falsch
In einer systematischen Darstellung der vorgetragenen Weltanschauung müßte die Untersuchung des Wahrheitsbegriffs eine der ersten Stellen einnehmen; im Alphabet ist der spät erfundene Buchstabe W, ursprünglich ein Halbvokal, hinter das lateinische U zu stehen gekommen, obgleich er nach der jetzigen Aussprache besser dem B hätte angegliedert werden können. So werden wir, gezwungen von der Zufallsgeschichte des Alphabets, erst gegen das Ende unseres Weges (Vgl. Art. Wahrheit) erfahren, wie es um diesen Begriff stehe: daß der Gegensatz zwischen Glaube und Wahrheit, auf den unsere ungläubige Zeit so stolz ist, in unserm Denken gar nicht vorhanden sei, daß glauben und für wahr halten in Beziehung auf unsere Urteile ungefähr das Gleiche ausdrücke. Ich habe schon in meiner Sprachkritik (I² S. 693 ff.) darauf hingewiesen, daß das Bewußtsein von der Wahrheit eines Urteils nur eine ausdrückliche Bejahung sei, die zu der stillschweigenden Bejahung hinzukommt, eine Besinnung, ein Akt der Aufmerksamkeit. Und ich bin da zu dem traurigen Satzgebilde gelangt: »Wahrheit ist eine Art von Übereinstimmung unseres Innenlebens mit der Wirklichkeit, und Wirklichkeit ist eine Art von Übereinstimmung von etwas Unbekanntem mit unserm Innenleben. Anstatt Innenleben können wir jedesmal Sprache setzen« (S. 696). Wir wissen nicht, was Wahrheit sei; also wissen wir noch weniger, was die Negation der Wahrheit sei, die Unwahrheit oder die Falschheit; es wäre denn, daß wir den Begriff falsch mit dem Begriffe nein identifizieren wollten, womit nicht viel gewonnen wäre.
R. Richter hat (»Skeptizismus in der Philosophie« II. 176; die Stelle ist gegen das berühmte Wort von Spinoza gerichtet: Sicut lux se ipsum et tenebras manifestat, sic veritas norma sui et falsi est) dadurch Klarheit zu schaffen gesucht, daß er Falschheit eine logische Kategorie nannte, Irrtum eine psychologische; und für den Sprachgebrauch, der ja immer die jeweilige objektive Wahrheit darstellt, ist diese Unterscheidung gut oder nützlich. Sie wird aber doch wohl nur etwas Relatives bezeichnen, die Beziehung eines Individuums zu einem Urteil. Wenn A behauptet oder glaubt oder für wahr hält, daß die Erde still stehe, so glaubt er nach dem Wissen von B etwas Falsches, so befindet er sich psychologisch im Stande des Irrtums; was aber diesen Glauben des A für objektiv falsch erklärt, das ist doch nicht die abstrakte Logik, sondern nur das reichere Wissen von B, der besser begründete Glaube von B. Es gibt kein rein logisches, kein unpsychologisches Wissen; und es gibt schon darum allein keine ewigen Wahrheiten.
Ich will aber die erkenntnistheoretische Untersuchung des Begriffspaares für das immerhin positivere Wort Wahrheit aufsparen, und möchte hier nur wieder einmal ein Beispiel dafür geben, wie sich die Hauptkategorien der grammatischen Redeteile für erkenntnistheoretische Fragen benützen lassen.
Unser Begriffspaar gehört eigentlich nur der verbalen Welt an; freilich einer so sublimierten Verbalwelt, daß vom Zwecke, den wir als das bildende Prinzip des Verbalbegriffs erkannt haben, nicht mehr viel übrig geblieben ist. Immerhin bedeuten die Vorstellungen etwas für wahr halten, etwas glauben für uns noch so viel wie den Akt der Bejahung (oder der auf die Bejahung gerichteten Aufmerksamkeit); geschieht das Bejahen durch das Aussprechen von Worten oder durch eine zustimmende Gebärde, so ist offenbar noch ein Verbum vorhanden (sprechen, nicken), das dadurch entsteht, daß eine Anzahl mikroskopischer Bewegungen (wie bei graben, stricken) durch einen menschlichen Zweck zu einem Ganzen, eben dem Verbum, geordnet werden. Für das Gegenteil der Zustimmung, für das Nichtglauben, Nicht-für-wahr-halten, haben wir bezeichnenderweise, außer diesen offenbaren Negationen, nur wieder andere Negationen. Bei primitiven Menschen, in einer primitiven Sprache besteht ja gar kein Unterschied zwischen: urteilen und dem Inhalt des Urteils bejahen. Man sagt: diese Leute glauben alles, was sie wahrnehmen, was sie denken oder hören. Die Verneinung ist ja erst die Antwort auf eine Frage: ob das ausgesprochene Urteil denn auch die Probe der besonders darauf gerichteten Aufmerksamkeit bestehe. Je höher die Geisteskultur, desto leichter spielt sich Frage und Antwort in dem gleichen Gehirn ab; die Aufmerksamkeit wird reger, die Leichtgläubigkeit geringer; aber wie gesagt, die Leugnung eines Urteils, die Verneinung, ist nicht ein Sieg der logischen Kategorie über die psychologische, sondern der Sieg des besser unterrichteten psychologischen Denkens über das schlechtere psychologische Denken. Das Urteil bekommt durch unser Begriffspaar ein positives oder ein negatives Vorzeichen; wird die Aufmerksamkeit, die Besinnung gar nicht auf die Frage: Ja oder nein? – gerichtet, so wird dennoch tapfer darauf los bejaht und verneint, unbewußt nämlich, in den allermeisten Fällen, wenn Menschen sprechen oder denken. Und wie in der elementaren Arithmetik, wie Kinder sie lernen und wie wir sie täglich anwenden, das positive Vorzeichen als selbstverständlich vorausgesetzt wird, so setzen einfache Menschen die Bejahung bei allen Urteilen voraus, die sie eingeübt haben und gedankenlos nachsprechen. Vorurteile sind Urteile vor der Aufmerksamkeit, die zwischen Bejahung und Verneinung erst zu entscheiden hätte; in dieser Aufmerksamkeit besteht die Anstrengung, die zweckmäßige Tätigkeit, das Verbum des Bejahens oder Verneinens.
