Wahrheit
I.
Wer über den Begriff der Wahrheit oder des Wahren (ich werde nachher den Begriff Wahrheit zu eliminieren suchen) schulgerecht reden will, hat den Begriff vor allem in seine Arten und Unterarten abzuteilen, eine saubere Klassifikation von allerlei Wahrheiten aufzustellen. In früheren Jahrhunderten unterschied man so die metaphysische oder transzendente, die ethische und die logische Wahrheit; die metaphysische Wahrheit hat niemals jemand begriffen und niemand jemals; die ethische Wahrheit fiel mit der Wahrhaftigkeit zusammen; und von der logischen Wahrheit, der eigentlichen Wahrheit, gab es wieder eine engere Definition und Klassifikation. In unsern überaus aufgeklärten Tagen teilt man die Wahrheit ein in die formale und in die materiale Wahrheit, versteht unter der materialen Wahrheit die empirische Wahrheit (so daß die ewigen Wahrheiten, die metempirischen, die doch wieder nicht formal sind – man denke an die beiden Grundsätze der mechanischen Wärmelehre – nirgends eine Stätte finden), teilt die empirische Wahrheit in die physische und die historische und weiß wiederum nicht, wo man die große Gruppe der psychischen Wahrheiten einordnen soll. Aber so ist die Sprache nicht entstanden, daß sich die verschiedenen Bedeutungen eines Wortes im Sprachgebrauche, und nun gar die eines so banal verstiegenen Wortes, sauber nach einer Kategorientafel ordnen ließen. Auch unsere besten Wortgeschichtsschreiber verfallen immer wieder in den Fehler, Ordnung bringen zu wollen in den Zufall einer Wortgeschichte; Glückes genug, wenn sich aus den Quellen die Geschichte ohne Ordnung herleiten läßt. Ein besonders starkes Beispiel liefert die Bedeutung, in welcher Wahrheit nicht mehr und nicht weniger sagen will als Glaube.
Zunächst einige Belege aus dem Deutschen Wörterbuch. Im Evangelium Johannis wird die neue Lehre gegenüber dem alten Gesetz sehr oft die Wahrheit genannt (ἀληθεια); und ebenso in den Übersetzungen: »das Gesetz ist durch Mosen gegeben, die Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christum worden; ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.« Selbstverständlich ging diese Redeweise in den cant der echten Christensprache über; »die Wahrheit haben« hieß den sichern Glauben an Christus besitzen; fast parodierend ist es, wenn Goethe in dem schönen »sehr irdischen« Bekenner-Briefe vom 28. Okt. 1779 an Lavater schreibt: »Ich denke auch aus der Wahrheit zu sein, aber aus der Wahrheit der fünf Sinne.« Nicht ganz hierher gehört es, wenn Geistliche und Laien (sogar die Weltkinder Goethe und Zelter) für sterben sagen »an der Wahrheit sein,« denn da wird nicht der christliche Glaube, sondern Christus selbst oder Gott mit der Wahrheit identifiziert, was doch wieder eine ganz andere Metapher ist. Es war aber derselbe cant, der seit der Reformationszeit das Luthertum die Wahrheit nannte, beinahe wie mit einem terminus technicus.
Der Fall ist deshalb so merkwürdig, weil nach einem Sprachgebrauch, den man fast international oder philosophisch nennen könnte, Glaube und Wahrheit Gegensätze sind, insofern nämlich wahr genannt wird, was wir zu wissen glauben, im Gegensatz zu dem, wovon wir wissen, daß wir es nur glauben. Jeder Schulknabe kennt den Unterschied. Wahr nennt auch der Schulknabe, wovon er überzeugt ist, überzeugt durch seine Sinne oder durch eine Autorität; glauben tut er, wovon er nicht völlig überzeugt ist, was ihm in unzähligen Graden der Wahrscheinlichkeit möglich scheint, von der Grenze der Unmöglichkeit bis zur Grenze der Gewißheit. Wenn nun das Evangelium Johannis das Vertrauen in die Lehre Jesu Christi just Wahrheit nennt, so denkt der Verfasser nicht daran, etwa den subjektiven Glauben, einen gewissen Grad der Wahrscheinlichkeit mit Wahrheit zu umschreiben; ihm ist die Erlösung durch den Heiland wirklich die äußerste Gewißheit. Das Altertum besaß ja den Glaubensbegriff überhaupt nicht, abgesehen etwa von den Fällen (wie bei Jesus Sirach), wo geradezu »ich habe Glauben« so viel heißt wie »ich habe Kredit«. Seitdem dieses Kredit- oder Vertrauensverhältnis als Religion oder Glaube auch auf die Heilswahrheiten angewandt worden war und scharf zwischen dem Vertrauen auf Sinne und Vernunft (Wahrheit) und dem Vertrauen auf die Wahrhaftigkeit Gottes und seiner Offenbarung (Glaube) unterschieden worden war, seitdem war es sprachwidrig, vom Christenglauben oder gar vom Luthertum (weil da die unmittelbare Offenbarung fehlte) als von der Wahrheit zu sprechen.
In der deutschen Sprache wenigstens, wo der Begriff wahr, wie wir sehen werden, lautlich aus dem Lateinischen und inhaltlich aus der römischen Jurisprudens entnommen war. Im Englischen wird wahr und Wahrheit ohne nachweisbare Entlehnung ausgedrückt durch true und truth. Wir haben das gleiche Wort in unserem treu, besonders deutlich in der alten Redensart Treu und Glauben, die eigentlich eine Korrelation ausdrückt. Treu und Glauben ergänzen einander: der Gläubiger hat Glauben, der Schuldner hat Treu. Der Gläubiger also, der an die Treue des andern glaubt, vertraut; der Schuldner, wenn er treu ist, wenn er Vertrauen verdient, hält sein Wort und darf in diesem Sinne wahr, d. h. wahrhaft genannt werden. So war es möglich, daß Glaube und Wahrheit, Gegensätze in sorgfältiger deutscher Sprache, zu einer Korrelation verbundene Entsprechungen in einer uralten Redensart, in der nächst verwandten englischen Sprache einander vertreten konnten. True und truth treten für alle Bedeutungen unseres wahr und Wahrheit ein; vom Glauben an die Offenbarung (to do truth = nach Gottes Willen tun) bis zu dem seltsamen truism, wo true nur noch einen wertlosen Gemeinplatz bedeutet.
An dieser Stelle war es mir nur darum zu tun, auf die Tatsache hinzuweisen, daß der cant, der Wahrheit mit Glauben vertauscht, uns im Evangelium Johannis und bei den Lutheranern völlig sprachwidrig scheint, daß aber in einer so reichen und modernen Sprache wie der englischen aus einem Korrelatbegriff des Glaubens geradezu das allgemeine und allein übliche Wort für Wahrheit sich bilden konnte.
Die Kirche selbst war nie so anspruchsvoll, den Glauben, den sie vorschrieb, mit der auf Anschauung oder Vernunft begründeten Wahrheit gleich zu setzen. Dem Sinne nach waren Tertullianus und Augustinus ganz einig darüber, daß geglaubt werden müsse, was für wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit zu absurd war: credo quia absurdum est. Tertullianus drückte das so aus: credibile (der Tod von Gottes Sohn), quia ineptum est; Augustinus aber rühmt die katholische Kirche, weil sie einfach verlangte, man sollte glauben, was nicht zu beweisen war.1
Das Bewußtsein, daß der Glaube sich auch auf das Absurde beziehe, ist vielleicht am krassesten ausgesprochen in einer katholischen Schrift, die Paulus Sarpius zitiert: credendum est ecclesiae hierarchicae et si nigrum esse dixerit, quod oculis album videtur.
Dieser Gegensatz zwischen Glauben und Wahrheitserkenntnis oder Wissen wird aber nicht allein von der Wortgeschichte des englischen truth überbrückt. Ich will gleich hier bemerken, daß unser glauben (althochdeutsch giloubon) so gut wie identisch ist mit geloben und daß dieses geloben in seiner ältesten nachweisbaren Bedeutung ein durch ge verstärktes loben, gut heißen ist. Vielleicht Übersetzung von probare. Ja, was einzig und allein zugrunde liegt, wenn man ein Urteil für wahr erklärt, wenn man zu einem Satze ja sagt und nicht nein, das ist in diesem alten geloben oder glauben schon enthalten. Loben, geloben heißt in den Nibelungen so viel wie unser verloben, d. h. feierlich ja sagen. (D. W. Art. geloben, Sp. 3043).
II.
Das Wort des neuen Testaments heißt ἡ ἀληθεια, eigentlich die Wahrhaftigkeit, wie das Adjektiv ἀληθης den Menschen bedeutet, der nichts verbirgt, und dann erst die Sache, die Meinung, die nicht verborgen wird. Was Jesus dabei dachte, wenn er sich selbst die Wahrheit nannte, können wir um so weniger verstehen, als der Ausspruch ein geflügeltes Wort geworden ist. Verständlicher ist es, wenn er (Ev. Joh. 18, 37 u. 38) im Verhör, Pilatus gegenüber sagt, er sei in die Welt gekommen, für die Wahrheit zu zeugen. Was man so verständlich nennt; wir haben kein Recht, die Form zu verlangen: für seinen Glauben zu bluten. Nach diesen Worten des Heilands stellte Pilatus die berühmt gewordene ironische Frage: τι ἐστιν ἀληθεια; Was ist Wahrheit? Und da er das gesagt, ging er hinaus zu den Juden, aus seiner Kanzlei, wo Jesus verhört wurde. (Schon Bacon macht darauf aufmerksam, daß Pilatus die Antwort nicht abwartete.)
In seinem recht liederlichen Aufsatz »Vérité« (Dict. philos.) knüpft Voltaire, wie jeder, der den Wahrheitsbegriff untersuchen wollte, an den großstädtischen Spott des Landpflegers an. »Il est triste pour le genre humain que Pilate sortit sans attendre la réponse; nous saurions ce que c'est que la vérité. Pilate était bien peu curieux.« Voltaire will sich natürlich nicht vermessen, für den Urheber aller Wahrheit zu antworten, meint aber nachher doch: »La vérité est un mot abstrait que la plupart des hommes emploient indifféremment dans leurs livres et dans leurs jugements pour erreur et mensonge.«
Was ist Wahrheit? Un mot abstrait jedenfalls, und zwar ein abstraktes Substantivum. Nun haben wir gelernt, daß schon in der Wirklichkeitswelt nur Eigenschaften existieren, nicht die Dinge außer und über ihren Eigenschaften; daß die Dinge, die Substantive einzig und allein in ihren Eigenschaften existieren und nicht zum zweitenmale neben ihren Eigenschaften. Es ist trotzdem lobenswerte sprachliche Ökonomie, wenn die gemeinsame Ursache der Merkmale oder Eigenschaften durch ein substantivisches Wort zusammengefaßt wird, wenn wir die gemeinsame Ursache gewisser Empfindungen (rund, schwer, süß, duftend usw.), Apfel nennen. Unökonomisch aber ist es in den meisten Fällen, wenn wir Empfindungen unseres Innenlebens, wie schön, groß, heilig, wahr usw. durch Anhängen eines Suffixes zu einem Substantiv machen, das in rhetorischen Stilübungen ganz gut klingt, sich aber von dem adjektivischen Merkmale in nichts unterscheidet.
