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[Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts]

»Les temps sont plus intéressants que les hommes.«

Honoré de Balzac critique littéraire Introduction de Louis Lumet Paris 1912 p 103 [Guy de la Ponneraye: Histoire de l’Amiral Coligny]

»Die Reform des Bewußtseins besteht nur darin, daß man die Welt … aus dem Traume über sich selbst aufweckt.«

Karl Marx: Der historische Materialismus Die Frühschriften Leipzig 〈1932〉 I p 226 (Marx an Ruge Kreuzenach September 1843)

In den Gebieten, mit denen wir es zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur blitzhaft. Der Text ist der langnachrollende Donner. [N 1, 1]

Vergleich der Versuche der andern mit Unternehmen der Schifffahrt, bei denen die Schiffe vom magnetischen Nordpol abgelenkt werden. Diesen Nordpol zu finden. Was für die anderen Abweichungen sind, das sind für mich die Daten, die meinen Kurs bestimmen. – Auf den Differentialen der Zeit, die für die anderen die »großen Linien« der Untersuchung stören, baue ich meine Rechnung auf. [N 1, 2]

Über das Methodische der Abfassung selbst einiges sagen: wie alles, was man gerade denkt einer Arbeit, an der man steht, um jeden Preis einverleibt werden muß. Sei es nun, daß darin ihre Intensität sich bekundet, sei es, daß die Gedanken von vornherein ein Telos auf diese Arbeit in sich tragen. So ist es auch mit dem gegenwärtigen, der die Intervalle der Reflexion, die Abstände zwischen den höchst intensiv nach außen gewandten, wesentlichsten Teilen dieser Arbeit zu charakterisieren und zu behüten hat. [N 1, 3]

Gebiete urbar zu machen, auf denen bisher nur der Wahnsinn wuchert. Vordringen mit der geschliffenen Axt der Vernunft und ohne rechts noch links zu sehen, um nicht dem Grauen anheimzufallen, das aus der Tiefe des Urwalds lockt. Aller Boden mußte einmal von der Vernunft urbar gemacht, vom Gestrüpp des Wahns und des Mythos gereinigt werden. Dies soll für den des 19ten Jahrhunderts hier geleistet werden. [N 1, 4]

Diese Niederschrift, die von den pariser Passagen handelt, ist unter freiem Himmel begonnen worden wolkenloser Bläue, die überm Laube sich wölbte und doch von den Millionen von Blättern, in denen die frische Brise des Fleißes, der schwerfällige Atem des Forschers, der Sturm des jungen Eifers und das träge Lüftchen der Neugier rauschten, mit vielhundertjährigem Staube bedeckt worden. Denn der gemalte Sommerhimmel, der aus Arkaden in den Arbeitssaal der pariser Nationalbibliothek hinuntersieht, hat seine träumerische, lichtlose Decke über ihr ausgebreitet. [N 1, 5]

Das Pathos dieser Arbeit: es gibt keine Verfallszeiten. Versuch, das neunzehnte Jahrhundert so durchaus positiv anzusehen wie ich in der Trauerspielarbeit das siebzehnte mich zu sehen bemühte. Kein Glaube an Verfallszeiten. So ist auch (außerhalb der Grenzen) mir jede Stadt schön und ebenso ist mir die Rede von einem großem oder geringem Wert der Sprachen nicht akzeptabel. [N 1, 6]

Und später der gläserne Platz vor meinem Sitz in der Staatsbibliothek; nie betretner Bannkreis, terrain vierge für die Sohlen von mir beschworner Gestalten. [N 1, 7]

Pädagogische Seite dieses Vorhabens: »Das bildschaffende Medium in uns zu dem stereoskopischen und dimensionalen Sehen in die Tiefe der geschichtlichen Schatten zu erziehen.« Das Wort stammt von Rudolf Borchardt: Epilegomena zu Dante I Berlin 1923 p 56/57 [N 1, 8]

Abgrenzung der Tendenz dieser Arbeit gegen Aragon: Während Aragon im Traumbereiche beharrt, soll hier die Konstellation des Erwachens gefunden werden. Während bei Aragon ein impressionistisches Element bleibt – die »Mythologie« – und dieser Impressionismus ist für die vielen gestaltlosen Philosopheme des Buches verantwortlich zu machen – geht es hier um Auflösung der »Mythologie« in den Geschichtsraum. Das freilich kann nur geschehen durch die Erweckung eines noch nicht bewußten Wissens vom Gewesnen. [N 1, 9]

Diese Arbeit muß die Kunst, ohne Anführungszeichen zu zitieren, zur höchsten Höhe entwickeln. Ihre Theorie hängt aufs engste mit der der Montage zusammen. [N 1, 10]

»Abgesehen von einem gewissen Haut-goût-Reiz, sind die künstlerischen Drapierungen des vergangenen Jahrhunderts muffig geworden« sagt Giedion. Giedion: Bauen in Frankreich Lpz Berlin 〈1928〉 p 3. Wir aber glauben, daß der Reiz mit dem sie auf uns wirken, verrät, daß auch sie lebenswichtige Stoffe für uns enthalten – nicht zwar für unser Bauen, wie die konstruktiven Antizipationen der Eisengerüste es tun, wohl aber für unser Erkennen wenn man will für die Durchleuchtung der bürgerlichen Klassenlage im Augenblick da die ersten Verfallszeichen in ihr erscheinen. Politisch lebenswichtige Stoffe auf jeden Fall; das beweist die Fixierung der Sürrealisten an diese Dinge genau so wie ihre Ausbeutung durch die gegenwärtige Mode. Mit andern Worten: genau so, wie Giedion uns lehrt, aus den Bauten um 1850 die Grundzüge des heutigen Bauens abzulesen, wollen wir aus dem Leben 〈und〉 aus den scheinbar sekundären, verlorenen Formen jener Zeit heutiges 〈Leb〉⁠en, heutige Formen ablesen. [N 1, 11]

»In den luftumspülten Stiegen des Eiffelturms, besser noch in den Stahlschenkeln eines Pont Transbordeur, stößt man auf das ästhetische Grunderlebnis des heutigen Bauens: Durch das dünne Eisennetz, das in dem Luftraum gespannt bleibt, strömen die Dinge, Schiffe, Meer, Häuser, Maste, Landschaft, Hafen. Verlieren ihre abgegrenzte Gestalt: kreisen im Abwärtsschreiten ineinander, vermischen sich simultan.« Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich Lpz Berlin p 7 So hat auch der Historiker heute nur ein schmales, aber tragfähiges Gerüst – ein philosophisches – zu errichten, um die aktuellsten Aspekte der Vergangenheit in sein Netz zu ziehen. Wie aber die großartigen Ansichten, die die neuen Eisenkonstruktionen von den Städten gewährten – s⁠〈iehe〉 a⁠〈uch〉 Giedion Abb⁠〈ildungen〉 61/63 – auf lange hinaus sich ausschließlich den Arbeitern und Ingenieuren erschlossen, so muß auch der Philosoph, der hier die ersten Aspekte gewinnen will, ein selbständiger, schwindelfreier, wenn es sein muß einsamer Arbeiter sein. [N 1 a, 1]

Analog aber deutlicher als das Barockbuch das 17te Jahrhundert durch die Gegenwart belichtet, muß es hier mit dem 19ten geschehen. [N 1 a, 2]

Kleiner methodischer Vorschlag zur kulturgeschichtlichen Dialektik. Es ist sehr leicht, für jede Epoche auf ihren verschiednen »Gebieten« Zweiteilungen nach bestimmten Gesichtspunkten vorzunehmen, dergestalt daß auf der einen Seite der »fruchtbare«, »zukunftsvolle«, »lebendige«, »positive«, auf der andern der vergebliche, rückständige, abgestorbene Teil dieser Epoche liegt. Man wird sogar die Konturen dieses positiven Teils nur deutlich zum Vorschein bringen, wenn man ihn gegen den negativen profiliert. Aber jede Negation hat ihren Wert andererseits nur als Fond für die Umrisse des Lebendigen, Positiven. Daher ist es von entscheidender Wichtigkeit, diesem, vorab ausgeschiednen, negativen Teile von neuem eine Teilung zu applizieren, derart, daß, mit einer Verschiebung des Gesichtswinkels (nicht aber der Maßstäbe!) auch in ihm von neuem ein Positives und ein anderes zu Tage tritt als das vorher bezeichnete. Und so weiter in infinitum, bis die ganze Vergangenheit in einer historischen Apokatastasis in die Gegenwart eingebracht ist. [N 1 a, 3]

