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Einleitung

Lieber Ernst,

ich möchte Dir dieses Buch widmen. Ich habe mich oft meines treuen und dankbaren Gedächtnisses gerühmt. Darf ich Dich heute an ein Erlebnis erinnern, das etwas mehr als 50 Jahre zurückliegt? Alt genug für solche Erinnerungsfeste sind wir ja geworden. Ich war etwa 8 Jahre alt, Du 13. In unserem Kinderzimmer saßen wir fünf Brüder eines Abends, ein jeder an seinem kleinen Tischchen bei einer Talgkerze, mit unseren Schularbeiten beschäftigt. Ich hatte für den Prüfungstag, für den morgenden Tag also, in ein Heft die Gedichte abzuschreiben, die wir im Laufe des Semesters auswendig gelernt hatten. Eben hatte ich den letzten Vers abgeschrieben, als ich so ungeschickt war, das Tintenfaß anstatt der Streusandbüchse zu ergreifen und es über das Heft auszuleeren. Ich heulte jämmerlich; ich war wohl wehleidig. Der Schaden war freilich kaum wieder gut zu machen, weil meine Schreibfertigkeit damals noch kaum ausreichte, 32 Seiten in einer Nacht zu leisten. Für den Spott brauchte ich nicht zu sorgen. Du aber kamst an mich heran, überblicktest das Unheil prüfend und sagtest dann: »Leg' dich nur ruhig schlafen; ich werde dir die paar Seiten abschreiben.« Ich tröstete mich schnell, schlief wirklich bald ein, und des Morgens fand ich das dumme Heft in Deiner schönen Handschrift auf meinem Tischchen, neben der herabgebrannten Kerze. Die Menschen ändern sich nicht. Ich habe noch mehr als einmal vom Tintenfasse unratsamen Gebrauch gemacht; und Du hast noch mehr als einmal gearbeitet, und mich schlafen geschickt. Ich weiß, ich stehe nicht allein mit solchen Erinnerungen an Deinen Charakter. Mit treuem und dankbarem Gedächtnis möchte ich Dir dieses Buch widmen; die Ruhe, die mir eine Bedingung für meine Arbeit war, verdanke ich Dir und den beiden andern, die Du kennst. Man könnte die Stille, welche Bedingung und Ziel zugleich einer solchen Arbeit ist, noch mit andern Namen rufen: ich verdanke Euch meine Unabhängigkeit, meine Freiheit. Die äußere Freiheit, die innere zu suchen. Man könnte anstatt von Freiheit auch von Lebensmöglichkeit sprechen. Aber wir beide lieben die überlauten Worte nicht, nicht wahr? Ich möchte Dir noch etwas sagen. Man spricht darüber nicht jeden Tag. Als ich vor kurzem 60 Jahre alt wurde, brachte mir die Post allerlei Zeitungsblätter ins Haus, in denen meiner ganzen Tätigkeit mit Achtung und Liebe gedacht war. Auch sonst kommt das mitunter vor. Dann hat mir immer etwas gefehlt: daß ich solche Zeichen guter Meinung nicht mehr unserer Mutter vorlegen kann. Ihr unbestechliches Urteil hätte sich durch keinen Zeitungskram irre machen lassen; aber es wäre ihr doch lieb gewesen, auch von diesem Kinde etwas Freundliches zu hören. Ich glaube fast, mir ist nicht ganz klar, was ich Dir damit eigentlich noch sagen wollte. So ungefähr: ich gedenke auch der Mutter, wenn ich just Dir dieses ungefüge Buch widme.

Meersburg a. Bodensee, im Mai 1910.

Dein
Fritz.