Wahrheit tritt in den ältesten deutschen Quellen (vgl. D. W. XIII. S. 839) noch nicht auf; der Begriff heißt ursprünglich das Wahr oder die Wâra; erst bei Isidor und dann bei Ottfrid die Wârnissa und das Wârnissi. Schopenhauer, der von dem späten Auftreten des Substantivums Wahrheit gewiß nichts wußte und der an das Verhältnis zwischen Adjektiv und Substantiv, wie die Sprachkritik das lehrt, nicht dachte, macht sich doch aus Anlaß der drei Worte gut, schön und wahr recht weidlich lustig und erst recht über ihre Substantivierung. Er verspricht (W. a. W. I. § 65) die Begriffe gut und böse zu analysieren: »Dies kann ich tun, weil ich selbst so wenig gesonnen bin, in der Ethik hinter dem Worte gut einen Versteck zu suchen, als ich solchen früher hinter den Worten schön und wahr gesucht habe, um dann etwan durch ein angehängtes heit, das heutzutage eine besondere σεμνοτηϛ haben und dadurch in mehreren Fällen aushelfen soll, und durch eine feierliche Miene glauben zu machen, ich hätte durch Aussprechung solcher drei Worte mehr getan, als drei sehr weite und abstrakte, folglich gar nicht inhaltreiche Begriffe bezeichnen, welche sehr verschiedenen Ursprung und Bedeutung haben. Wem in der Tat, der sich mit den Schriften unserer Tage bekannt gemacht hat, sind nicht jene drei Worte, auf so treffliche Dinge sie ursprünglich auch weisen, doch endlich zum Ekel geworden, nachdem er tausendmal sehen mußte, wie jeder zum Denken Unfähigste nur glaubt, mit weitem Munde und der Miene eines begeisterten Schafes, jene drei Worte vorbringen zu dürfen, um große Weisheit geredet zu haben?«
Wir wissen jetzt, daß die Substantivendung heit (ebenso wie die Adjektivendung lich) einst ein selbständiges Wort war, das gotische haitus (Art und Weise), wie schon (vgl. II. 241) dargelegt. Wir wissen, daß in unserer Sprache die Endung heit sich verbindet mit Substantiven (Christen heit, Gott heit, Narr heit), mit Adjektiven (Frei heit, Weis heit, Dumm heit). Wir wissen aber nicht, welche Bedeutung die aus Substantiven, Adjektiven (auch Partizipien) entstandenen Kompositionen nachher annehmen. Man sollte glauben, daß selbst derartige Endsilben durch Lehnübersetzung oder Lehnanalogie aus einer Kultursprache in die andere übergegangen seien; aber was dann übersetzt wurde, war doch wohl mehr ein rhetorischer Schmuck als ein Begriff. Abgesehen von den Fällen, wo die Zusammensetzungen mit heit zu Sammelnamen wurden (nicht ursprünglich) liegt in diesen breit klingenden Worten, wie Toll heit, Schön heit, Wahr heit, nichts, was die Sprache nicht durch die einfachen Adjektive hätte ausdrücken können. Ebenso steht es um die lateinischen Endungen tudo und tas. Und all die poetischen, religiösen und schulgemäßen Anwendungen dieses ganz überflüssigen Substantivs Wahrheit wären nicht möglich gewesen, wenn die Sprachen nicht ihre Phantasie hätten, wenn durch diese Anfügung von heit, als ob die alte Bedeutung nachwirken würde, das Adjektiv wahr (über dessen Sinn wir noch nichts ausgemacht haben) nicht zu der Würde einer Person erhoben worden wäre. Die Wahrheit gehört zu den Personifikationen.
Es ist fast gleichgültig, in welcher der abendländischen Sprachen wir Beispiele für die personifizierte Wahrheit sammeln wollen. Die gemeinsame christliche Seelensituation und auf ihrem Grunde ein wechselseitiger Austausch von Lehnübersetzungen hat da eine »Sprachenfamilie« geschaffen, die wirklicher ist als die Familie der indoeuropäischen oder arischen Sprachen. Die Sprachwissenschaft gibt das nur noch nicht zu.2
In der deutschen Sprache ist die Personifikation der Wahrheit mindestens so häufig wie in den benachbarten Kultursprachen. Die Wahrheit wird geliebt und gehaßt, verteidigt und geflohen; seit alter Zeit steht man bei der Wahrheit, steht ihr bei; man strebt, dürstet nach der Wahrheit (veritatem quaerere); man streitet für die Wahrheit; man gibt der Wahrheit die Ehre, man gibt ihr Raum (to give way to truth), man weicht der Wahrheit (se rendre à la force de la vérité); umgekehrt kann man der Wahrheit im Lichte stehen (to hinder the light of truth), der Wahrheit Gewalt tun, die Wahrheit unterdrücken, gegen die Wahrheit (je nachdem) taub oder blind sein. In allen diesen Fällen ist die Metapher der Personifikation mehr sprachlicher Art; man kann häufig das Wahre für die Wahrheit setzen. Natürlich auch in den folgenden Beispielen, wo aber die Personifikation lebhafter ist, wie sie mir lebhafter scheint in » blind sein gegen die Wahrheit« als in » taub sein.« Die Wahrheit wird zum Subjekt: sie kommt an den Tag (emergit), sie herrscht, sie triumphiert, sie erhebt ihre Stimme, sie wird selbst Göttin. So kann sich die Wahrheit sprachlich wieder mit andern Substantiven verbinden, unter denen nicht wenige wieder Scheinbegriffe, heimliche Adjektive oder Personifikationen sind. Freund oder Liebhaber der Wahrheit (cultor veritatis, lover of the truth), der Weg der Wahrheit, der Mund der Wahrheit, das Licht der Wahrheit (lux veritatis); Spiegel (eigentlich ganz allegorisch), Quelle, Macht, Sieg, Reich, Tempel (seltsamerweise immer der heidnische Tempel, nicht in diesem Sinne Kirche), zur Steuer (eigentlich Lehnübersetzung von firmamentum veritatis, aus der Zeit, da Steuer noch Stütze war), Schein (woraus die wichtige und ausgedehnte Wortgruppe des Wahrscheinlichen, der similitudo veri), Stempel, Probierstein, Kriterium der Wahrheit.
In den meisten Fällen dieses bildlichen Sprachgebrauchs ließe sich unschwer für das Substantiv das ursprüngliche Adjektiv einsetzen: man ist Freund oder Feind des Wahren, das Wahre siegt oder unterliegt. Aber die Personifikation selbst und die sprachliche Verbindung mit menschlichen, persönlichen Substantiven und Verben konnte bald Ursache, bald Folge werden (wer könnte das in einer Wortgeschichte immer auseinanderhalten!) einer Auffassung der Wahrheit oder des Wahren, die für den Wahrheitsbegriff sehr wichtig geworden ist, vielleicht verhängnisvoll. Der Wahrheitsbegriff, ursprünglich ganz nüchtern, wurde zu einer allegorischen oder symbolischen Gottheit erhoben, zu einem Ideal. Es kam in den Begriff etwas Religiöses hinein; die Wahrheit wurde etwas Unendliches, ein Grenzbegriff, ein letztes Ziel des Menschen und zwar, auf Kosten der Sprachlogik, zugleich subjektiv und objektiv. Wahr, wahrhaft zu sein und das Wahre zu denken, diese beiden grundverschiedenen Ziele oder Ideale konnten (in allen Kultursprachen) mit dem gleichen Worte bezeichnet werden. Auf der Seite des subjektiven Ideals ist die Verwechslung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit so sinnlos und darum seltsam, daß sie wohl mit Recht als eine Lehnübersetzung erklärt wird; auch Verwechslungen können übersetzt werden. Im Hebräischen, das nach dem Geiste der semitischen Sprachen überaus zu Personifikationen neigt, wird dem Jehovah sehr häufig Redlichkeit, Zuverlässigkeit zugesprochen, mit einem Worte, das sagen will, daß er sein Wort fest werden läßt: emet. Dieses Wort wird in der Vulgata mit veritas übersetzt, und dieses alttestamentarische veritas ist wohl das Stammwort, aus dem die ganze Sippe hervorgegangen ist, welche Wahrheit zu einem ethischen oder religiösen Begriff, zu einer Gottheit und zu Gott selbst gemacht hat.
Im Neuhochdeutschen ist das Durcheinander von Wahrheit und Wahrhaftigkeit seltener geworden; umso tiefer steckt die Verwirrung im englischen truth, das schon durch seine Einsilbigkeit zu jedem Dienste bereit ist, von der nichtssagenden Schwurformel by my truth, über das Ideal der Wahrhaftigkeit bis zum Gebrauche in der Erkenntnistheorie. Der Rat des Polonius an seinen Sohn: this above all, to thine ownself be true, scheint mir den einzigen Fall zu nennen, wo das objektive und subjektive Ideal ohne Unverstand mit dem gleichen Worte genannt werden kann. Die deutsche Übersetzung treu darf uns nicht beirren; das eben ist merkwürdig, daß die englische Sprache für die Begriffe wahr und treu nur Ein Wort hat. »Sei wahr gegen dich selbst«, bekenne dich selbst zu dem, was du für wahr erkannt hast und lebe danach. Heute sagt man: werde wie du bist. Mit Ausnahme dieses Falles, wo das Ideal der Erkenntnis und das Ideal des Handelns durch die gleiche Persönlichkeit vereinigt wird, hat Wahrheit als ethische Wahrhaftigkeit und Wahrheit als Übereinstimmung des Urteils mit der Wirklichkeit miteinander nicht mehr zu tun, als (nach dem alten Philosophenscherz) konkret mit konkav. Helmholtz hat die Schnurre gern zum Besten gegeben. Zu Kants Nachfolger, der über Kants Philosophie einen populären Vortrag gehalten hatte, kamen die Vorstandsdamen und erhielten die Erlaubnis, sich über einiges belehren zu lassen, was nicht ganz klar geworden war. So wäre ihnen z. B. der Unterschied von konkret und konkav sehr dunkel geblieben.
Es wird sich schwerlich ausmachen lassen, ob die Ideal-Vorstellung des Begriffs erst auf dem Umwege über die Personifikation und Vergottung Wahrheit in das Adjektiv hineinkam, oder ob wahr für sich diesen Bedeutungswandel hätte durchmachen können. Jedenfalls haben wir in einem überaus merkwürdigen Sprachgebrauch das attributive wahr als Ersatz für den Superlativ »der einzig gute, der einzig richtige«, was doch so viel heißt wie der Beste, der Richtigste. So spricht man von der wahren Religion, Philosophie, Kunst, Schönheit, Freiheit, dem wahren Geschmack, Glück, Gut usw. Wir werden noch sehen, wie dieser Sprachgebrauch im Sinne eines Ideals sich doch wieder mit dem nüchternsten Sprachgebrauch berührt, der mit wahr nur die Richtigkeit einer rechtlichen Tatsache aussagen will, einer Schrift oder eines Zeugnisses.