Das Vorstehende, anders gewendet: die Unzerstörbarkeit des höchsten Lebens in allen Dingen. Gegen die Prognostiker des Verfalls. Und gewiß: ist es nicht eine Schändung Goethes, den »Faust« zu verfilmen und liegt nicht eine Welt zwischen der Faustdichtung und dem Faustfilm? So ist es. Aber liegt nicht von neuem die ganze Welt zwischen einer schlechten und einer guten Verfilmung des »Faust«? Es kommt ja nirgends auf die »großen«, nur auf die dialektischen Kontraste an, die oft Nuancen zum Verwechseln ähnlich sehen. Aus ihnen aber gebiert sich das Leben immer neu. [N 1 a, 4]

Breton und Le Corbusier umfassen – das hieße den Geist des gegenwärtigen Frankreich wie einen Bogen spannen, aus dem die Erkenntnis den Augenblick mitten ins Herz trifft. [N 1 a, 5]

Marx stellt den Kausalzusammenhang zwischen Wirtschaft und Kultur dar. Hier kommt es auf den Ausdruckszusammenhang an. Nicht die wirtschaftliche Entstehung der Kultur sondern der Ausdruck der Wirtschaft in ihrer Kultur ist darzustellen. Es handelt sich, mit andern Worten, um den Versuch, einen wirtschaftlichen Prozeß als anschauliches Urphänomen zu erfassen, aus welchem alle Lebenserscheinungen der Passagen (und insoweit des 19ten Jahrhunderts) hervorgehen. [N 1 a, 6]

Diese Untersuchung, die es im Grunde mit dem Ausdruckscharakter der frühesten Industrieerzeugnisse, der frühesten Industriebauten, der frühesten Maschinen aber auch der frühesten Warenhäuser, Reklamen etc zu tun hat, wird damit in zwiefacher Weise für den Marxismus wichtig. Erstens wird sie darauf stoßen, in welcher Weise die Umwelt, in der die Lehre von Marx entstand, durch ihren Ausdruckscharakter, also nicht nur durch ihre Kausalzusammenhänge, auf diese einwirkte, zweitens aber auch zeigen, in welchen Zügen auch der Marxismus den Ausdruckscharakter der ihm gleichzeitigen materiellen Erzeugnisse teilt. [N 1 a, 7]

Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden. [N 1 a, 8]

Sich immer wieder klarmachen, wie der Kommentar zu einer Wirklichkeit (denn hier handelt es sich um den Kommentar, Ausdeutung in den Einzelheiten) eine ganz andere Methode verlangt als der zu einem Text. Im einen Fall ist Theologie, im andern Philologie die Grundwissenschaft. [N 2, 1]

Es kann als eines der methodischen Objekte dieser Arbeit angesehen werden, einen historischen Materialismus zu demonstrieren, der die Idee des Fortschritts in sich annihiliert hat. Gerade hier hat der historische Materialismus alle Ursache, sich gegen die bürgerliche Denkgewohnheit scharf abzugrenzen. Sein Grundbegriff ist nicht Fortschritt sondern Aktualisierung. [N 2, 2]

Geschichtliches »Verstehen« ist grundsätzlich als ein Nachleben des Verstandnen zu fassen und daher ist dasjenige was in der Analyse des »Nachlebens der Werke«, des »Ruhmes« erkannt wurde, als die Grundlage der Geschichte überhaupt zu betrachten. [N 2, 3]

Wie diese Arbeit geschrieben wurde: Sprosse für Sprosse, je nachdem wie der Zufall dem Fuße einen schmalen Stützpunkt bot und immer wie einer der gefährliche Höhen erklettert und keinen Augenblick sich umsehen darf um nicht schwindlig zu werden (aber auch um die ganze Gewalt des ihm sich bietenden Panoramas für das Ende sich aufzusparen).[N 2, 4]

Die Überwindung des Begriffs des »Fortschritts« und des Begriffs der »Verfallszeit« sind nur zwei Seiten ein und derselben Sache. [N 2, 5]

Ein zentrales Problem des historischen Materialismus, das endlich gesehen werden sollte: Ob das marxistische Verständnis der Geschichte unbedingt mit ihrer Anschaulichkeit erkauft werden muß? Oder: auf welchem Wege es möglich ist, gesteigerte Anschaulichkeit mit der Durchführung der marxistischen Methode zu verbinden. Die erste Etappe dieses Weges wird sein, das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen. Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken. Also mit dem historischen Vulgärnaturalismus zu brechen. Die Konstruktion der Geschichte als solche zu erfassen. In Kommentarstruktur. ◼ Abfall der Geschichte ◼ [N 2, 6]

Ein Kierkegaard-Zitat bei Wiesengrund mit anschließendem Kommentar: »›Zu einer gleichen Betrachtung des Mythischen kann man auch kommen, wenn man vom Bildlichen ausgeht. Wenn man nämlich in einer reflektierenden Zeit in einer reflektierenden Darstellung das Bildliche sehr sparsam und leicht überhörbar hervortreten, gleich einer antediluvialen Versteinerung an eine andere Daseinsform erinnern sieht, die den Zweifel wegspülte, so wird man sich vielleicht darüber verwundern, daß das Bildliche jemals eine so große Rolle hat spielen können‹. Das ›Verwundern‹ wehrt Kierkegaard mit dem Folgenden ab. Und doch meldet es die tiefste Einsicht über das Verhältnis von Dialektik, Mythos und Bild an. Denn nicht als je und je lebendig-gegenwärtige setzt Natur in der Dialektik sich durch. Dialektik hält im Bild inne und zitiert im historisch Jüngsten den Mythos als das Längstvergangene: Natur als Urgeschichte. Darum sind die Bilder, die gleich dem des Intérieurs Dialektik und Mythos zur Indifferenz bringen, wahrhaft ›antediluviale Versteinerungen‹. Sie dürfen dialektische Bilder heißen mit einem Ausdruck Benjamins, dessen schlagende Definition der Allegorie auch für Kierkegaards allegorische Intention als Figur historischer Dialektik und mythischer Natur gilt. Nach ihr ›liegt in der Allegorie die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betracher vor Augen‹.« Theodor Wiesengrund-Adorno: Kierkegaard Tübingen 1933 p 60 ◼ Abfall der Geschichte ◼ [N 2, 7]

Daß zwischen der Welt der modernen Technik und der archaischen Symbolwelt der Mythologie Korrespondenzen spielen, kann nur der gedankenlose Betrachter leugnen. Zunächst wirkt das technisch Neue freilich allein als solches. Aber schon in der nächsten kindlichen Erinnerung ändert es seine Züge. Jede Kindheit leistet etwas Großes, Unersetzliches für die Menschheit. Jede Kindheit bindet in ihrem Interesse für die technischen Phänomene, ihre Neugier für alle Art von Erfindungen und Maschinerien die technischen Errungenschaften an die alten Symbolwelten. Es gibt nichts im Bereiche der Natur, das solcher Bindung von Hause aus entzogen wäre. Nur bildet sie sich nicht in der Aura der Neuheit sondern in der der Gewöhnung. In Erinnerung, Kindheit und Traum. ◼ Erwachen ◼ [N 2 a, 1]

Das urgeschichtliche Moment im Vergangenen wird – auch dies Folge und Bedingung der Technik zugleich – nicht mehr, wie einst, durch die Tradition der Kirche und Familie verdeckt. Der alte prähistorische Schauer umwittert schon die Umwelt unserer Eltern, weil wir durch Tradition nicht mehr an sie gebunden sind. Die Merkwelten zersetzen sich schneller, das Mythische in ihnen kommt schneller, krasser zum Vorschein, schneller muß eine ganz andersartige Merkwelt aufgerichtet und ihr entgegengesetzt werden. So sieht unter dem Gesichtspunkt der aktuellen Urgeschichte das beschleunigte Tempo der Technik aus. ◼ Erwachen ◼ [N 2 a, 2]

Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit andern Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf sondern Bild⁠〈,〉 sprunghaft. – Nur dialektische Bilder sind echte (d. h.: nicht archaische) Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache. ◼ Erwachen ◼ [N 2 a, 3]

Bei dem Studium der Simmelschen Darstellung von Goethes Wahrheitsbegriff, wurde mir sehr deutlich, daß mein Begriff des Ursprungs im Trauerspielbuch eine strenge und zwingende Übertragung dieses goetheschen Grundbegriffs aus dem Bereich der Natur in den der Geschichte ist. Ursprung – das ist der aus dem heidnischen Naturzusammenhange in die jüdischen Zusammenhänge der Geschichte eingebrachte Begriff des Urphänomens. Nun habe ich es in der Passagenarbeit auch mit einer Ursprungsergründung zu tun. Ich verfolge nämlich den Ursprung der Gestaltungen und Veränderungen der pariser Passagen von ihrem Aufgang bis zu ihrem Untergang und erfasse ihn in den wirtschaftlichen Fakten. Diese Fakten, angesehe⁠〈n〉 unter dem Gesichtspunkt der Kausalität, also als Ursachen, wären aber keine Urphänomene; das werden sie erst, indem sie in ihrer selbsteignen Entwicklung – Auswicklung wäre besser gesagt – die Reihe der konkreten historischen Formen der Passagen aus sich hervorgehen lassen, wie das Blatt den ganzen Reichtum der empirischen Pflanzenwelt aus sich herausfaltet. [N 2 a, 4]

»A étudier cet âge si proche et si lointain, je me compare à un chirurgien opérant par anesthésie locale; je travaille en des régions insensibles, mortes, et le malade, cependant, vit et peut encore parler.« Paul Morand: 1900 Paris 1931 p 6/7 [N 2 a, 5]

Was die Bilder von den »Wesenheiten« der Phänomenologie unterscheidet, das ist ihr historischer Index. (Heidegger sucht vergeblich die Geschichte für die Phänomenologie abstrakt, durch die »Geschichtlichkeit« zu retten.) Diese Bilder sind durchaus abzugrenzen von den »geisteswissenschaftlichen« Kategorien, dem sogenannten Habitus, dem Stil etc. Der historische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, daß sie einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen. Und zwar ist dieses »zur Lesbarkeit« gelangen ein bestimmter kritischer Punkt der Bewegung in ihrem Innern. Jede Gegenwart ist durch diejenigen Bilder bestimmt, die mit ihr synchronistisch sind: jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit. In ihm ist die Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen geladen. (Dies Zerspringen, nichts anderes, ist der Tod der Intentio, der also mit der Geburt der echten historischen Zeit, der Zeit der Wahrheit, zusammenfällt.) Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangne wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit andern Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt eine dialektische: nicht zeitlicher sondern bildlicher Natur. Nur dialektische Bilder sind echt geschichtliche, d. h. nicht archaische Bilder. Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt. [N 3, 1]

Entschiedne Abkehr vom Begriffe der »zeitlosen Wahrheit« ist am Platz. Doch Wahrheit ist nicht – wie der Marxismus es behauptet – nur eine zeitliche Funktion des Erkennens sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden. Das ist so wahr, daß das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als eine Idee. [N 3, 2]

Die Geschichte der Passagenarbeit, ihrer Entwicklung nach, aufzeichnen. Ihr eigentlich problematischer Bestandteil: auf nichts zu verzichten, die materialistische Geschichtsdarstellung als in höherem Sinne als die überkommene bildhaft zu erweisen. [N 3, 3]

Formulierung von Ernst Bloch zur Passagenarbeit: »Die Geschichte zeigt ihre Marke von Scotland-Yard.⁠〈«〉 Es war im Zusammenhange eines Gesprächs, in dem ich darlegte, wie diese Arbeit – vergleichbar der Methode der Atomzertrümmerung – die ungeheuren Kräfte der Geschichte freimacht, die im »Es war einmal« der klassischen Historie gebunden liegen. Die Geschichte, welche die Sache zeigte, »wie sie eigentlich gewesen ist«, war das stärkste Narkotikum des Jahrhunderts. [N 3, 4]

»Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen« heißt es an einer Stelle des Kellerschen Sinngedichts. Damit ist der Wahrheitsbegriff formuliert, mit dem in diesen Darstellungen gebrochen wird. [N 3 a, 1]

»Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts« – die hätte kein Interesse, wenn man es so versteht, daß im Bestand des neunzehnten Jahrhunderts urgeschichtliche Formen sollten wiedergefunden werden. Nur wo das neunzehnte Jahrhundert als originäre Form der Urgeschichte würde dargestellt werden, in einer Form also, in welcher sich die ganze Urgeschichte in solchen Bildern neu gruppiert, die im vergangnen Jahrhundert zuständig sind, hat der Begriff von einer Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts seinen Sinn. [N 3 a, 2]

Sollte Erwachen die Synthesis sein aus der Thesis des Traumbewußtseins und der Antithesis des Wachbewußtseins? Dann wäre der Moment des Erwachens identisch mit dem »Jetzt der Erkennbarkeit«, in dem die Dinge ihre wahre – surrealistische – Miene aufsetzen. So ist bei Proust wichtig der Einsatz des ganzen Lebens an der im höchsten Grade dialektischen Bruchstelle des Lebens, dem Erwachen. Proust beginnt mit einer Darstellung des Raums des Erwachenden. [N 3 a, 3]

»Si j’insiste sur ce mécanisme de la contradiction dans la biographie d’un écrivain …, c’est que la suite de sa pensée ne peut négliger les faits qui ont une logique différente de celle de sa pensée prise isolément. C’est qu’il n’est pas une idée à laquelle il tienne, qui tienne vraiment … en face de faits primordiaux et très simples: qu’il y a une police et des canons face aux travailleurs, qu’il y a la guerre qui menace et le fascisme déjà qui règne … Il est de la dignité d’un homme de soumettre ses conceptions à ces faits-là, et non pas de faire entrer ces faits-là par un tour de passe-passe dans ses conceptions, si ingénieuses qu’elles soient.« Aragon: D’Alfred de Vigny à Avdeenko (Commune II, 20 Avril 1935 p 808/09) Aber wohl ist es möglich, daß ich, meiner Vergangenheit widersprechend, eine Kontinuität mit der eines andern herstelle, der dieser seinerseits, als Kommunist, widerspricht. In diesem Fall: mit der Aragons, der sich von seinem Paysan de Paris im gleichen Aufsatze lossagt: »Et comme la plupart de mes amis, j’aimais ce qui est manqué, ce qui est monstre, ce qui ne peut pas vivre, ce qui ne peut pas aboutir … J’étais comme eux, je préférais l’erreur à son contraire.« p 807 [N 3 a, 4]

Im dialektischen Bild ist das Gewesne einer bestimmte⁠〈n〉 Epoche doch immer zugleich das »Von-jeher-Gewesene.« Als solches aber tritt es jewei⁠〈l〉⁠s nur einer ganz bestimmten Epoche vor Augen: der nämlich, in der d⁠〈ie〉 Menschheit, die Augen sich reibend, gerade dieses Traumbild als solches erkennt. In diesem Augenblick ist es, daß der Historiker an ihm die Aufgabe der Traumdeutung übernimmt. [N 4, 1]

Die Rede vom Buch der Natur weist darauf hin, daß man das Wirkliche wie einen Text lesen kann. So soll es hier mit der Wirklichkeit des neunzehnten Jahrhunderts gehalten werden. Wir schlagen das Buch des Geschehenen auf. [N 4, 2]

Wie Proust seine Lebensgeschichte mit dem Erwachen beginnt, so muß jede Geschichtsdarstellung mit dem Erwachen beginnen, ja sie darf eigentlich von nichts anderm handeln. So handelt diese vom Erwachen aus dem neunzehnten Jahrhundert. [N 4, 3]

Die Verwertung der Traumelemente beim Aufwachen ist der Kanon der Dialektik. Sie ist vorbildlich für den Denker und verbindlich für den Historiker. [N 4, 4]

