik als Summenwort für weit auseinanderliegende Seelenstimmungen die ewige Sehnsucht der redenden Menschen, das Unaussprechliche auszusprechen (vgl. Art. Mystik), so ist Hegel ein Mystiker, so gut wie einige Wortrealisten vor Meister Eckhart, und hat es nur darin versehen, daß er das Unaussprechliche nicht mit dunklen Gefühlsworten, im Bilde, ahnen lassen, sondern es mit subtil definierten Verstandesworten begrifflich erfassen wollte. Natürlich hätte eine Darstellung der mystischen Herkunft Hegels auch Herakleitos den Dunkeln zu nennen.

Der alte sophistische Satz nihil est, der eigentlich in dieser Synthese eines absolut negierenden Subjekts und eines absolut positiven Prädikats Hegels Gleichsetzung von Nichts und Sein vorweggenommen hat, ist schon früh durch den tadelnden Ausdruck Nihilismus als eine sehr schlechte Art des Philosophierens an den Pranger gestellt worden; man hat in neuerer Zeit die buddhistische Lehre Nihilismus genannt. Immer mit einem tadelnden Gefühlston wurde auch gelegentlich der konsequente Idealismus Berkeleys und der konsequente Zweifel an jeder Möglichkeit einer Erkenntnis als Nihilismus gebrandmarkt. Mit allen diesen Bedeutungen des Wortes hat das politische Schlagwort Nihilismus nur das Eine gemein, daß auch da Gegner den Namen aufgebracht und ihn wie ein Schimpfwort benützt haben. Es ist richtig, daß das Wort Nihilist zuerst (1861) durch Turgenjews Roman »Väter und Söhne« in Europa eingeführt und dann dadurch populär wurde, daß die russischen Rebellen sich den Schimpfnamen als Parteinamen beilegten und ihn so verstanden: es dürfe von den bestehenden Staatseinrichtungen Nichts übrig bleiben, der Staat müsse ganz neu geschaffen werden. Aber ich fand in Krug's Supplement zu seinem philosophischen Lexikon (1838) den Beweis, daß das Wort in Frankreich schon früher in einem ähnlichen Sinne üblich war. Der gute Krug schreibt: »Im Französischen heißt auch der ein Nihiliste, der in der Gesellschaft und besonders in der bürgerlichen nichts von Bedeutung ist (nur zählt, nicht wiegt oder gilt) desgl. in Religionssachen nichts glaubt. Solcher sozialen oder politischen und religiösen Nihilisten gibt es freilich weit mehr als jener philosophischen oder metaphysischen, die alles Seiende wissenschaftlich vernichten wollen.« Diese Notiz ist um so merkwürdiger, als die politische Bedeutung des Wortes von Littré (1878) noch nicht gebucht worden ist, wohl aber in Littrés Supplement (1879), und da schon als eine russische Form des Sozialismus. Darmsteter erwähnt, daß das Wort schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts von Mercier gebildet worden sei. Aber dieser sehr temperamentvolle Mercier denkt offenbar wieder mehr an den philosophischen Nihilismus; er sagt (Néologie II, S. 143): »Nihiliste ou Rienniste. Qui ne croit à rien, qui ne s'intéresse à rien. Beau résultat de la mauvaise philosophie, qui se pavane dans le gros Dictionnaire encyclopédique! Que veut-elle faire de nous? Des Nihilistes.«2 Übrigens mag Turgenjew (in seinen Lebenserinnerungen) mit gutem Glauben – er wußte wohl selbst nicht mehr, welchen französischen Autor er nachgeahmt hatte – versichert haben, daß er das Wort Nihilist erfunden habe und zwar nicht im Sinne eines Vorwurfs; denn Wundt hat wohl nicht unrecht, wenn er es für wahrscheinlich hält, daß das politische Schlagwort ohne Erinnerung an das frühere philosophische Schlagwort neu gebildet worden sei (Die Sprache² II 579). Wenigstens in Deutschland knüpfte der Sprachgebrauch nicht an den alten philosophischen Nihilismus an, der seit dem 12. Jahrh. gelegentlich als Bezeichnung für die Lehre nihil est vorkommt.

Man sollte bei der Geschichte solcher Wortbildungen aber nicht vergessen, daß sie Spiele des Witzes sind und den sogenannten Gesetzen des Bedeutungswandels schon gar nicht unterliegen. Die Endung ismus war, um eine Denkrichtung zu bezeichnen, schon so vielen Eigennamen und abstrakten Begriffen hinzugefügt worden, daß der Spaß nahe lag, die allerradikalste Partei dadurch zu verhöhnen, daß man ismus mit nihil verkoppelte; auch die Bildung des Wortes Pessimismus war zuerst nur eine witzige Verhöhnung des bedenklichen Begriffes Optimismus; in ähnlich witziger Weise hat man die Endsilbe kratie dazu benützt, um zum Schimpfe für ganz sinnlose Regierungsformen Ausdrücke wie Plutokratie, Bürokratie zu erfinden, von denen der letzte trotz seiner sprachlichen Ungeheuerlichkeit in die Gemeinsprache übergegangen ist.


  1. Man hat ital. niente vielfach anders erklären wollen: aus ne ette, mundartlich: nicht ein Pünktchen, nichts von Wert; aus ne fiente, keinen Dreck; sehr verführerisch aus ne gent im Sinne von nicht ein Wesen, gar nichts; mir leuchtet die oben erwähnte Etymologie von Diez immer noch besser ein, und ich lasse den Gedanken dahingestellt, ob niente nicht doch aus ne ette (wie franz. néant) Entlehnung aus dem deutschen nicht (ahd. neowiht) sein könnte.
  2. Das neologische Wörterbuch von L. S. Mercier (im Jahre 9 der Republik, also 1801 erschienen) wird weit seltener zitiert als desselben Verfassers Tableaux de Paris; doch dieses Wörterbuch wäre eine Fundgrube der Wortgeschichte, nicht nur für die Franzosen. In der Vorrede stellt sich Mercier, oft recht anregend, als ein Totfeind Newtons und anderer bedeutender Männer vor; aber seine Angriffe gegen die Académie française und ihr Wörterbuch, gegen den französischen Alexandriner und überhaupt gegen die Sklaverei der französischen Sprache sind Dokumente von historischer Wichtigkeit; er bekämpft die französischen Klassiker des 17. Jahrhunderts und verteidigt mit Nachdruck die großen Sprachkünstler des 16. Jahrhunderts.