Hier aber möchte ich auf eine überraschende Feinheit der Sprache aufmerksam machen, auf einen wahren Übermut der Sprache. Ich bitte zu beachten, daß der superlativische oder idealisierende Gebrauch (wahre Poesie, wahre Philosophie) eine besonders starke Betonung und Unterstreichung des Attributs zur Folge hat. Nun gibt es einen ganz nah verwandten Sprachgebrauch (ich habe es eben einen wahren Übermut der Sprache genannt), der bewußt bildlich und übertreibend einen großen Maßstab anlegt und diesen Maßstab im selben Atem wieder ablehnt. In solchen Fällen verliert das Attribut wahr seine Betonung. Dieser Sprachgebrauch knüpft häufiger an konkrete Personen an oder an Sachen als an Abstracta. Mit der wahren Poesie meint man die einzig gute Poesie, z. B. Dante im Gegensatz zum Naturalismus oder umgekehrt; mit wahrer Philosophie meint z. B. der Katholik die einzig richtige Lehre des Thomas. Sagen wir aber von einem Offiziersburschen, von einem Hausknecht, er sei ein wahrer Poet, ein wahrer Philosoph (wobei wahr erstaunlich unbetont bleibt), so meinen wir ungefähr: wir vergleichen ihn mit einem Poeten, mit einem Philosophen, wissen aber ganz genau, daß er keiner ist. Ich habe diesen Wechsel der Betonung schon (II. 409) bei den Wörtern ganz, förmlich erwähnt.
Wir haben da also einen Sprachgebrauch, der den unklaren Wahrheitsbegriff durch Idealisierung auf die Spitze treibt, mit einer Art Ironie dem Begriffe die Spitze wieder abbricht und nun die ironische Umkehrung durch Tonlosigkeit andeutet. Herm. Paul wäre der rechte Mann, solche Betonungsfeinheiten, für welche die alte Sprachlehre keinen Sinn hatte, aus ihrer Verborgenheit aufzuspüren. Die ironische Verwendung von wahr ist durchaus nicht immer an die Tonlosigkeit gebunden. »Du bist mir der Wahre«, will trotz der starken Betonung sagen: du bist nicht der Rechte. In der ironischen Redensart »das ist der wahre Jakob«3 war wahr ursprünglich betont; als Titel eines Witzblattes hat »der wahre Jakob« ein unbetontes wahr.
Wir haben nun den Wahrheitsbegriff in seiner Idealisierung, seiner Personifikation, sodann in der Umkehrung, bis zur ironischen Nullität, kennen gelernt; es ist Zeit, die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes anzusehen, des Adjektivs wahr.
III.
Auszugehen ist von dem lateinischen verus, weil die Wortgeschichte auf kirchlichem Gebiete den Vulgatatext zur Grundlage hat und weil der Einfluß der Jurisprudenz erst recht in lateinischen Worten stattfand. Ganz abgesehen davon, daß das deutsche wahr höchst wahrscheinlich ein lateinisches Lehnwort, eben verus ist.
Der Streit um diese Frage, ob wahr nämlich Lehnwort aus dem Lateinischen sei oder nicht, ist zu bezeichnend für den chauvinistischen Betrieb der Etymologie, als daß ich ihn nicht kurz erwähnen sollte. Der alte Wachter, der zu Anfang des 18. Jahrh. eine erstaunliche Kenntnis der germanischen Sprachgeschichte und dazu viel Vorurteilslosigkeit besaß, lehrt in seinem Glossarium Germanicum (1727) bereits, daß diese vox, weil sie weder im Gotischen noch im Englischen zu finden sei, de latinitate suspecta sei. Adelung erklärt dagegen wahr für urgermanisch. Und das D. W. (in dem von K. v. Bahder bearbeiteten Bande) wagt kein ganz entschiedenes Wort. »In der Bedeutung gehören verus und wahr so nahe zusammen, daß ein näherer Zusammenhang unzweifelhaft besteht. Entlehnung des deutschen Wortes wäre bei seiner beschränkten Verbreitung nicht undenkbar und hätte eine Analogie an sicher (securus), doch wird man das Wort »ungern« aus dem Zusammenhang mit … Wörtern (wie zurvari, suspiciosus und vaere, Bündnis) herausreißen.« Man achte auf die Ausdrucksweise dieser Wissenschaftler; für Wachter ist das Wort der Latinität verdächtig, wie es Ärzte gibt, die sich nicht scheuen, einen Kranken der Lues verdächtig zu nennen; und das D. W. will das Wort nur ungern den Lehnwörtern zurechnen. Als ob die Kraft, die Schönheit, der Sinn eines Wortes, wenn es nur eingedeutscht ist, durch seine Abstammung etwas verlöre! Als ob die Wissenschaft sich schlimmstenfalls um einen solchen Verlust kümmern dürfte! Aber es bleibt dabei: jedes Wort wird so lange für urdeutsch, für ehelich erklärt und verteidigt, als die Bastardschaft nicht unwiderleglich nachgewiesen ist.
Das D. W. kommt zu der Wahrheit letztem Schluß: » wahr wird doch ein echt germanisches Wort sein, das aber … frühzeitig unter den Einfluß von verus geriet und in der Bedeutungsentwicklung durch dies bestimmt worden ist.« Da das frz. vrai seltsam genug nicht ver heißt (Diez leitet es von einem veracus (verax) her, das aus verus entstanden sein muß, wie ebriacus aus ebrius), so könnten eifrige Germanisten vrai für ein Lehnwort aus einer germanischen Sprache erklären.
Schon das lateinische verus findet sich nun in den wichtigsten Bedeutungen unseres wahr; es bezeichnet auch schon den wahrhaftigen, aufrichtigen Menschen; zunächst aber echte Dinge und Vorstellungen im Gegensatze zu fictus, falsus, sodann fast substantivisch das Wirkliche, das Wahre, die Wahrheit im Gegensatze zu falsum, mendacium und endlich auch schon das Ideal der vernünftigen Richtigkeit wie in vera causa, die gute Sache.
Sollte noch ein Zweifel sein, ob wahr das umgeformte Lehnwort verus sei oder nicht, daran kann nicht gezweifelt werden, daß in sehr alter Zeit Theologie und Jurisprudenz, christliche Theologie in lateinischer Sprache und römische Jurisprudenz, die Bedeutung unseres wahr bestimmt haben. Für so alte Zeit liegt zwischen den beiden Einflüssen kein Widerspruch. Wir Unchristen unterscheiden, wie ich einleitend gesagt habe, zwischen Wissen und Glauben; die Lehrer und Bekenner des alten Christentums sahen in den schwierigsten Mysterien doch nur die richtige Weltansicht, die notorische Wahrheit; und das Notorische, das allein dem juristischen Betriebe zugrunde zu legen ist, das bedeutete das rechtliche verus oder wahr. Der Gebrauch ist im Mittelalter sehr vielseitig, nicht nur in Deutschland. Verificare, vérifier, wahrmachen heißt: eine Aussage, eine Forderung, eine Anklage vor Gericht dergestalt erweisen, daß der Richter weiter gehen kann. Noch Luther gebraucht beweisen und wahrmachen als gleichbedeutend. Die alten Wörterbücher übersetzen wahrmachen mit verificare, adverare, probare, comprobare. Auch in der Dichtersprache findet sich (Walther, Nibelungen) die Redensart »von wahren Schulden« im Sinne von »mit rechtem Grunde«; eine Tat, die nicht erst verifiziert zu werden brauchte, weil der Täter in flagranti ertappt worden war, hieß bis ins 17. Jahrh. hinein eine wahre Tat; auch wahrer Schein, ein augenscheinliches, sicheres Anzeichen, früher blinkender Schein, scheint ursprünglich die Vorweisung des corpus delicti bedeutet zu haben. Wahrheit ging ursprünglich denselben Weg; es war das Abstraktum für den rechtlichen Nachweis, daß eine Aussage usw. formell wahr sei. Ein besonders schlagender Beleg für diesen formellen Rechtsgebrauch findet sich im Ulmischen Urkundenbuch aus dem Jahre 1316 (D. W., Artikel wahr, 691): »daß also wahr sei und unwandelbar bleibe, was da ist geschrieben, darum haben wir zu einer Wahrheit derselben Dinge usw.« Veritas, vérité und Wahrheit entsprechen einander auch in diesem juristischen Sinne. Veritas und Wahrheit bedeutet die Anerkennung eines Besitzrechtes, dann allgemein die rechtlich erwiesene oder zu erweisende Tatsache im Gegensatze zu einer bloßen Vermutung. Sehr hübsch in einem Tiroler Weistum von 1396: »man soll schreiben (bei Anklagen) ein Wahrheit für ein Wahrheit, ein Sagmer für ein Sagmer.« (Wir sagen heute vornehm: on dit, ohne Lehnübersetzung.) Weiter heißt nun das Abstraktum Wahrheit, wie das erwähnte wahr die ordentliche, gerichtliche Feststellung: durch den Augenschein, durch das in flagranti, »mit der Wahrheit, an der Wahrheit«; ein Ehebrecher, den einer bei seinem Weibe begriff mit der Wahrheit, konnte straflos totgestochen werden; corpus delicti heißt die Wahrheit der Tat; auch die Überführung durch gerichtlichen Zweikampf war eine Wahrheit; die Wahrheit erteilen hieß: die Beweisführung zulassen; die Wahrheit leiden hieß: den Beweis unternehmen; die Wahrheit tagen = einen Tag für die Beweisführung festsetzen; und schließlich nimmt die Wahrheit die persönliche Bedeutung der Wahrheitszeugen an; die Wahrheit verschreiben heißt: die Zeugen schriftlich angeben, und einmal findet sich in den Straßburger Ratsakten die Notiz, daß die Wahrheit so und soviel Geld verzehrt habe. Auch veritas und vérité steht mitunter für Gerichtssitzung.
Die Definition des Wahren und der Wahrheit im höheren erkenntnistheoretischen Sinne plagt sich gern mit der Formel: Wahrheit ist Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Alle letzten Fragen und Geheimnisse steigen, wie wir sehen werden, mit dieser Formel vor uns auf. Ganz anders kann diese Formel der alten rechtlichen Bedeutung von wahr angepaßt werden. Ohne jede erkenntnistheoretische Schwierigkeit ist, was wahr ist, richtig, wirklich im Gegensatz zum Vorgeblichen, Falschen, Scheinbaren. Dieses attributive wahr scheint geradezu eine Übersetzung des attributiven verus zu sein. Das D. W. weist darauf hin, daß dieses attributive wahr (schon bei Gottfried, sehr häufig bei Wolfram) nicht direkt aus dem Lateinischen, sondern aus franz. Dichtungen herübergenommen ist. Sehr alt ist der kirchliche Gebrauch; »das wahre Licht,« schon bei Tatian. Noch Simon Dach dichtet einmal: »Herr Jesu, wahrer Pelikan, komm, frisch mein durstig Herz doch an.« Wahre Lehre, wahres Gotteswort, wahre Kirche usw. gehört der Predigersprache noch heute an; wahre Liebe, Freundschaft, Ergebenheit usw. scheinen nach diesem Muster gebildet. Bei Personen geht dieses wahr (wirklich das, wofür einer sich ausgibt) leicht in den Begriff ehrlich, wahrhaftig über und so auf dem Umwege über die rechtliche Bedeutung wieder zu der eines ethischen Ideals. Denn Geschichte ist im Kleinen wie im Großen als Wirklichkeit Zufall, als Darstellung fable convenue. Auch bei Wortgeschichten sollte man sich dessen von Zeit zu Zeit erinnern.