Raphael sucht die marxistische Auffassung vom normativen Charakter der griechischen Kunst zu korrigieren: »Si le caractère normatif de l’art grec est … un fait historique s’expliquant … nous devrons … déterminer … quelles furent les conditions spéciales qui amenèrent chaque renaissance, et quels furent, par conséquent, les facteurs spéciaux de … l’art grec que ces renaissances acceptèrent comme modèle. Car la totalité de l’art grec n’a jamais possédé un caractère normatif; les renaissances … ont leur propre histoire … Seule une analyse historique peut indiquer l’époque à laquelle la notion abstraite d’une ›norme‹ … de l’antiquité a pris naissance … Celle-ci ne fut créée que par la Renaissance, c’est-à-dire par le capitalisme primitif, et acceptée ensuite par le classicisme qui … commença à lui assigner sa place parmi les enchaînements historiques. Marx n’a pas progressé sur cette voie dans la pleine mesure des possibilités du matérialisme historique.« Max Raphael: Proudhon Marx Picasso Paris 〈1933〉 p 178/79 [N 4, 5]

Es ist das Eigentümliche der technischen Gestaltungsformen (im Gegensatz zu den Kunstformen), daß ihr Fortschritt und ihr Gelingen der Durchsichtigkeit ihres gesellschaftlichen Inhalts proportional sind. (Daher Glasarchitektur.) [N 4, 6]

Eine wichtige Stelle bei Marx: »Il est reconnu, en ce qui concerne … par exemple l’épopée … que … certaines expressions importantes de l’art ne sont possibles qu’à un degré peu développé de révolution artistique. Si cela est vrai des rapports entre les différentes espèces de l’art, dans le domaine de l’art lui-même, il sera déjà moins surprenant que ce soit le cas pour les rapports entre la totalité du domaine de l’art et le développement général de la société.« cit ohne Stellenangabe (vielleicht Theorien des Mehrwerts I?) bei Max Raphael: Proudhon Marx Picasso Paris 〈1933〉 p 160 [N 4 a, 1]

Die marxistische Kunsttheorie: bald bramarbasierend und bald scholastisch. [N 4 a, 2]

Vorschlag einer Stufenfolge des Überbaus bei A. Asturaro: Il materialismo storico e la sociologia generale Genua 1904 (besprochen in Die Neue Zeit Stuttgart XXIII, 1 p 62 von Erwin Szabó): »Ökonomie. Familie und Verwandtschaft. Recht. Krieg, Politik. Moral. Religion. Kunst. Wissenschaft.« [N 4 a, 3]

Merkwürdige Äußerung von Engels über die »gesellschaftlichen Kräfte«: »Einmal in ihrer Natur begriffen, können sie in den Händen der assoziierten Produzenten aus dämonischen Herrschern in willige Diener verwandelt werden.« (!) Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft 1882 [N 4 a, 4]

Marx im Nachwort zur zweiten Auflage des »Kapital«: »Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.« Karl Marx: Das Kapital I Berlin 〈1932〉 ed Korsch p 45 [N 4 a, 5]

Die besondere Schwierigkeit der historischen Arbeit für die Zeit nach dem Abschluß des achtzehnten Jahrhunderts ist da⁠〈r〉⁠zulegen. Seit Entstehung der großen Presse werden die Quellen unübersehbar. [N 4 a, 6]

Michelet will das Volk gern mit dem Namen »Barbaren« belegen lassen – »Barbares. Le mot me plaît, je l’accepte« – und er sagt von dessen Schriftstellern: »Eux, ils aiment infiniment, et trop, se donnant parfois au détail, avec la sainte gaucherie d’Albert Durer, ou le poli excessif de Jean-Jacques, qui ne cache pas assez l’art; par ce détail minutieux ils compromettent l’ensemble. Il ne faut pas trop les blâmer; c’est … le luxe de sève; cette sève … veut tout donner à la fois, les feuilles, les fruits et les fleurs, elle courbe et tord les rameaux. Ces défauts des grands travailleurs se trouvent souvent dans mes livres, qui n’ont pas leurs qualités. N’importe!« J Michelet: Le peuple Paris 1846 p XXXVI/XXXVII [N 5, 1]

Brief von Wiesengrund 5 August 1935: »Der Versuch, Ihr Moment des ›Traums‹ – als des Subjektiven am dialektischen Bild – mit der Auffassung von diesem als Modell zu versöhnen, hat mich zu einigen Formulierungen geführt …: Indem an Dingen ihr Gebrauchswert abstirbt, werden die entfremdeten ausgehöhlt und ziehen als Chiffern Bedeutungen herbei. Ihrer bemächtigt sich die Subjektivität, indem sie Intentionen von Wunsch und Angst in sie einlegt. Dadurch daß die abgeschiednen Dinge als Bilder der subjektiven Intentionen einstehen, präsentieren diese sich als urvergangne und ewige. Dialektische Bilder sind Konstellationen zwischen entfremdeten Dingen und eingehender Bedeutung, innehaltend im Augenblick der Indifferenz von Tod und Bedeutung. Während die Dinge im Schein zum Neuesten erweckt werden, verwandelt die Bedeutungen der Tod in älteste.« Zu diesen Überlegungen ist zu berücksichtigen, daß im neunzehnten Jahrhundert die Zahl der »ausgehöhlten« Dinge in vorher ungekanntem Maß und Tempo zunimmt, da der technische Fortschritt immer neue Gebrauchsgegenstände außer Kurs setzt. [N 5, 2]

»Der Kritiker kann … an jede Form des theoretischen und praktischen Bewußtseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln.« Karl Marx: Der historische Materialismus Die Frühschriften hg von Landshut und Mayer Leipzig 〈1932〉 I p 225 (Marx an Ruge Kreuzenach September 1843) Die Anknüpfung, von der Marx hier spricht, braucht durchaus nicht notwendig an die letzte Entwicklungsstufe anzuschließen. Sie kann an längst vergangnen Epochen vorgenommen werden, deren Sollen und deren Endzweck dann freilich nicht mit Rücksicht auf die nächstfolgende Entwicklungsstufe sondern in ihr selbst und als Präformation des Endzwecks der Geschichte darzustellen ist. [N 5, 3]

Engels sagt (Marx und Engels über Feuerbach. Aus dem Nachlaß Marx-Engels-Archiv hg von Rjazanov I Frankfurt a/M 〈1928〉 p 300): »Nicht zu vergessen, daß das Recht ebensowenig eine eigene Geschichte hat, wie die Religion.« Was von diesen beiden gilt, das gilt erst recht, auf entscheidende Weise, von der Kultur. Die Daseinsformen der klassenlosen Gesellschaft uns nach dem Bilde der Kulturmenschheit zu denken, wäre widersinnig. [N 5, 4]

»Unser Wahlspruch muß … sein: Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen.« Karl Marx: Der historische Materialismus Die Frühschriften Hg von Landshut und Mayer Leipzig 〈1932〉 I p 226/227 (Marx an Ruge Kreuzenach September 1843) [N 5 a, 1]

Die Menschheit soll versöhnt von ihrer Vergangenheit scheiden – und eine Form des Versöhntseins ist Heiterkeit. »Das jetzige deutsche Regime …, die zur Weltschau ausgestellte Nichtigkeit des ancien régime, … ist nur mehr der Komödiant einer Weltordnung, deren wirkliche Helden gestorben sind. Die Geschichte ist gründlich und macht viele Phasen durch, wenn sie eine alte Gestalt zu Grabe trägt. Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie. Die Götter Griechenlands, die schon einmal tragisch zu Tode verwundet waren im gefesselten Prometheus des Äschylus, mußten noch einmal komisch sterben in den Gesprächen Lucians. Warum dieser Gang der Geschichte? Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide.« Karl Marx: Der historische Materialismus Die Frühschriften ed Landshut und Mayer Leipzig I p 268 (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie) Der Surrealismus ist das Sterben des letzten Jahrhunderts in der Komödie. [N 5 a, 2]

Marx (Marx und Engels über Feuerbach. Aus dem Nachlaß Marx-Engels-Archiv I Frankfurt a/M 〈1928〉 p 301): »Es gibt keine Geschichte der Politik, des Rechts, der Wissenschaft, etc., der Kunst, der Religion, etc.« [N 5 a, 3]

In der »Heiligen Familie« heißt es von Bacos Materialismus: »Die Materie lacht in poetisch-sinnlichem Glanze den ganzen Menschen an.« [N 5 a, 4]