Der substantivischen Welt gehört das Begriffspaar Wahrheit und Falschheit eigentlich gar nicht an, wenn auch diese beiden Worte nach der Analogie von Substantiven gebildet sind; durch die Bejahung kommt zu einem richtigen Urteile nichts hinzu, durch die Verneinung wird das Urteil annihiliert. Beim verbalen Für-wahr-halten kommt, sobald wir unser Glauben besonders betonen wollen, nichts weiter hinzu, als etwa bei der Bekräftigung einer Aussage durch den Schwur oder den Fluch; wir drücken das meist ohne eine besondere Versicherung durch einen bestimmten Ton der Stimme aus; das primitivere Judendeutsch liebt es, ein Ja wie einen Schwur hinzuzufügen. »Du hast es mir ja versprochen,« das wohl zu unterscheiden ist von dem gut deutschen: »Du hast es mir ja versprochen.« Wahrheit und Falschheit sind aber nur Ersetzungen für diesen pathetischen Tonfall, für ja und nein, ein überflüssiges und ein leeres Substantiv, beide von den Adjektiven wahr und falsch durch die bekannte Endsilbe heit gebildet, die sich ja gern zu den Scheingestalten so blasser Abstraktionen hergibt. Für mein Sprachgefühl ist es weniger seltsam, daß der Araber das nomen agentis Lügner mit Vater der Lüge umschreibt, als daß wir die Betonung des Nichtglaubens durch die substantivische Bildung Falschheit (Zustand des Falsches) verdinglichen.
Die beiden Adjektive wahr und falsch nun, die uns so geläufig sind, haben für die psychologische Wirklichkeitswelt weniger Bedeutung als die verbalen Worte, die doch immerhin bei der Verarbeitung der Empfindungen die letzte Appretur ausdrücken, ja sie bedeuten noch weniger als das überflüssige und das leere Substantiv. Die Worte wahr und falsch lassen sich überhaupt auf die äußere Wirklichkeit gar nicht anwenden; sie gehören der psychologischen oder innern Wirklichkeit genau genommen nur als mißverstandene Verbalformen an. Deutlich ist das bei falsch, dem Lehnworte aus lat. falsus: was unser Glauben getäuscht hat; falsus kommt von fallere her. Wir nennen aber unsere Sinneseindrücke, wenn wir getäuscht worden sind, nach einem recht philosophischen Sprachgebrauche, gar nicht falsch; wir reden vielmehr von Wirklichkeit und Schein. Nur unsere Urteile über die Existenz von Wirklichkeiten und ihren Relationen, unterscheiden wir danach in wahre und falsche, je nachdem diese Urteile eine prüfende Aufmerksamkeit aushalten oder nicht. Wir können uns eine Sprache, der der Begriff glauben fehlte, kaum vorstellen; wohl aber wäre eine Sprache der höchsten Weisheit möglich, die keine Worte mehr hätte für wahr und falsch, für ja und nein; daß es sich in den wirklichen Sprachen eher umgekehrt verhält, mag uns ahnen lassen, wie viele primitive Vorstellungen immer noch in unsern Sprachen verborgen sind.
Die Worte wahr und falsch hätten uns nicht so vertraut werden können, wenn sie nicht in den Gemeinsprachen neben ihrer blassen logischen Bedeutung noch ganz robuste adjektivische Bedeutungen angenommen hätten, wo denn freilich bei falsch immer eine Negation mitverstanden wird. Falsch kann in dieser echt adjektivischen Bedeutung auf Dinge wie auf Personen gehen; bei Dingen, die man falsch nennt, denkt man theoretisch an ihre Unechtheit, praktisch an ihre Wertlosigkeit: falsches Geld, falsche Perlen, auch falsche Haare; das Adjektiv ist ein echtes Adjektiv, weil der Kenner den Dingen ansehen kann, ob sie echt oder falsch sind. Bei Personen versteht man unter falsch einen häßlichen, unaufrichtigen, unwahren Charakter; mundartlich gebraucht man wohl auch falsch im Sinne von zornig, böse; war wahr zur Bezeichnung einer guten Eigenschaft geworden, so konnte falsch die entgegengesetzte Eigenschaft bedeuten.