So will ich nicht allzu peinlich untersuchen, wie wahr in den rechtlichen Redensarten über den Begriff richtig zu dem Begriffe wirklich kam. Die wahre Tat, die das Gericht von der Richtigkeit der Anklage überzeugte, wurde als Prämisse des Urteils zur wirklichen Tat; sodann aber wurde die richtige Aussage (im Gegensatz zu einer erlogenen) als Darstellung der Wirklichkeit aufgefaßt. Etwas abseits von diesem Sprachgebrauch, aber doch nicht ganz ohne Zusammenhang, ist die Wortfolge wahr machen im Sinne von: verwirklichen, erfüllen; im Gerichtsdeutsch hieß wahrmachen die Wirklichkeit beweisen; in der Gemeinsprache schon im Mittelalter: eine Weissagung, ein Versprechen verwirklichen. Schiller: »er (Carlos) mache das Traumbild wahr.« Goethe: »Märchen, noch so wunderbar, Dichterkünste machen's wahr.« Selbstverständlich folgte Wahrheit diesem Sprachgebrauch; es ist schwer auszumachen, weil es bei den redenden Menschen unklar bleibt, ob die Versicherung des Zeugen oder Erzählers »das ist die Wahrheit« (mittelhd. »das ist ein Wahrheit«) besagen sollte »das ist der wirkliche Sachverhalt« oder »das ist ein wahrer Ausspruch.« Dasselbe liegt vor bei unserem alltäglichen »die Wahrheit sagen.« Eigentlich ist die Unterscheidung der Auffassungen pedantisch; es ist dasselbe gemeint, das eine Mal objektiv, das andere Mal subjektiv. Noch stärker wird die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit gefühlt bei Ausdrücken wie: die Wahrheit suchen (chercher la vérité), treffen, erfahren, ihr nahe kommen. Ähnliche Gefühle werden erregt durch Verbindung zahlreicher Präpositionen mit Wahrheit. Der Sprachgebrauch hat da oft gewechselt; früher sagte man gern aus, bei, in, mit, von, ohne Wahrheit, wider die Wahrheit. » Zur Wahrheit werden« heißt wie »wahr werden« soviel wie »Wirklichkeit werden«. Unzähligemal wird, bei jedem Versuche einer Reformation der Kunst und Poesie, Wahrheit im Sinne von Natur oder Wirklichkeit genommen. So lange schon vor dem neuen Naturalismus. Aber selbst Meister Eckhart gebraucht tiefsinnig Wahrheit im Sinne von innerer Wahrheit, von der letzten Wirklichkeit der Naturdinge.
Wir nähern uns nun der erkenntnistheoretischen Frage: was ist das Kriterium der Wahrheit, wenn Wahrheit Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist? Ein Beispiel. Seitdem der Eid, die stärkste Bekräftigung der Wahrheit, nicht mehr als Selbstverfluchung überzeugende Kraft hatte, kam eine Vergleichung mit ganz sicheren Wahrheiten als rationeller Schwur auf. »So wahr Gott lebt,« werde ich mein Wort halten. Ein Pferdehändler, der überzeugen wollte mit dem Schwur: »dieser Gaul hat keinen Fehler, so wahr der Pegasus existiert« – würde beim landläufigen Käufer wenig Glück haben. Wie aber steht es mit unsern gottfremden Versicherungen? So wahr meine Seele lebt! So wahr ich lebe! Man braucht nur die Form fragender Existenzialsätze zu wählen, um auf die Unsicherheit all dieser Vorstellungen aufmerksam zu werden. Gibt es einen Pegasus? Gibt es einen Gott? Gibt es eine Seele? Gibt es ein Ich? Wer immer das Wort Pegasus gebraucht, der weiß ganz bestimmt, daß von einem Fabelwesen die Rede ist, dem keine Wirklichkeit entspricht. Das Wort Gott wird von Millionen gebraucht, die an seine Wirklichkeit glauben und darum ihren Glauben nennen, was sie für wahr halten; das Wort wird in ganz ähnlicher Bedeutung, mit ganz verschiedenem Gefühlston wieder von Millionen gebraucht, oder doch von Hunderttausenden, die an die Wirklichkeit dieser Vorstellung nicht glauben und darum Zweifler heißen. Das Wort Seele wird von Gläubigen und Zweiflern fast gleichmäßig für etwas wie den innern Sinn gebraucht, und es ist unerheblich, daß die beiden Gruppen über die sog. Unsterblichkeit dieser Seele nicht einig sind; ob aber dem Seelenbegriff eine Wirklichkeit entspreche, darüber zu entscheiden wäre Aufgabe der Sprachkritik, die ja ganz besonders darüber wachen möchte, daß nicht die Sprache uns verführe, dasselbe Ereignis zweimal zu setzen, weil zweierlei Betrachtungsweisen zweierlei Ausdrucksmittel oder Beschreibungen geschaffen haben. Wir glauben nicht mehr an Beides: Wirkungen und Ursachen, nicht mehr an Beides: Erscheinungen und Dinge an sich, nicht mehr an Beides: Natur und Gott, nicht mehr an Beides: Leben und Seele. Und endlich: ob dem Ichgefühl ein Wirklichkeitsgefühl entspreche oder nicht, dem Ich eine Wirklichkeit oder nicht, das ist für die Skepsis eine gar schwere Frage; und von der Sprachkritik ist sie verneint worden.4
So hat uns das Beispiel von den alten und den neuen Versicherungsschwüren dazu geführt, etwas kennen zu lernen, was dem Begriffe der Wahrheit zu widersprechen scheint und was trotzdem in unserem Sprechen und Denken vorhanden ist: Grade der Wahrheit. Und der Unwahrheit. Und des Zweifels. In sehr zahlreichen Redensarten wird eine besonders wahre Wahrheit von der Wahrheit überhaupt unterschieden: die ganze, volle, gründliche, schlichte, runde, strenge, reine, pure, lautere, nackte (nuda veritas; auch die meisten andern dieser Epitheta haben Analoga in den andern Sprachen, sogar die deutsche Wahrheit), bloße, bare, ungeschminkte, dürre, scharfe, unumstößliche, ausgemachte, höchste (summa) Wahrheit. Es ist offenbar, daß all diesen ausgezeichneten Wahrheiten geringere Grade gegenüberstehen, wenn sie auch dem Sprachgebrauche nicht immer so geläufig sind wie: die halbe, die oberflächliche, die verschminkte, verblümte Wahrheit. Auch gibt es Arten der Wahrheit, die nur für ein bestimmtes Gebiet gelten oder für ein bestimmtes Fach: es gibt eine historische Wahrheit, die in unserer Zeit besonders hoch geschätzt wird und der Vernunftwahrheit entgegengesetzt ist; es gibt eine subjektive Wahrheit, die der einzig begreiflichen objektiven Wahrheit entgegensteht, eigentlich nur ein Glauben ist und sich mit der relativen Wahrheit und dann wieder mit der Wahrhaftigkeit berührt. Meister Eckhart gar warnt vor der formellen Wahrheit, der logischen, sprachlichen und setzt ihr eine inwendige, innere Wahrheit entgegen: »der kommt nicht zu der inwendigen Wahrheit, wer da bleibet mit Lust an der Bezeichnung … darum soll man nicht bleiben auf der Bezeichnung, sondern soll gehen in die innere Wahrheit«.
Auch etwas über die Grade der Wahrheit und des Zweifels läßt sich aus dem Beispiele der Versicherungsschwüre lernen.
Als Descartes, dadurch wirklich ein Erneuerer der Philosophie, an allem Andern zu zweifeln lehrte, um mit dem Denken an das Einzige anzuknüpfen, das keinen Zweifel duldete, da hätte er leicht den Zweifel an Pegasus, Gott und der Seele lehren können; das Ich war ihm die einzige Gewißheit. Jetzt, dreihundert Jahre später, differenziert man genauer. Gewißheit, absolute Wahrheit ist nur die Nichtexistenz des Pegasus. Die gleiche Nichtexistenz Gottes, der Seele und des Ichs, die gleiche Gewißheit nehmen nur wenige Menschen an. Im übrigen geht in allen diesen Fragen der Wahrheitsgrad der Menschen von der Gewißheit der Existenz bis zur Gewißheit der Nichtexistenz durch alle Schattierungen hindurch.
Bevor wir aber ganzen Ernst machen und untersuchen, wie sich die Skepsis in ihrer Geschichte zu der absoluten Wahrheit und zu den Wahrheitsgraden verhalte, wollen wir uns bei einiger Spruchweisheit ausruhen, in der, der wissenschaftlichen Legende nach, das Volk sein Wissen und seinen Glauben niedergelegt hat.
»Lügen darf viel waschens und plauderns, Wahrheit ist balde gesagt.« (Luther). Die Wahrheit kann man mit dreien Worten bestätigen; die Wahrheit nimmt kein Blatt fürs Maul; Wahrheit verkreucht sich in kein Mäusloch (die Wahrheit sucht nicht Winkel, veritas non quaerit angulos); die Wahrheit ist ein selten Kraut, noch seltner, wer sie wohl verdaut; Wahrheit macht die Zunge wund, Lügen ist der Leber gesund; Wahrheit stinkt wie ein Schwefellicht; wer die Wahrheit sagt, ist auf dem Wege zum Galgen; die Wahrheit ist zu Hof unwert, ist bei Hofe das größte Wildpret; wer die Wahrheit auf großer Herren Tisch bringen will, muß viel süße Brühen daran machen; wer sich mit Wahrheit wäscht, kriegt eine grobe Haut; wenn einer die Wahrheit geiget, schlägt man ihm die Geigen auf den Kopf (in sehr vielen Varianten, heute noch üblich: die Wahrheit geigen); Wahrheit ist krank, liegt tief begraben, ist verborgen (jacet in occulto); Wahrheit muß ins Hundeloch, Schmeichler sitzen am Ofenloch (ähnlich der Narr in Shakespeares Lear).
Alle diese Redensarten und hundert andere haben mit dem erkenntnistheoretischen Wahrheitsbegriffe nichts zu tun; sie sprechen nur derb oder bildlich die Erfahrung aus, daß der Weltlauf dem Lügner günstiger sei als dem wahrhaftigen Manne. Ein tiefer Pessimismus spricht aus allen diesen Sprichwörtern, die doch wohl nicht vom Volke, sondern von Schriftstellern geprägt worden sind. Der Optimismus kann freilich sehr viele Redensarten entgegenstellen. Die gehen aber regelmäßig nicht auf den Weltlauf, sondern auf den endlichen Sieg der Wahrheit, durch Gottes Willen, nachdem die Lüge gute Tage gehabt hat; man kann sagen, daß der Realismus pessimistisch ist, der pädagogische Idealismus optimistisch genug, sogar den raschen Sieg der Wahrheit vorherzusagen: Die Wahrheit leid wohl Not, aber nicht den Tod; die Wahrheit wird wohl druckt, aber nit verdruckt; die Wahrheit ist ein gut Fett, das schwimmt oben; die Wahrheit kommt hervor und läg sie unter ehernem Tor; die Wahrheit wird sich finden, wenn der Schnee zergeht; die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit (tempo è galantuomo); Wahrheit muß Wahrheit bleiben (la vérité triomphe toujours); Wahrheit währt am längsten (der gleiche Optimismus läßt »ehrlich« am längsten währen); die Wahrheit bekleibet, die Lügen verstäubet (la vérité demeure, le mensonge s'évanouit); zum Begräbnis der Wahrheit gehören gar viel Schaufeln.