»Je regrette de n’avoir pu traiter que d’une façon très incomplète les faits de la vie quotidienne, alimentation, vêtement, habitation, usages de famille, droit privé, divertissements, relations de société, qui ont toujours formé l’intérêt principal de la vie pour l’énorme majorité des individus.« Charles Seignobos: Histoire sincère de la nation française Paris 1933 p XI [N 5 a, 5]

ad notam ein Wort von Valéry: »Le propre de ce qui est vraiment général est d’être fécond.« [N 5 a, 6]

Die Barbarei steckt im Begriff der Kultur selbst: als dem von einem Schatze von Werten, der unabhängig zwar nicht von dem Produktionsprozeß, in welchem sie entstanden, unabhängig von dem, in welchem sie überdauern, betrachtet wird. Sie dienen auf diese Weise der Apotheose des letz⁠〈t〉⁠ern⁠〈?〉, wie barbarisch der immer sein mag. [N 5 a, 7]

Zu ermitteln, wie der Begriff der Kultur entstanden ist, welchen Sinn er in den verschiednen Epochen hatte und welchen Bedürfnissen seine Prägung entsprach. Es könnte sich herausstellen, daß er, sofern er die Summe der »Kulturgüter« bezeichnet, jungen Ursprungs ist, bestimmt fehlte er zum Beispiel dem Klerus, der im frühen Mittelalter seinen Vernichtungskrieg gegen Zeugnisse der Antike führte. [N 6, 1]

Michelet – ein Autor, von dem ein Zitat, wo immer es sich findet, den Leser das Buch vergessen macht, in dem er es antrifft. [N 6, 2]

Hervorzuheben ist die besonders sorgfältige Ausstattung der ersten Schriften über die sozialen und charitativen Probleme, wie Naville: De la charité légale, Frégier: Des classes dangereuses usw. [N 6, 3]

»Je ne saurais trop insister sur le fait que, pour un matérialiste éclairé comme Lafargue, le déterminisme économique n’est pas l’›outil absolument parfait‹ qui ›peut devenir la clef de tous les problèmes de l’histoire‹.« André Breton: Position politique du surréalisme Paris (1935) p 8/9 [N 6, 4]

Jede geschichtliche Erkenntnis läßt sich im Bilde einer Wa⁠〈a〉⁠ge, die einsteht, vergegenwärtigen und deren eine Schale mit dem Gewesnen, deren andere mit der Erkenntnis der Gegenwart belastet ist. Während auf der ersten die Tatsachen nicht unscheinbar und nicht zahlreich genug versammelt sein können, dürfen auf der zweiten nur einige wenige schwere, massive Gewichte liegen. [N 6, 5]

»Die einzige würdige Haltung der Philosophie … im Industriezeitalter ist … die Zurückhaltung. Die ›Wissenschaftlichkeit‹ eines Marx bedeutet nicht, daß die Philosophie verzichtet …, sondern sie bedeutet, daß die Philosophie sich zurückhält, bis die Herrschaft einer niedrigen Wirklichkeit gebrochen ist.« Hugo Fischer: Karl Marx und sein Verhältnis zu Staat und Wirtschaft Jena 1932 p 59 [N 6, 6]

Nicht unwichtig ist, welchen Nachdruck Engels im Zusammenhang der materialistischen Geschichtsauffassung auf »Klassizität« legt. Er beruft sich für den Aufweis der Dialektik in der Entwicklung auf die Gesetze, »die der wirkliche geschichtliche Verlauf selbst an die Hand gibt, indem jedes Moment auf dem Entwicklungspunkt seiner vollen Reife, seiner Klassizität betrachtet werden kann.« cit Gustav Mayer: Friedrich Engels Zweiter Band Engels und der Aufstieg der Arbeiterbewegung in Europa Berlin 〈1933〉 p 434/5 [N 6, 7]

Engels im Brief an Mehring vom 14 Juli 1893: »Es ist dieser Schein einer selbständigen Geschichte der Staatsverfassungen, der Rechtssysteme, der ideologischen Vorstellungen auf jedem Sondergebiete, der die meisten Leute vor allem blendet. Wenn Luther und Calvin die offizielle katholische Religion, wenn Hegel den Fichte und Kant, Rousseau indirekt mit seinem Contrat Social den konstitutionellen Montesquieu ›überwindet‹, so ist das ein Vorgang, der innerhalb der Theologie, der Philosophie, der Staatswissenschaft bleibt, eine Etappe in der Geschichte dieser Denkgebiete darstellt und gar nicht aus dem Denkgebiete herauskommt. Und seitdem die bürgerliche Illusion von der Ewigkeit und Letztinstanzlichkeit der kapitalistischen Produktion dazugekommen ist, gilt ja sogar die Überwindung der Merkantilisten durch die Physiokraten und Adam Smith als ein bloßer Sieg des Gedankens, nicht als der Gedankenreflex veränderter ökonomischer Tatsachen, sondern als die endlich errungene richtige Einsicht in stets und überall bestehende tatsächliche Bedingungen.« cit Gustav Mayer: Friedrich Engels Zweiter Band Friedrich Engels und der Aufstieg der Arbeiterbewegung in Europa Berlin p 450/51 [N 6 a, 1]

»Was Schlosser gegen jene Vorwürfe« [grämlicher Sittenstrenge] »sagen könnte und sagen würde, wäre dies: daß man in dem Leben im Großen, in der Geschichte, anders als in Roman und Novelle, eine oberflächliche Freude am Leben bei aller Heiterkeit der Sinne und des Geistes nicht lerne; daß man aus ihrer Betrachtung zwar nicht menschenfeindliche Verachtung, wohl aber eine strenge Ansicht von der Welt und ernste Grundsätze über das Leben einsauge; daß wenigstens auf die größten aller Beurteiler von Welt und Menschen, die an einem eigenen inneren Leben das äußere zu messen verstanden, auf einen Shakespeare, Dante, Machiavelli das Weltwesen stets einen solchen zu Ernst und Strenge bildenden Eindruck gemacht habe.« G. G. Gervinus: Friedrich Christoph Schlosser Lpz 1861 [Deutsche Denkreden besorgt von Rudolf Borchardt [München 1925] p 312][N 6 a, 2]

Dem Verhältnis von Überlieferung und Vervielfältigungstechnik ist nachzugehen. »Ueberlieferungen … verhalten sich zu aufgezeichneten Mittheilungen überhaupt, wie unter diesen die Vervielfältigungen derselben durch die Feder zu den durch die Presse, wie aufeinander folgende Abschriften zu gleichzeitigen Abdrücken eines Buchs.« [Carl Gustav Jochmann:] Ueber die Sprache Heidelberg 1828 p 259/60 (Die Rückschritte der Poesie) [N 6 a, 3]

Roger Caillois: Paris, mythe moderne (Nouvelle Revue Française XXV, 284 1 mai 1937 p 699) gibt eine Zusammenstellung derjenigen Untersuchungen, die angestellt werden müßten, um den Gegenstand weiter aufzuhellen. 1) Beschreibungen von Paris, die dem 19ten Jahrhundert vorangingen (Marivaux, Rétif de la Bretonne) 2) Der Streit zwischen Girondisten und Jacobinern über das Verhältnis von Paris zur Provinz; die Legende der pariser Revolutionstage 3) Geheimpolizei im Empire und unter der Restauration 4) Peinture morale von Paris bei Hugo, Balzac, Baudelaire 5) Objektive Beschreibungen der Stadt: Dulaure, Du Camp 6) Vigny, Hugo (Paris incendié in der Année terrible)⁠〈,〉 Rimbaud. [N 7, 1]

Es ist die Beziehung zwischen der Geistesgegenwart und der »Methode« des dialektischen Materialismus zu etablieren. Nicht nur, daß man in der Geistesgegenwart als einer der höchsten Formen sachgemäßen Verhaltens immer einen dialektischen Prozeß wird nachweisen können. Entscheidend ist weiterhin, daß der Dialektiker die Geschichte nicht anders denn als eine Gefahrenkonstellation betrachten kann, die er, denkend ihrer Entwicklung folgend, abzuwenden jederzeit auf dem Sprunge ist. [N 7, 2]

»La Révolution est un drame peut-être plus qu’une histoire, et le pathétique en est une condition aussi impérieuse que l’authenticité.« Blanqui (cit Geffroy: L’enfermé Paris 1926 I p 232) [N 7, 3]