Eine Sammlung der sogenannten Sprichwörter ließe sich schier endlos vermehren, wollte man sammeln, was Denker, Dichter, Moralisten und Aphorismenschreiber gelegentlich über das Verhältnis von Wahrheit und Weltlauf geäußert haben. Sehr selten handelt es sich bei diesen hübschen Worten um erkenntnistheoretische oder auch nur um wissenschaftliche Wahrheit, fast immer um das Schicksal, um die Aussichten wahrhaftiger und lügnerischer Menschen; denn auch die Wahrheiten wie: »die Sonne bringt es an den Tag« drehen sich um die Entdeckung der Wahrheit bei Verbrechen und anderen Schlechtigkeiten.
Dieses moralische Interesse an der Wahrheit, wie es in der Spruchweisheit des »Volkes« zu erkennen ist, hat nun aber den Wahrheitsbegriff in der Gemeinsprache und in der wissenschaftlichen Sprache so stark beeinflußt, daß Wahrheit auch dort, wo man es nicht gleich erwarten sollte, zu einem Gegensatz von Lüge geworden ist. Wer sich darüber nicht wundert, der ist selbst schon unbewußt von der Volksweisheit angesteckt.
IV.
Der Zweifel an dem Siege der Wahrhaftigkeit über die Lüge, dieser ethische Pessimismus, ist uralt; der Zweifel an dem Siege der Wahrheit oder der Wissenschaft über die Unwissenheit, ein erkenntnistheoretischer Pessimismus, bricht zwar immer wieder bei den großen Skeptikern durch, hat aber erst in ganz neuer Zeit dazu geführt, den Wahrheitsbegriff den Werturteilen zuzugesellen. Mit sträflicher Oberflächlichkeit hat man, weil die wahren Urteile nicht mit Unrecht für wertvoller gehalten werden als die falschen, den Begriff wahr neben die Begriffe schön und gut gestellt. Philosophieprofessoren, welchen Architektur oder Kartenhäuserbau in Worten leichter fällt als Kritik der Worte, haben saubere Systeme aufgestellt, in denen Schönheit, Wahrheit und Güte wie die drei Worte des Glaubens oder wie die drei Grazien oder wie die Dreieinigkeit sich zu einem einzigen Ideale vereinigen, so daß Wahrheit, Schönheit und Güte logisch unter den Oberbegriff Wert subsumiert werden können. Daß man sich mit solchem erkenntnistheoretischen Fußvolk herumschlagen muß! Sind doch alle Werte von einem Zweck, von einem Willen bedingt; die Wahrheit sollte mit unserem Willen nichts zu tun haben. (Deshalb kann es absolute Werte nicht geben; und Kants übermenschliche Lehre, daß die Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit einer Absicht ihrem sittlichen Werte nichts zusetzen und nichts abnehmen könne, ist wirklich eine Metaphysik der Sitten, eine Moral für Engel oder Übermenschen.) Alle Werte entsprechen menschlichen Gefühlen, Lustgefühlen; wer, wie Paulsen die Werte aus den Lustgefühlen heraus in die Sachen projiziert, begeht den Fehler des naiven Realismus an einer Stelle, wo das unverzeihlich ist. Er nennt nicht nur den Apfel selbst gut, wie er den Apfel selbst rot nennt. Für die Geschmacksnerven ist es auch wirklich nicht anders als für die Gesichtsnerven; aber er nennt den blühenden Apfelbaum auch schön, wie den Apfel süß und den Heiland gut. Es gibt keinen Wert, der nicht erstens für einen Menschenzweck tauglich wäre und zweitens nicht irgend gemessen würde. Die Wahrheit scheint mir keinen Zweck zu haben; und könnte, wenn sie wäre, nicht gemessen werden. Ökonomische Werte haben ihren Maßstab in Geld, auch ihren subjektiven Maßstab; ein Pferd kann ein Königreich wert sein, für Richard III. Andere Werte haben andere Maßstäbe. Die Wahrheit aber unter die Werte zu bringen, das war nur Einem möglich, dem Menschenwort.
Denn: was ist Wahrheit für das Tier? Den Gegensatz der Wahrheit, die Lüge hat das Tier nur mit dem Menschen und am Menschen kennen gelernt. Sonst, im Ganzen und Großen ist das Tier Wahrheit und hat Wahrheit. Es wird Tag, es wird Nacht, die Blume lockt, der Hunger treibt, das Weibchen ist schön, das Männchen ist stark, die Brut muß gefüttert werden (eine »moralische« Wahrheit), es donnert, das Raubtier brüllt (»religiöse« Wahrheiten) usw. Wir werden bald erfahren, daß der menschliche Wahrheitsbegriff streng genommen nur auf Urteile geht und nicht auf Vorstellungen, auf Sätze und nicht auf Worte; daß also nach dieser Theorie die Hühnervorstellung Habicht oder die Schafsvorstellung Donner das Kriterium der Wahrheit nicht in sich fasse; daß nur der Mensch, wenn er das Urteil fällt es donnert (ich wähle absichtlich ein sprachlich so mangelhaftes Urteil) und sich dabei klar bewußt ist, daß kein Theaterdonner und kein rasselnder Wagen das Geräusch hervorgerufen habe, im Besitze einer Wahrheit sei. Wahr ist auch das Innenleben der Tiere, nur daß sie bekanntlich nicht sprechen, auch wohl die Frage nach der Wahrheit gar nicht stellen und aus diesen beiden Gründen gar nicht dazu kommen, den überflüssigsten Begriff der Menschensprache, welchen diese Sprache für ihren höchsten hält, besonders zu fassen, ihre Empfindung gewissermaßen zu beniesen und zu dem, was ist, extra und noch einmal ja zu sagen. Es donnert. Auch das Tier weiß es. Der Mensch aber, der homo insipiens, nickt noch dazu. Ja! Es hat gedonnert. Wahrlich. Amen.
Wer sich von den großen Worten kleiner Philosophiemagister täuschen läßt, wird jeden Helden der Logik im Besitze der Wahrheit glauben; wer sich von den kleinen Worten großer Denker nicht täuschen läßt, wird bemerken, wie oft schon in der Geschichte der Denkarbeit das wahre Wesen, der negative Charakter der Wahrheit erkannt worden ist. An einer Stelle, die gar nicht übersehen werden kann, im II. Teil der transzendentalen Elementarlehre der Vernunftkritik, hat Kant sich mit dem Wahrheitsbegriff auseinandergesetzt. Unübertrefflich in der Sache, zyklopisch in der Form. Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird »geschenkt und vorausgesetzt«. Ein allgemeines Kriterium der Wahrheit sei ein Unding; es sei »ganz unmöglich und ungereimt«, ohne Rücksicht auf den Inhalt einer Erkenntnis ein allgemeines Kennzeichen der Wahrheit anzugeben. Alle logischen Regeln sind ganz richtig, aber nur als negative Bedingungen der Wahrheit, geben also nur ihren »negativen Probierstein«. (1787, S. 82 f.)
Die materielle Wahrheit der Erkenntnisse muß »außer der Logik« gesucht werden. Die Dialektik gar, die »scheinbare Kunst«, allen unsern Erkenntnissen die Form des Verstandes zu geben, wird – als wäre sie ein Organon – zum »Blendwerk« mißbraucht, ist eine Logik des Scheins. Diese Kritik des Wahrheitskriteriums richtet sich unmittelbar nur gegen die von Kant verachtete Logik. Da aber für Kant, der uns die Definition (die Wahrheit sei die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande) spöttisch »schenkt« und der diese Definition für sinnlos halten muß, weil der wahre Gegenstand oder das Ding an sich uns ewig unfaßbar bleibt, demnach Wahrheit und logische Wahrheit zusammenfallen, so gibt es für ihn ein anderes als ein negatives Kriterium der Wahrheit überhaupt nicht. Diesen negativen Charakter der Wahrheit hat besonders deutlich Jerusalem (Urteilsfunktion) ausgesprochen: »Erst durch die Zurückweisung der möglichen Negation, durch Negierung des Irrtums entsteht im Bewußtsein der Begriff der Wahrheit des Urteils.«
Ich erinnere an den Eingang dieser Untersuchung, wo wir im christelnden Sprachgebrauch Wahrheit im Sinne des religiösen Glaubens fanden und dazu die überraschende Etymologie, daß unser deutsches Wort glauben ein Gutheißen, ein ausdrückliches Jasagen bedeutet. Wir erfahren nun, vielleicht wieder zu unserer Überraschung, daß die feinste Erkenntniskritik im Wahrheitsbegriff eigentlich nur ein ausdrückliches, d. h. geschwätziges, d. h. überflüssiges, extra hinzukommendes, der Tiernatur unbekanntes Jasagen zu und nach der Wahrnehmung oder Beurteilung ist. Wenn ich, dem ein berühmter Gelehrter einmal den erschrecklichen Vorwurf gemacht hat: daß ich über Dinge lache, die ihm heilig sind, – wenn ich das äußerste an Pietätslosigkeit wagen und nun gar über den dreimal heiligen Satz des Widerspruchs, über das principium contradictionis, lachen dürfte, so würde ich jetzt die kniffliche Frage aufwerfen: ob der Wahrheitsbegriff irgend etwas anderes sei als eben der Satz des Widerspruchs. Beide Heiligtümer sind einander gleichwertig. Der Satz des Widerspruchs besagt nach dem Zeugnis aller weisen Meister von Platon bis Husserl: A ist nicht = non A. Oder um es gelehrt mit den Originalworten Platons auszusprechen: μηδεποτε ἐναντιον ἐστι ἑαυτῳ το ἐναντιον . Oder, wie Parmenides einfach sagt: ἐστιν ἠ οὐκ ἐστιν. Nichts kann sich selbst widersprechen. Alles, was behauptet wird (als Wahrnehmung oder als Urteil) ist entweder oder ist nicht. Alle diese Sätze, so leer und darum wahr, daß sie mit Recht dafür an die Spitze gestellt werden der wahrsten und leersten aller Wissenschaften, der Logik, alle diese Sätze sind mitverstanden, mitgedacht und mit abgeleiert jedesmal, wenn in unserem Bewußtsein einer Wahrnehmung oder einem Urteil das Prädikat wahr zuerkannt wird. Und ich stehe nicht an zu behaupten, daß nichts anderes als diese Identität zwischen dem principium contradictionis und dem Wahrheitsbegriff, daß die Identität dieser beiden vornehmsten Truismen auch hinter einem viel zitierten Satze Spinozas steckt, dem Satze (Eth. II. pr. 43 sch.): Sane sicut lux se ipsam et tenebras manifestat, sic veritas norma sui et falsi est.
Die Negativität des Wahrheitsbegriffs findet sich unzählige Male im bessern Sprachgebrauche ausgedrückt, wo wahr nicht eine phantastische Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, sondern einen bewußten Gegensatz bezeichnet zu: falsch, scheinbar, eingebildet, erdichtet. Wahrheit folgte dem Sprachgebrauch und bildete sich in einen Gegensatz um zu: Fabel, Märchen, Gerücht, Dichtung. »Dichtung und Wahrheit«. Gut logisch wird dann die Lüge, als das eigentlich positive, durch doppelte Negation, durch Negation der Negation Wahrheit ausgedrückt; etwas anderes ist es nicht, wenn man die Wahrheit: verhehlt, verschweigt, verbirgt, verdunkelt (veritatem obscurare, to conceal the truth, cacher la vérité); früher auch oft: die Wahrheit sparen, schonen, an der Wahrheit vorbeispazieren, über die Wahrheit schreiten, sie verfehlen, von ihr sich entfernen, unter oder hinter der Wahrheit bleiben usw.
Wer so nicht nur die Wahrheit je zu finden verzweifelt, sondern sie gar als positiven Begriff ablehnt, der wird leicht der Schule der Skeptiker zugewiesen werden. Ich will gern ein Skeptiker heißen. Mir scheint aber dennoch ein ernsthafter Unterschied zu bestehen zwischen der skeptischen Schule (welche den Wahrheitsbegriff im Grunde nicht analysiert, ihn herkömmlich als ein Ideal der Erkenntnis betrachtet, um dann eigentlich nur zu behaupten, der Mensch sei für dieses Ideal nicht reif) und der Sprachkritik, (welche mit dem Worte Wahrheit wie mit so vielen anderen Worten nichts anzufangen weiß). Die skeptische Schule ist in ihren antiken Vertretern überdies ganz unerträglich für unser Empfinden, unerträglich durch ihre fast talmudische Dialektik und einen kleinlichen Wortaberglauben in bezug auf ein paar skeptische Schlagwörter und Finten. Der skeptische Purzelbaum, der immer mit triumphierendem Clowngelächter dazu führt, das Nichtwissen unseres Nichtwissens zu beweisen, ist elende Spiegelfechterei. Auch der Ausgangspunkt aller antiken Skepsis, der Zweifel an der Wahrheit der Sinneswahrnehmungen oder Sinnesdaten, ist lange nicht so fruchtbar, wie die Verblüffung des Anfängers sich einreden läßt. Hume und Kant haben uns gelehrt, daß die Richtigkeit der Sinneseindrücke mit erkenntnistheoretischer Wahrheit nichts zu schaffen habe. » Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, sofern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, sofern er gedacht wird. Man kann also zwar richtig sagen, daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie jederzeit richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen. Daher sind Wahrheit sowohl als Irrtum … nur im Urteile.« Im Grunde ist die Verachtung der Sinnesdaten, wie sie von der Skepsis schablonenhaft gepredigt wurde, seit Epicuros und bis auf Helmholtz unzählige Male widerlegt worden, wenn Verachtung sich widerlegen läßt; besonders scharf hat Augustinus das, den Skeptikern zum Trotz, gesehen: »Ungerecht ist es, mehr von den Sinnen zu verlangen, als sie leisten können; was aber die Augen sehen können, das sehen sie wahr.« Wenn das Auge ein in Wasser getauchtes Ruder wie gebrochen erblicke, so habe das Auge recht. R. Richter (Skeptiz. i. d. Philosophie II. 24) macht schon darauf aufmerksam, wie kühn und weitschauend Augustinus hier ist; ich möchte noch weiter zu gehen wagen und behaupten, daß nur die Einseitigkeit etwa des physikalischen Interesses oder eines Spezialwissens uns die Gebrochenheit des Ruders im Wasser wie eine Unwahrheit, wie einen bloßen Schein erscheinen läßt, daß die Spezialwissenschaft der Optik wieder die Gesetzlichkeit der Täuschung erklärt, sie von der Wahrheit abweichen läßt; daß aber ein Naturwissen, in welchem es nicht eine abgesonderte Optik und eine abgesonderte Mechanik gäbe, sich über das gebrochene Ruder nicht mehr wundern würde, als über das ungebrochene. Über die Sonne, die sich mit einem Markstück verdecken läßt, nicht mehr wundern, als über ihre »wirkliche« ungeheure Dimension. Wären die Menschen um so viel größer, als die Entfernung der Sonne von der Erde den Durchmesser eines Markstücks an Länge übertrifft, so hätten wir für die Sonne einen andern Maßstab.
Die Urfrage aller Skepsis ist die Frage nach der Wahrheit der Wirklichkeitswelt. Und weil uns die Wirklichkeitswelt als eine Ursache unseres Weltbildes erscheint, welches eine Wirkung der Wirklichkeit sein muß, darum ist die letzte Frage die nach der Kausalität, nach dem Verhältnisse von Ursache und Wirkung. Hume, der diese Frage zuerst gestellt hat, der uns von dem Aberglauben Kausalität zu erlösen suchte, war der größte Denker unter den Skeptikern und der schärfste Kritiker des Wahrheitsbegriffes.
Dem Schlagworte »Zurück zu Kant« möchte ich den Ruf entgegensetzen »Zurück zu Hume« und möchte beim Rufe nicht ermüden. Schon der erste Kritiker Kants, Schopenhauers Lehrer Änesidemus-Schulze, hat die Frage gestellt: »Ist Humes Skeptizismus durch die Vernunftkritik wirklich widerlegt worden?« Und sie verneint; Kant rühme sich »ohne Fug und Recht und also prahlerischerweise eines Siegs über Humes Skeptizismus«. Kants stärkste Inkonsequenz, daß er nämlich die Kausalität a priori der Auffassung der Erscheinungswelt zuschrieb und sie dennoch zwischen dem Ding an sich und dieser Erscheinungswelt wirken ließ, dieses πρωτον ψευδος ist von Hume, wie im voraus, zurückgewiesen worden. Es hieße Eulen nach Athen und Systematik nach Deutschland tragen, wollte man die ungeheure Arbeit verkennen, mit der Kant, über Hume hinaus, die subtilsten Begriffe geklärt oder zu neuen Problemen gemacht hat; aber die Freiheit, selbst die Freiheit von einem gesteckten Ziele war bei Hume größer. Das Kraftverhältnis der beiden erstaunlichen Männer wird vielleicht deutlich, wenn man ihre Stellung zu den religiösen Fragen betrachtet: Kant wirft den Gottesbegriff und was drum und dran hängt, endgiltig aus der Metaphysik hinaus, stellt sich persönlich ein wenig abseits von der Kirche, gründet aber leidenschaftlich und obstinat eine neue Religion, die dem alten besseren Gottesreich zum Verwechseln ähnlich sieht, auf die praktische Vernunft, auf eine rigoristische Ethik, welche er doch wohl in der Tiefe seines Gemüts, also in der Gewohnheit der alten Religion gefunden hat; Hume unterwirft sich mit englischer respectability, wie vor ihm Montaigne mit französischer Grazie, allen Anstandsregeln der Landesreligion (»man ist Katholik, man ist Protestant, wie man Franzose, Engländer ist«), aber in seinen köstlichen Dialogen über die Religion, in seiner Schrift über den Selbstmord, in seiner Behauptung, das Ich sei nichts als a bundle or collection of different perceptions, wirft Hume das theologische Gebäude doch ganz anders zusammen als Kant. Die deutsche Philosophenschule hat sich daran gewöhnt, den englischen common-sense, der die englische Philosophie gerade so fruchtbar gemacht hat, über die Achsel anzusehen; wo der common-sense sich aber, wie bei Hume, mit äußerster Denktapferkeit paart, da scheint mir die Beschränkung auf wirklich psychologisches Denken, der Verzicht auf deutsche Metaphysik, doch ein Vorzug des englischen Geistes. Ich will wahrhaftig nicht sagen, daß der verehrungswürdige Kant sich zu Hume verhalte, wie Haeckel zu Darwin; aber es ist da eine Sucht im deutschen Geiste, die uns fast verleiten könnte, den kleinen Haeckel neben dem großen Kant zu nennen: die Sucht des Wortsystems.
Der Ruf »Zurück zu Hume« könnte in diesen Jahren der Neuromantik auch noch einen Nebensinn gewinnen, für die sogenannte schöne Literatur. Walzel hat in seiner gehaltreichen kleinen Schrift »Deutsche Romantik« gezeigt, wie sich anfangs der 70er Jahre die Stürmer und Dränger an Hume (über den der vorkritische Kant, den Herder noch als Schüler verehrte, noch nicht hinausgekommen war) orientierten, an seiner Verachtung von Vernunft und Wissenschaft, wie sich dann Mitte der 90er Jahre die Frühromantik an Kant zu orientieren suchte. Es ist ein besonderer, ein literarhistorischer Wortaberglaube, wenn ganze Strömungen eines Zeitalters, in dem sich doch immer verschiedene Generationen und Individualitäten drängen und stoßen, auf ein Schlagwort hin betrachtet werden. Aber die Anbetung des Gefühls und die Empörung gegen die Vernunftwahrheit bei denen um Goethe, die vernünftige Analyse des Gefühls und die Vergottung der Vernunft bei denen um die Schlegel ist wirklich charakteristisch. Nur etwa Schleiermacher sah klar, als er gegen den unklaren Jacobi, der Philosophie und Mystik unvereinbar nannte, schrieb (Brief vom 19. 7. 1800): »… Die falsche Meinung, als ob es in der Tat einen Streit zwischen der Philosophie und der Mystik geben könne, da doch im Gegenteil jede Philosophie denjenigen, der so weit sehen kann, und so weit gehen will, auf eine Mystik führt … Wollte Jacobi nur dekretieren, daß Philosophie und Mystik gänzlich auseinander liegen, und daß der ganze Schein ihres Zusammenhanges nur daher kommt, weil sie sich in der Tangente berühren, so würde er aufhören, gegen die Philosophie unnütz zu polemisieren.«
Wie Humes Skepsis über den Wahrheitsbegriff dachte, das ist vor lauter Negation fast nicht auszudrücken. Bis zur Stunde ist der kindlich große Gedanke Humes nicht zu Ende gedacht worden, daß die Wirklichkeitswelt nicht zweimal da ist, daß sie nicht noch eine Existenz hat, außerdem, daß sie unsere Wahrnehmung ist. »Die Idee der Existenz trägt, wenn sie mit der Idee eines beliebigen Gegenstandes verbunden ist, nichts zu ihr hinzu.« Die Annahme einer besonderen Wirklichkeitswelt ist keine Wahrheit, die der menschliche Verstand einsieht, sondern nur Sache des menschlichen Instinkts. Ein Instinkt ist auch die menschliche Gewohnheit, Urteile zu fällen. »Die Natur nötigt uns mit unabwendbarer Notwendigkeit, Urteile zu fällen, wie sie uns nötigt, zu atmen und zu empfinden.« Auch die Annahme einer Wirklichkeitswelt ist so ein Instinkt, den Nietzsche später einen biologisch wertvollen nennen wird. Da Wahrheit ein auszeichnender Charakter so instinktiven Urteilens ist, so mag man daraus schließen, was der Wahrheitsbegriff etwa für Hume war; ich glaube mich nicht zu täuschen: es gehört zu den menschlichen Instinkten, die Instinkte für gut zu halten, insbesondere die Äußerungen des Schwatzinstinktes wahr zu nennen. Darum lacht Hume auch so schön über den Streit, ob Skepsis wahre Philosophie sei oder nicht. Das sei ja eine Temperamentsfrage. »Der einzige Unterschied ist der, daß der Skeptiker aus Gewohnheit, Laune oder Neigung auf die Schwierigkeiten, der Dogmatiker aus den gleichen Ursachen auf die Notwendigkeit mehr Gewicht legt.« Schon Montaigne hatte spöttisch gesagt, daß auch Skeptiker sich gern den geistigen Genuß verschaffen, einmal etwas bestimmt wissen zu wollen, wie man die Freude an der Jagd nicht gleich verliert, wenn man nichts erbeutet. Auch Spinoza, da er noch über die Verbesserung des Verstandes nachdachte, meint einmal, die Bekämpfung des Skeptizismus sei keine wissenschaftliche Aufgabe; Hartnäckigkeit, also doch wohl ein Temperament, müsse da geheilt werden.