Notwendigkeit, während vieler Jahre scharf auf jedes zufällige Zitat, jede flüchtige Erwähnung eines Buchs hinzuhören. [N 7, 4]

Die Theorie der Geschichte zu kontrastieren mit der Grillparzerschen Bemerkung, die Edmond Jaloux in »Journaux intimes« (Le Temps 23 mai 1937) übersetzt: »Lire dans l’avenir est difficile, mais voir purement dans le passé est plus difficile encore: je dis purement, c’est-à-dire sans mêler à ce regard rétrospectif tout ce qui a eu lieu dans l’intervalle.« Die »Reinheit« des Blicks ist nicht sowohl schwer als unmöglich zu erreichen. [N 7, 5]

Für den materialistischen Historiker ist es wichtig, die Konstruktion eines historischen Sachverhalts aufs strengste von dem zu unterscheiden, was man gewöhnlich seine »Rekonstruktion« nennt. Die »Rekonstruktion« in der Einfühlung ist einschichtig. Die »Konstruktion« setzt die »Destruktion« voraus. [N 7, 6]

Damit ein Stück Vergangenheit von der Aktualität betroffen werde, darf keine Kontinuität zwischen ihnen bestehen. [N 7, 7]

Die Vor- und Nachgeschichte eines historischen Tatbestandes erscheinen kraft seiner dialektischen Darstellung an ihm selbst. Mehr: jeder dialektisch dargestellte historische Sachverhalt polarisiert sich und wird zu einem Kraftfeld, in dem die Auseinandersetzung zwischen seiner Vorgeschichte und Nachgeschichte sich abspielt. Er wird es, indem die Aktualität in ihn hineinwirkt. Und so polarisiert der historische Tatbestand sich nach Vor- und Nachgeschichte immer von neuem, nie auf die gleiche Weise. Und er tut es außerhalb seiner, in der Aktualität selbst; wie eine Strecke, die nach dem apoll⁠〈i〉⁠nischen Schnitt geteilt wird, ihre Teilung außerhalb ihrer selbst erfährt. [N 7 a, 1]

Der historische Materialismus erstrebt weder eine homogene noch eine kontinuierliche Darstellung der Geschichte. Indem der Überbau auf den Unterbau zurückwirkt, ergibt sich, daß eine homogene Geschichte, etwa der Ökonomie, ebensowenig existiert wie eine der Literatur oder der Rechtswissenschaft. Indem auf der ande⁠〈r〉⁠n Seite die verschiedenen Epochen der Vergangenheit von der Gegenwart des Historikers in ganz verschiednem Grade betroffen werden (oft wird die jüngste Vergangenheit überhaupt nicht von ihr betroffen; die Gegenwart wird ihr »nicht gerecht«) ist eine Kontinuität der Geschichtsdarstellung undurchführbar. [N 7 a, 2]

Telescopage der Vergangenheit durch die Gegenwart. [N 7 a, 3]

Die Rezeption großer, vielbewunderter Kunstwerke ist ein ad pluresire. [N 7 a, 4]

Die materialistische Geschichtsdarstellung führt die Vergangenheit dazu, die Gegenwart in eine kritische Lage zu bringen. [N 7 a, 5]

Es ist meine Absicht, dem standzuhalten, was Valéry »une lecture ralentie et hérissée des résistances d’un lecteur difficile et raffiné« nennt. Charles Baudelaire: Les fleurs du mal Introduction de Paul Valéry Paris 1928 p XIII. [N 7 a, 6]

Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts was geschrieben ist, übrig bleiben. [N 7 a, 7]

Es ist die Gegenwart, die das Geschehen in Vor- und Nachgeschichte polarisiert. [N 7 a, 8]

Über die Frage der Unabgeschlossenheit der Geschichte Brief von Horkheimer vom 16 März 1937: »Die Feststellung der Unabgeschlossenheit ist idealistisch, wenn die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist. Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagnen sind wirklich erschlagen … Nimmt man die Unabgeschlossenheit ganz ernst, so muß man an das jüngste Gericht glauben … Vielleicht besteht in Beziehung auf die Unabgeschlossenheit ein Unterschied zwischen dem Positiven und Negativen, so daß nur das Unrecht, der Schrecken, die Schmerzen der Vergangenheit irreparabel sind. Die geübte Gerechtigkeit, die Freuden, die Werke verhalten sich anders zur Zeit, denn ihr positiver Charakter wird durch die Vergänglichkeit weitgehend negiert. Dies gilt zunächst im individuellen Dasein, in welchem nicht das Glück, sondern das Unglück durch den Tod besiegelt wird.« Das Korrektiv dieser Gedankengänge liegt in der Überlegung, daß die Geschichte nicht allein eine Wissenschaft sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist. Was die Wissenschaft »festgestellt« hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen. [N 8, 1]

Die eindeutig rückschrittliche Funktion, die die Lehre von den archaischen Bildern für Jung hat, tritt in der folgenden Stelle des Essays »Über die Beziehungen der analytischen Psychologie zum Dichterischen Kunstwerk« zutage: »Der schöpferische Prozeß … besteht in einer unbewußten Belebung des Archetypus und in einer … Ausgestaltung desselben bis zum vollendeten Werk. Die Gestaltung des urtümlichen Bildes ist gewissermaßen eine Übersetzung in die Sprache der Gegenwart … Darin liegt die soziale Bedeutsamkeit der Kunst: … sie führt jene Gestalten herauf, die dem Zeitgeist am meisten mangelten. Aus der Unbefriedigung der Gegenwart zieht sich die Sehnsucht des Künstlers zurück, bis sie jenes Urbild im Unbewußten erreicht hat, welches geeignet ist, die … Einseitigkeit des Zeitgeistes … zu kompensieren. Dieses Bild ergreift sie, und indem sie es … dem Bewußtsein annähert, verändert es auch seine Gestalt, bis es vom Menschen der Gegenwart nach seinem Fassungsvermögen aufgenommen werden kann.« CG Jung: Seelenprobleme der Gegenwart Zürich Leipzig und Stuttgart 1932 p 71 So läuft die esoterische Kunsttheorie darauf hinaus, Archetypen dem »Zeitgeist« »zugänglich« zu machen. [N 8, 2]

In der Produktion von Jung gelangt zu später und besonders nachdrücklicher Auswirkung eines der Elemente, die, wie man heute erkennen kann, eruptiv vom Expressionismus zuerst an den Tag sind gefördert worden. Es ist das eines spezifisch ärztlichen Nihilismus, wie er auch in den Werken von Benn begegnet und einen Nachzügler in Céline erhalten hat. Dieser Nihilismus ist aus dem Chock hervorgegangen, den das Innere des Leibes den mit ihm Umgehenden erteilt hat. Jung selbst führt das gesteigerte Interesse am Seelischen auf den Expressionismus zurück und schreibt: »Die expressionistische Kunst hat diese Wendung prophetisch vorausgenommen, wie die Kunst ja immer kommende Wendungen des allgemeinen Bewußtseins intuitiv voraus erfaßt.« (Seelenprobleme der Gegenwart Zürich Lpz u Stuttgart 1932 p 415 – Das Seelenproblem des modernen Menschen) Hierbei sind die Beziehungen nicht aus dem Auge zu verlieren, die Lukács zwischen Expressionismus und Faschismus etabliert hat. (vgl K 7 a, 4) [N 8 a, 1]

»La tradition, fable errante qu’on recueille,
Entrecoupée ainsi que le vent dans la feuille.«

Victor Hugo: La fin de Satan Paris 1886 p 235 [N 8 a, 2]

Julien Benda zitiert in »Un régulier dans le siècle« Fustel de Coulanges Wort: »Si vous voulez revivre une époque, oubliez que vous savez ce qui s’est passé après elle.« Das ist die heimliche magna charta der Geschichtsdarstellung der historischen Schule und es hat wenig Beweiskraft, wenn Benda dem hinzufügt: »Fustel n’a jamais dit que ces moeurs fussent bonnes pour comprendre le rôle d’une époque dans l’histoire.« [N 8 a, 3]