Temperament und Laune sind keine objektiven Kriterien der Wahrheit; objektiv ist ja doch auch nur, was allen Subjekten gemeinsam, was allgemein subjektiv ist. Es gibt – subjektiv – nur Ein Kriterium der Wahrheit: die Evidenz, also ein Gefühl (feeling, sentiment). Wird ein Bewußtseinsinhalt von diesem Gefühl begleitet, so nennen wir es eine Wahrheit (knowledge). Es gibt Grade des Evidenzgefühls: von certainty und truth angefangen über probability bis zum belief (Glaube). Zwischen einem Glauben und einer Wahrheit ist nur ein Gradunterschied der Evidenz, je nach dem Sprachgebrauch gar kein Unterschied. An opinion or belief may be most accurately defined a lively idea related to or associated with a present impression. Ganz streng hat erst Helvetius, der dogmatisch materialistische Schüler des großen Skeptikers Hume, das Verhältnis von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit ausgesprochen: »Was wir Wahrheit nennen, sind nur mehr oder minder gesteigerte Wahrscheinlichkeiten«.
Genau das lehrte schon Hume, wenn er auch gelegentlich terminologische Bedenken hatte; er fragt aber z. B. bei den Wundern nicht nach der Wahrheit, sondern danach, ob das Ereignis gegen die Naturordnung »wahrscheinlicher« sei oder die Unglaubwürdigkeit der Zeugen. Leibniz, der mathematische Kopf, hatte längst gewußt und gelehrt, daß wahrscheinliche Erkenntnis ist, was wir Wahrheit zu nennen pflegen: »Diejenige Meinung, welche in Wahrscheinlichkeit begründet ist, verdient vielleicht auch den Namen der Erkenntnis, sonst würden fast die gesamte historische Erkenntnis und alle übrigen wegfallen«. Und vollends Augustinus hatte schon, im Buche gegen die Skeptiker (Gegen die Akademiker) rabulistisch darauf hingewiesen, daß man nichts wahrscheinlich, verisimilis, nennen dürfe, wenn man die Wahrheit selbst nicht kenne. Das wäre so, als sagte jemand: ich habe deinen Vater nicht gekannt, aber du siehst ihm ähnlich. Augustinus schließt aus dem Wortspiele, daß es eine Wahrheit geben müsse. Wir wollen uns begnügen, aus diesem Verhältnis von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit nur zu folgern, daß die armen Menschen in ihrem Instinkte, ihrer Wahrheitssehnsucht, wahrähnlich, wahrscheinlich nennen, was ihnen genug einleuchtet, um es gutzuheißen, probare, zu bejahen, zu glauben. Was dem Ideal der Wahrheit ähnlich ist, ist probabel.
Bis auf Augustinus müssen wir auch zurückgehen, mindestens, wollen wir auf eine geistige Verbindung stoßen, zwischen dem Menschenstreben nach der Wahrheit und dem andern Menschenstreben oder Instinkt, dem nach dem höchsten Gut. Die Resignation des echten Skeptikers sucht dieses Gut im Nichtstreben und im Nichtwissen; denn man strebt nicht nach Unerreichbarem. Dagegen lehrt der Dogmatiker, weil er an eine robuste Wahrheit glaubt: Streben und Wissen macht glücklich, gar, weil es tugendhaft macht. Es gibt aber noch einen feinern Gegensatz zwischen Skeptikern und Dogmatikern. Es gibt ein Streben um des reinen Strebens willen, ohne die Hoffnung, je zum Wissen zu gelangen; es ist das höchste Gut, das geistige Glück eines Lessing. Man kennt die Stelle.
Es gibt für die Frommen ein Wissen ohne Streben, ein Wissen durch Offenbarung, ein Schlaraffenwissen; und das wäre, wenn ein Unfrommer dessen teilhaftig werden könnte, allerdings ein seltenes Glück.
Alle Kombinationen scheinen in diesen Möglichkeiten erschöpft; es blieb nur die Behauptung übrig, nicht in der Wahrheit oder im Wissen bestehe das höchste Gut, vielmehr im Irrtum oder der Lüge.
V.
Skepsis ist Zweifel. Wer glaubt, glaubt an Wahrheit. Fast grotesk steht die personifizierte Wahrheit, die ewige Wahrheit, die stabilis veritas, weil sie Gott selber ist, für den gläubigen Augustinus da. Erit veritas etiamsi mundus intereat. Ob die Wahrheit an den Dingen hafte oder am menschlichen Denken, an unsern Vorstellungen oder an unsern Urteilen, darüber ist endlos philosophiert worden. Alle Logiker haben den Wahrheitsbegriff auf das Denken oder das Urteil eingeschränkt: Aristoteles, Thomas, Descartes, aber auch Hobbes.
Jetzt, wo wir uns dem Ende der Untersuchung nähern und das Wort Wahrheit kein Fetisch mehr für uns ist, können wir mit freier Heiterkeit an die alte Streitfrage herantreten. Wer die Wahrheit in die Dinge verlegt, der hat den Glauben an seine Sinne; indem er seine Sinneseindrücke zweimal glaubt, zweimal setzt, einmal subjektiv und einmal objektiv, stellt er Übereinstimmung zwischen Schein und Wirklichkeit her und nennt es Wahrheit, daß identische Dinge identisch sind. Wer die Wahrheit in sein Urteil verlegt, gibt dem Wahrheitsbegriff womöglich noch geringeren Inhalt: einmal urteilt er (selbstverständlich richtig, d. h. nach seinem besten logischen Gewissen), sodann glaubt er an die Richtigkeit seines richtigen Urteils und nennt diesen seinen Glauben die Wahrheit. Hobbes, den ich eben unter den Denkern angeführt habe, die die Wahrheit ins Urteil allein verlegten, zog schon die Konsequenz aus dieser Ansicht. Wir kennen keine anderen Urteile als sprachliche; also sind wahr und falsch Attribute der Rede, der Worte, eines Satzes. Und ein Satz ist wahr, wenn das Prädikat das Subjekt in sich mitenthält. Ich glaube nicht, daß ich die Ansicht des starken Hobbes mißverstehe, wenn ich sie nun so ausdrücke: nur tautologische Sätze sind wahr.
Immer waren es nur gläubige Menschen, ob sie nun an den allweisen und allgütigen Gott, der uns doch mit dem Glauben an seine Wahrheit nicht betrogen haben konnte, oder ob sie an ein starres System glaubten, immer waren es Dogmatiker, die von einer göttlichen, einer ewigen, einer absoluten Wahrheit redeten. Immer waren es die freien Geister, die Ketzer in Religion und Philosophie, die Zweifler, die die Vorstellung, alle menschliche Erkenntnis sei relativ, auch auf den höchsten Erkenntnisbegriff anwandten, auf die Wahrheit. Herbart (»wir leben einmal in Relationen und bedürfen nichts weiter«), Spencer (»we think in relations«) haben eigentlich dem Ketzerworte Relativität seine Schrecken genommen; sie leugnen ja das Absolute gar nicht, das Reale, es ist für uns nur unknowable. Wir wissen ja nichts als Relationen, weil unser Wissen selbst nur eine Relation ist, eine Beziehung des Ich zu dem Andern. Nur ein Stocklogiker wie Husserl kann das leugnen wollen: »was wahr ist, ist absolut, ist an sich wahr«. Im Grunde ganz richtig: man sollte nur das absolut Wahre wahr nennen, also das Wort wahr gar nicht gebrauchen.
Diesen Relativismus des Wahrheitsbegriffes hat Goethe all in seiner Weisheit einmal schön ausgesprochen: »Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiße ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben und es ist doch immer dieselbige.« Nebenbei, Goethe hat einmal auch das Haften des Wahrheitsbegriffes an den Worten klar ausgedrückt (Spr. i. Pr. 251): »Der Irrtum wiederholt sich immerfort in der Tat, deswegen muß man das Wahre unermüdlich in Worten wiederholen.« Es wäre nützlich, wenn der weiseste Deutsche, öfter als es geschieht, im philosophischen Wortstreite zu Worte käme.
Der Schrecken vor dem Relativismus kam eigentlich daher, daß die Dogmatiker ewige, absolute Wahrheiten nicht nur auf dem Gebiete der Erkenntnis annahmen, sondern auch innerhalb des Heiligtums der Moral. Wurden auch die moralischen Wahrheiten für relativ erklärt, dann mußte die Welt zugrunde gehen. Dann waren die Lüge und der Teufel nicht mehr schwarz. Dann war Lüge keine Sünde mehr, und der Menschheit war aller Wert geraubt. Das Werturteil am Wahrheitsbegriff, die internationale Vermischung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, wirkten zusammen, als man sich über Nietzsches antimoralische Verteidigung der Lüge entsetzte. Über Nietzsches Lehre: daß der Irrtum das lebenerhaltende Prinzip sei.
Die Deklamationen gegen die Lüge als das eigentlich teuflische Laster sind den christlichen Theologen seit jeher geläufig gewesen (trotz Ev. Joh. 7, 8 f.); philosophisch hat erst Kant diesen Abscheu vor der Lüge zu begründen gesucht, »platt, kindisch und abgeschmackt« (nach Schopenhauers Worten) aus dem Sprachvermögen des Menschen; dieser unbedingte Abscheu beruhe aber »auf Affektation oder auf Vorurteil«; bekannt ist, daß Schopenhauer die Lüge mindestens überall da billigt, wo Notwehr gestattet wäre. Auch der feine Menschenkenner Bacon ist ein Verteidiger der Lüge; in seinem Essay »Von der Wahrheit« vergleicht er die Wahrheit mit einer Perle, die sich am schönsten bei Tage ausnimmt, nie aber den Preis eines Diamanten erreicht, der sich am besten bei schimmerndem Kerzenlicht, dem verlogenen Mummenschanz der Welt, betrachten läßt; die Mischung mit Lüge und Betrug gleiche dem unedlen Zusatz in Gold- und Silbermünzen, der das Metall erst zum Verarbeiten geschickt mache. Unendlich oft ist die Lüge von Dichtern entschuldigt oder gar gepriesen worden, die ja die nächsten dazu sind; niemals gütiger als von Grillparzer am Ende seines menschlich-weisen Lustspiels: »Weh dem, der lügt«:
»Das Unkraut (die Lüge) merk' ich, rottet man nicht aus,
Glück auf, wächst nur der Weizen etwa drüber«.
Niemals grimmiger als von Ibsen in der »Wildente«: der Arzt Relling rettet die Leute, die er lieb hat, dadurch, daß er die Lebenslüge in ihnen konserviert, das stimulierende Prinzip, die Fontanelle, die er ihnen in den Nacken setzt. So eine Lebenslüge ist der Quatsch, den er erfunden hat, um den Mann am Leben zu erhalten. »Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge und Sie nehmen ihm zur gleichen Zeit das Glück … gebrauchen Sie doch nicht das Fremdwort Ideale; wir haben ja unser gutes Wort Lügen.«
Ibsens konservierte und konservierende Lebenslüge deckt sich überraschend gut mit Nietzsches Gedanken über die biologische Nützlichkeit des Irrtums. Es ist schwer, wie bei Nietzsche immer, diesen Gedanken rein und klar auszulösen. Nicht weil Nietzsche kein System hinterlassen hat, nicht weil er ein Aphorismenschreiber war. Von Nietzsche selbst stammt ja das prachtvolle Wort: »Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.« Aphorismen sind immer Halbwahrheiten; da wir aber niemals die ganze Wahrheit haben, so wird da das Halbe mehr sein, als das Ganze. Auch die oft bis zum Krankhaften gesteigerte Sucht, auf den Krücken der Sprache, über wortspielerische Antithesen zu sich übersteigernden Paradoxien zu kommen, kann die helle Lust an der skeptischen Persönlichkeit Nietzsches nur selten trüben. Aber Nietzsches leidenschaftliches Denkinteresse in allen seinen »Begriffsdichtungen« galt dem Leben, galt der Umwertung der Lebenswerte; erkenntnistheoretische Untersuchungen trieb er nur nebenbei und war mit diesen Einfällen, Feuerwerk- oder Blitzfunken, so wenig zufrieden, daß er sie fast nie veröffentlichte, daß er uns das Gerüste seines Philosophierens nicht zeigte, undeutsch genug, da doch der größte deutsche Philosoph zumeist um des Gerüstes willen berühmt geworden ist, mit dem er sich und uns oft erdrückt. Deutsches Gelehrtenideal wäre es, das Gerüst um jeden Dom für ewige Zeiten stehen zu lassen. Was nun Nietzsche nur selten fertig gedacht hat, hat pietätvolle Leichenschändung auf den Markt geworfen und aus den wüsten Nachlaßbänden allein versucht man jetzt Nietzsches Erkenntnistheorie zu rekonstruieren.
Irrtum und Lüge werden für Nietzsche zu Wechselbegriffen, weil er, auch darin »undeutsch« und wieder der deutscheste der Deutschen, nicht ein Geschäftsmann des spekulativen Denkgeschäftes war, sondern zutiefst an seinem Denken litt, das er erlebte. Wie kann man weiterleben, wenn man die Lebenslügen durchschaut hat? Wenn man die lebenerhaltenden Illusionen aufgedröselt hat? In der Antwort auf diese faustische Frage steckt der ganze kranke entzückende Nietzsche. Die Masse glaubt an die Illusionen, läßt sich also gar nicht stören. Der Denker, der hinter das Geheimnis des Lebensirrtums oder der Lebenslüge gekommen ist, geht zugrunde, wenn er ein Schwächling ist. Nur der Stärkste, der arme kranke Nietzsche, hält die Wahrheit aus, daß es keine Wahrheit gibt.
»Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil … die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, arterhaltend, vielleicht gar artzüchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt, zu behaupten, daß die falschesten Urteile … uns die unentbehrlichsten sind, … daß Verzichtleisten auf falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre«. Die Wahrheit hat einen moralischen Wert, die Unwahrheit einen biologischen. Wahrhaft sein heißt »herdenweise lügen«. Einverleibte Irrtümer nennen wir wahr. Nietzsche nennt wahr, was uns nützt, wie die Menschheit seit Urzeiten gut genannt hat, was ihr nützte. Die Pragmatisten verstehen unter derselben Wortfolge etwas anderes. Was immer Spinoza gegen den Begriff gut vorgebracht hat, hätte Nietzsche gegen den Wahrheitsbegriff wiederholen können. Und eine einzige Überlegung müßte ihm Recht geben: die Menschheit hat seit ihrer Existenz die Wahrheit niemals besessen und hat dennoch weitergelebt. Nur daß es wieder ein Spiel mit Worten ist, das Positive, das allein lebenerhaltend sein kann, weil wir es nicht kennen, mit der beschimpfenden Negation Irrtum oder Lüge zu nennen.5 Was unknowable ist, ist unknowable, mag man es feierlich als das Absolute oder respektlos als Irrtum bezeichnen. Das englische Schlagwort agnosticism ist so übel nicht.
In sprachlicher Beziehung recht unglücklich hat Richter in seinem übrigens sehr lesenswerten und tapfern Buche den individuellen Agnostizismus Nietzsches als biologischen Skeptizismus klassifiziert; Nietzsche bewertet Wahrheit und Irrtum biologisch; »biologischer Skeptizismus« erinnert ein bißchen an die reitende Artilleriekaserne (an die mich auch der »linguistische Skeptizismus« erinnert, womit Richter, II. 453, meine eigenen Ideen beehrt). Nietzsche wollte, wie Hume, nicht ein Skeptiker heißen. Die konsequenten griechischen Skeptiker, die jedes Urteil für unmöglich erklärten, hätten ja nicht leben können, wenn sie ganz konsequent gewesen wären. Buridans Esel, der wegen der Unfreiheit des Willens, des menschlichen Willens (hätte ich fast gesagt), zwischen zwei völlig gleichen Heubündeln verhungern muß, scheint noch ein kluger Esel neben dem skeptischen Esel, der sein einziges Heubündel nicht fressen kann, weil er an der Wirklichkeit des Heus zweifelt, auch nicht weiß: ob er ein Esel sei, ob das Heufressen gut sei, ob er wirklich fressen könne. Wie dieser skeptische Esel hätte die Menschheit verhungern müssen, wenn sie nach der skeptischen Theorie, der einzigen Wahrheit, gelebt hätte. Der lebensbrünstige Nietzsche wollte kein solcher Skeptiker sein, gewiß auch kein biologischer Skeptiker. »Individuellen Relativismus« mag man seine Lehre nennen, wenn man schon klassifizieren will: »Woran ich zugrunde gehe, das ist für mich nicht wahr – d. h. es ist eine falsche Relation meines Wesens zu andern Dingen. Denn es gibt nur individuelle Wahrheiten – eine absolute Relation ist Unsinn.« Wir besitzen also keine Wahrheit, die absolut wäre, wir müssen uns mit Meinungen begnügen. Mit dem Glauben, der uns als Ersatz für die Wahrheit nun zum dritten Male begegnet.
Die Sprache zappelt sich an solchen Begriffen jämmerlich ab. Wahr sollte sein, was der Wirklichkeit entspricht. Glauben nennen wir unser Verhältnis zu Vorstellungen oder Urteilen, wenn wir sie für wahr halten, d. h. wenn wir nicht wissen, daß sie wahr sind, wenn wir sie also nicht für wahr halten. Es wäre wohl besser, die Resignation zu wählen, in Goethes Orden der Ent-sagenden einzutreten.
Die deutsche Sprache hat einmal einen tollen Witz gemacht und mit dem Wahrheitsbegriff Schindluder getrieben. Eine Beteuerung der Wahrheit war im Mittelhochdeutschen alwaere (althochdeutsch alawâr = verissimus). Als seine Herkunft nicht mehr gefühlt wurde, wurde daraus durch Lautwandel alber, seit Gottsched und Gellert albern. Wir wissen, was dieses alte alwaere jetzt bedeutet. Luther übersetzt (Spr. Sal. 14, 15): ein Alber gläubet alles.
- Die Stelle bei Augustinus (Confess. 6, 5.) wird im Büchmann ganz richtig wiedergegeben; aber doch nicht die Tendenz dieses glaubensseligen Kapitels. Augustinus klagt die Manichäer, seine früheren Genossen, an, große philosophische Versprechungen zu machen und nachher dennoch tam multa fabulosissima et absurdissima, quia demonstrari non poterant, credenda zu verlangen; die katholische Kirche, modestius minimeque fallaciter, befehle von vornherein, ut crederetur quod non demonstrabatur. Augustinus stellt den Glauben über das beweisbare Wissen.↩
- Auch die jüngst erschienene »Einleitung in die Sprachwissenschaft« von V. Porzezinski ist, trotz mancher Vorurteilslosigkeit, noch lange nicht skeptisch genug.↩
- Wenn nicht ein glücklicher Fund die Entscheidung bringt, dann wird die Herkunft der Redensart »der wahre Jakob« dunkel bleiben. Es gibt drei Deutungen: 1. d. w. J. ist der Heilige von Compostella in Spanien, der ältere Apostel Jakobus, gegen den andere Heilige des gleichen Namens nicht aufkommen, 2. d. w. J. ist Esau, dem der Segen gebührte, den der Erzvater Jakob erschlich. 3. d. w. J. soll Jakob Frank sein, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von den Juden Rußlands und Österreichs, von denFrankisten, »der vollkommene Jakob«, d. h. der wahre Messias (im Gegensatz zu Jesus) genannt wurde. Mir scheint die Beziehung auf den Erzvater die wahrscheinlichste, weil sie die obligate Ironie erklären würde. Aber aus der Tiefe des Gemüts ist so etwas nicht sicherzustellen. Lenz, der Jugendfreund Goethes, hat einmal den Scherz gemacht:
»Ich bin Ihr wahrer Jakob nicht
und auch Ihr teutscher Michel nicht,
So rein und hold nicht wie der Lenz
ich: Jakob Michel Reinhold Lenz.«
Wüßte man nicht historisch, daß Lenz da die bekannte Redensart schon benützte, man könnte Lenz für ihren Präger halten.↩ - Die Redensarten der Versicherung oder Beteuerung sind oft durch Lehnübersetzung international. Nichtwahr? , niederl. nietwaar? frz. pas vrai? oder mit Weglassung des vrai: n'est-ce pas? So wahr mir Gott helfe, ainsi m'aide Dieu . So wahr ich ein ehrlicher Mann bin, foi d'honnête homme. Das hebr. amen, eigentlich wahrlich, wird sowohl als Fremdwort gebraucht als in unzähligen Lehnübersetzungen, bis zu dem fast verständnislosen »es ist so wahr als das Amen in der Kirche.« (Luther übersetzt nicht genau: » Amen , das ist, es werde wahr.«) Auch die starke Versicherung der Unwahrheit ist ähnlich in verschiedenen Sprachen; es ist kein wahres Wort daran, il n'y a pas un mot de vrai. Sogar die formelhafte Wendung der Beteuerung, mit der so gern eine Lüge eingeleitet wird, ist international: die Wahrheit zu sagen oder zu gestehen, to speak the truth, à ne point mentir, si verum fateri volumus.↩
- Ein vielzitiertes Wort Schillers gehört höchstens als Ornament hierher:
»Nur der Irrtum ist das Leben,
Und das Wissen ist der Tod.
Die Verse finden sich in dem Gedichte »Kassandra«, sind dramatisch in die Seele der Wahrsagerin hineingedacht und meinen eigentlich das prophetische Wissen vom künftigen Schicksale; diese Stimmung wird von dem Kantschüler noch schärfer ausgesprochen in den Versen:
»Zukunft hast du (der Gott) mir gegeben,
Doch du nahmst den Augenblick«.
Freilich verallgemeinert Schiller die Stimmung Kassandras: Alles Wissen macht unglücklich. »Frommt's den Schleier aufzuheben?« »Wer erfreute sich des Lebens, der in seine Tiefen blickt?«
Trotzdem ist noch ein weiter Abstand zwischen Nietzsches Paradoxon von dem biologischen Nutzen des Irrtums und Schillers klingender Antithese. Aus einem sehr einfachen Grunde. Schiller meint gar nicht den Irrtum, den Gegensatz zur Wahrheit. Er meint das Nichtwissen, den Gegensatz zum Wissen. Er hat wohl nur, – mit dem Hute in der Hand bemerke ich's – des leidigen Rhythmus wegen Irrtum für Nichtwissen gesetzt. Und zur Strafe dafür und weil der Gegensatz zu Irrtum es fast fordert, wird die Stelle oft falsch zitiert, von Fontane, von R. Richter:
»Nur der Irrtum ist das Leben,
Und die Wahrheit ist der Tod«.↩