Der Frage nachgehen, ob ein Zusammenhang zwischen der Säkularisation der Zeit im Raume und der allegorischen Anschauung besteht. Die erstere ist jedenfalls, wie an der letzten Schrift von Blanqui klar wird, im »naturwissenschaftlichen Weltbild« der zweiten Jahrhunderthälfte versteckt. (Säkularisierung der Geschichte bei Heidegger.) [N 8 a, 4]

Goethe hat die Krisis der bürgerlichen Bildung kommen sehen. Er tritt ihr im »Wilhelm Meister« entgegen. Er kennzeichnet sie im Briefwechsel mit Zelter. [N 8 a, 5]

Wilhelm von Humboldt verlegt den Schwerpunkt auf die Sprachen, Marx und Engels verlegen ihn auf die Naturwissenschaften. Auch das Studium der Sprachen hat ökonomische Funktionen. Es kommt dem weltbürgerlichen Commercium entgegen, das der Naturwissenschaften dagegen dem Produktionsprozeß. [N 9, 1]

Wissenschaftliche Methode zeichnet sich dadurch aus, daß sie zu neuen Gegenständen führend, neue Methoden entwickelt. Genau wie Form in der Kunst sich dadurch auszeichnet, daß sie, zu neuen Inhalten führend, neue Formen entwickelt. Eine, nämlich nur eine Form hat ein Kunstwerk, eine, nämlich nur eine Methode hat eine Abhandlung nur von außen. [N 9, 2]

Zum Begriff der »Rettung«: der Wind des Absoluten in den Segeln des Begriffs. (Das Prinzip des Windes ist das Zyklische.) Die Segelstellung ist das Relative. [N 9, 3]

Wovor werden die Phänomene gerettet? Nicht nur, und nicht sowohl vor dem Verruf und der Mißachtung in die sie geraten sind als vor der Katastrophe wie eine bestimmte Art ihrer Überlieferung, ihre »Würdigung als Erbe« sie sehr oft darstellt. – Sie werden durch die Aufweisung des Sprungs in ihnen gerettet. – Es gibt eine Überlieferung, die Katastrophe ist. [N 9, 4]

Es ist das Eigenste der dialektischen Erfahrung, den Schein des Immer-Gleichen, ja auch nur der Wiederholung in der Geschichte zu zerstreuen. Die echte politische Erfahrung ist von diesem Schein absolut frei. [N 9, 5]

Für den Dialektiker kommt es darauf an, den Wind der Weltgeschichte in den Segeln zu haben. Denken heißt bei ihm: Segel setzen. Wie sie gesetzt werden das ist wichtig. Worte sind seine Segel. Wie sie gesetzt werden, das macht sie zum Begriff. [N 9, 6]

Das dialektische Bild ist ein aufblitzendes. So, als ein im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzendes Bild, ist das Gewesene festzuhalten. Die Rettung, die dergestalt – und nur dergestalt – vollzogen wird, läßt immer nur an dem, im nächsten Augenblick schon unrettbar verlornen 〈sich〉 vollziehen. Hierzu die metaphorische Stelle aus der Jochmann-Einleitung vom Seherblick, der sich an den Gipfeln der Vergangenheit entzündet. [N 9, 7]

Dialektiker sein heißt den Wind der Geschichte in den Segeln haben. Die Segel sind die Begriffe. Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen. Die Kunst, sie setzen zu können, ist das Entscheidende. [N 9, 8]

Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es »so weiter« geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene. So Strindberg – in »Nach Damaskus«? die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde – sondern dieses Leben hier. [N 9 a, 1]

Es ist gut, materialistischen Untersuchungen einen abgestumpften Schluß zu geben. [N 9 a, 2]

Zur Rettung gehört der feste, scheinbar brutale Zugriff. [N 9 a, 3]

Das dialektische Bild ist diejenige Form des historischen Gegenstand⁠〈s〉, die Goethes Anforderungen an den Gegenstand einer Analyse genügt: eine echte Synthesis aufzuweisen. Es ist das Urphänomen der Geschichte. [N 9 a, 4]

Die Würdigung oder Apologie ist bestrebt, die revolutionären Momente des Geschichtsverlaufes zu überdecken. Ihr liegt die Herstellung einer Kontinuität am Herzen. Sie legt nur auf diejenigen Elemente des Werkes wert, die schon in seine Nachwirkung eingegangen sind. Ihr entgehen die Stellen, an denen die Überlieferung abbricht und damit ihre Schroffen und Zacken, die dem einen Halt bieten, der über sie hinausgelangen will. [N 9 a, 5]

Der historische Materialismus muß das epische Element der Geschichte preisgeben. Er sprengt die Epoche aus der dinghaften »Kontinuität der Geschichte« ab. Er sprengt aber auch die Homogeneität der Epoche auf. Er durchsetzt sie mit Ekrasit, d. i. Gegenwart. [N 9 a, 6]

In jedem wahren Kunstwerk gibt es die Stelle, an der es den, der sich dareinversetzt, kühl wie der Wind einer kommenden Frühe anweht. Daraus ergibt sich, daß die Kunst, die man oft als refraktär gegen jede Beziehung zum Fortschritt ansah, dessen echter Bestimmung dienen kann. Fortschritt ist nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs sondern in seinen Interferenzen zu Hause: dort wo ein wahrhaft Neues zum ersten Mal mit der Nüchternheit der Frühe sich fühlbar macht. [N 9 a, 7]

Für den materialistischen Historiker ist jede Epoche, mit der 〈er〉 sich beschäftigt, nur Vorgeschichte derer, um die es ihm selber geht. Und eben darum gibt es für ihn in der Geschichte den Schein der Wiederholung nicht, weil eben die ihm am meisten angelegenen Momente des Geschichtsverlaufs durch ihren Index als »Vorgeschichte« Momente dieser Gegenwart selber werden und je nach deren katastrophaler oder siegreicher Bestimmung ihren eignen Charakter ändern. [N 9 a, 8]

Der wissenschaftliche Fortschritt ist – wie der geschichtliche – immer nur der jeweilig erste Schritt, niemals der zweite dritte oder der n + 1 – gesetzt nämlich, diese letztern gehörten nicht nur zum Betriebe der Wissenschaft sondern zu ihrem corpus. Das ist in Wahrheit aber der Fall nicht, weil jede Etappe im Prozesse der Dialektik (– gleich jeder in dem der Geschichte selbst –) wie auch immer bedingt von jeder vorhergegangenen, eine gründlich neue Wendung zur Geltung bringt, die eine gründlich neue Behandlung fordert. Die dialektische Methode zeichnet sich also dadurch aus, daß sie, zu neuen Gegenständen führend neue Methoden entwickelt. Genau wie Form in der Kunst sich dadurch auszeichnet, daß sie, zu neuen Inhalten führend, neue Formen entwickelt. Eine, nämlich nur eine Form hat ein Kunstwerk, eine, nämlich nur eine Methode hat eine dialektische Abhandlung nur von außen. [N 10, 1]

Definitionen historischer Grundbegriffe: Die Katastrophe – die Gelegenheit verpaßt haben; der kritische Augenblick – der status quo droht erhalten zu bleiben; der Fortschritt – die erste revolutionäre Maßnahme. [N 10, 2]

Daß der Gegenstand der Geschichte aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufes herausgesprengt werde, das wird von seiner monadologischen Struktur gefordert. Diese tritt erst am herausgesprengten Gegenstand zu Tage. Und zwar tut sie das in Gestalt der geschichtlichen Auseinandersetzung, die das Innere (und gleichsam die Eingeweide) des historischen Gegenstandes ausmacht und in die sämtliche historischen Kräfte und Interessen in verjüngtem Maßstabe eintreten. Kraft dieser monadologischen Struktur des historischen Gegenstandes findet er in seinem Innern die eigene Vorgeschichte und Nachgeschichte repräsentiert. (So liegt beispielsweise die Vorgeschichte von Baudelaire, wie sie sich der gegenwärtigen Forschung darstellt, in der Allegorie, seine Nachgeschichte im Jugendstil.) [N 10, 3]

Der Auseinandersetzung mit der konventionellen Geschichtsschreibung und »Würdigung« ist die Polemik gegen die Einfühlung (Grillparzer, Fustel de Coulanges) zu Grunde zu legen. [N 10, 4]

Der Saintsimonist Barrault unterscheidet zwischen époques organiques und époques critiques. Die Diffamierung des kritischen Geistes setzt gleich nach dem Siege des Bürgertums, in der Julirevolution, ein. [N 10, 5]

Das destruktive oder kritische Moment in der materialistischen Geschichtsschreibung kommt in der Aufsprengung der historischen Kontinuität zur Geltung, mit der der historische Gegenstand sich allererst konstituiert. In der Tat kann im kontinuierlichen Verlauf der Geschichte ein Gegenstand der Geschichte überhaupt nicht visiert werden. Die Geschichtsschreibung hat denn auch von jeher aus diesem kontinuierlichen Verlauf einen Gegenstand einfach herausgegriffen. Aber das geschah ohne Grundsatz, als Notbehelf; und ihr erstes war denn auch immer, den Gegenstand ins Kontinuum wieder einzubetten, das sie sich in der Einfühlung neu erschuf. Die materialistische Geschichtsschreibung wählt ihre Gegenstände nicht leichter Hand. Sie greift nicht, sondern sprengt sie aus dem Verlauf heraus. Ihre Vorkehrungen sind weitläufiger, ihre Ereignisse wesentlicher. [N 10 a, 1]

[Denn] das destruktive Moment in der materialistischen Geschichtsschreibung ist als Reaktion auf eine Gefahrenkonstellation zu begreifen, die sowohl dem Überlieferten wie dem Empfänger der Überlieferung droht. Dieser Gefahrenkonstellation tritt die materialistische Geschichtsdarstellung entgegen; in ihr besteht ihre Aktualität, an ihr hat sie ihre Geistesgegenwart zu bewähren. Eine solche Geschichtsdarstellung hat, um mit Engels zu reden, zum Ziel, »aus dem Denkgebiete heraus« zu kommen. [N 10 a, 2]

Zum Denken gehört ebenso die Bewegung wie das Stillstellen der Gedanken. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur in der Denkbewegung. Ihre Stelle ist natürlich keine beliebige. Sie ist, mit einem Wort, da zu suchen, wo die Spannung zwischen den dialektischen Gegensätzen am größten ist. De⁠〈m〉⁠nach ist der in der materialistischen Geschichtsdarstellung konstruierte Gegenstand selber das dialektische Bild. Es ist identisch mit dem historischen Gegenstand; es rechtfertigt seine Absprengung aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufs. [N 10 a, 3]

Die archaische Form der Urgeschichte, die in jedem Zeitalter und gerade jetzt wieder von Jung aufgerufen wird, ist diejenige, die den Schein in der Geschichte um so blendender macht, als sie ihm die Natur als seine Heimat anweist. [N 11, 1]

Geschichte schreiben heißt, Jahreszahlen ihre Physiognomie geben. [N 11, 2]

Das Geschehen, das den Historiker umgibt und an dem er teil nimmt, wird als ein mit sympathetischer Tinte geschriebener Text seiner Darstellung zu Grunde liegen. Die Geschichte, die er dem Leser vorlegt, bildet gleichsam die Zitate in diesem Text und nur diese Zitate sind es, die auf eine jedermann lesbare Weise vorliegen. Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Im Begriff des Zitierens liegt aber, daß der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhange gerissen wird. [N 11, 3]

Zur Elementarlehre des historischen Materialismus. 1) Gegenstand der Geschichte ist dasjenige, an dem die Erkenntnis als dessen Rettung vollzogen wird. 2) Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten. 3) Wo ein dialektischer Prozeß sich vollzieht, da haben wir es mit einer Monade zu tun. 4) Die materialistische Geschichtsdarstellung führt eine immanente Kritik am Begriff des Fortschritts mit sich. 5) Der historische Materialismus stützt sein Verfahren auf die Erfahrung, den gesunden Menschenverstand, die Geistesgegenwart und die Dialektik. (Zur Monade N 10 a, 3) [N 11, 4]

Die Gegenwart bestimmt an dem Gegenstand der Vergangenheit, wo seine Vor- und seine Nachgeschichte in ihm auseinandertreten, um seinen Kern einzufassen. [N 11, 5]

Durch das Exempel beweisen, daß die große Philologie an den Schriften des vorigen Jahrhunderts nur vom Marxismus geübt werden kann. [N 11, 6]

»Les régions qui ont été les premières éclairées, ne sont pas celles où elles [les sciences] ont fait le plus de progrès.« Turgot: Œuvres II Paris 1844 p 601/02 (Second discours sur les progrès successifs de l’esprit humain) (1750) Der Gedanke spielt in der spätem Literatur, auch bei Marx, eine Rolle. [N 11, 7]

Der Begriff des Fortschritts dürfte im 19ten Jahrhundert, als das Bürgertum seine Machtpositionen erobert hatte, die kritischen Funktionen, die ihm ursprünglich eigneten, mehr und mehr eingebüßt haben. (Die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl hat in diesem Prozeß eine entscheidende Bedeutung gehabt; an ihr ist die Meinung groß geworden, der Fortschritt vollziehe sich automatisch. Er hat ferner die Ausweitung des Fortschrittsbegriff⁠〈s〉 auf den Gesamtbereich menschlicher Aktivität begünstigt.) Bei Turgot hatte der Fortschrittsbegriff noch kritische Funktionen. Er ermöglichte es vor allem, die Aufmerksamkeit der Menschen auf rückläufige Bewegungen in der Geschichte zu lenken. Turgot sah den Fortschritt bezeichnenderweise garantiert vor allem im Bereich mathematischer Forschungen. [N 11 a, 1]

»Quel spectacle présente la succession des opinions des hommes! J’y cherche les progrès de l’esprit humain, et je n’y vois presque autre chose que l’histoire de ses erreurs. Pourquoi sa marche, si sûre dès les premiers pas dans l’étude des mathématiques, est-elle dans tout le reste si chancelante, si sujette à s’égarer? … Dans cette progression lente d’opinions et d’erreurs … je crois voir ces premières feuilles, ces enveloppes que la nature a données à la tige naissante des plantes, sortir avant elles de la terre, se flétrir successivement à la naissance d’autres enveloppes, jusqu’à ce qu’enfin cette tige paraisse et se couronne de fleurs et de fruits, image de la tardive vérité.« Turgot: Œuvres II Paris 1844 (Second discours sur les progrès successifs de l’esprit humain) p 600/601 [N 11 a, 2]

Ein limes des Fortschritts existiert noch bei Turgot: »Dans les derniers temps … il fallait revenir par la perfection au point où les premiers hommes avaient été conduits par un instinct aveugle; et qui ne sait que c’est là le suprême effort de la raison?« Turgot lc p 610 Bei Marx ist dieser limes noch vorhanden; später geht er verloren. [N 11 a, 3]

Schon bei Turgot wird ersichtlich, daß der Begriff des Fortschritts sich an der Wissenschaft ausrichtet, an der Kunst aber sein Korrektiv hat (im Grunde kann die Kunst auch nicht unter dem Begriff des Rückschritts uneingeschränkt betrachtet werden; Jochmanns Aufsatz führt diese Ansicht denn auch nicht uneingeschränkt durch). Freilich eximiert Turgot die Kunst anders als man das heute tun würde: »La connaissance de la nature et de la vérité est infinie comme elles. Les arts, dont l’objet est de nous plaire, sont bornés comme nous. Le temps fait sans cesse éclore de nouvelles découvertes dans les sciences; mais la poésie, la peinture, la musique, ont un point fixe, que le génie des langues, l’imitation de la nature, la sensibilité limitée de nos organes déterminent … Les grands hommes du siècle d’Auguste y arrivèrent et sont encore nos modèles.« Turgot: Œuvres II Paris 1844 (Second discours sur les progrès successifs de l’esprit humain) p 605/06 Also ein programmatischer Verzicht auf die Originalität in der Kunst! [N 12, 1]

»Il est des parties dans les arts de goût qui ont pu se perfectionner avec le temps, témoin la perspective, qui dépend de l’optique. Mais la couleur locale, l’imitation de la nature, l’expression même des passions, sont de tous les temps.« Turgot: Œuvres II Paris 1844 (Plan du second discours sur l’histoire universelle) p 658 [N 12, 2]

Militante Vorstellung vom Fortschritt: »Ce n’est pas l’erreur qui s’oppose aux progrès de la vérité. Ce sont la mollesse, l’entêtement, l’esprit de routine, tout ce qui porte à l’inaction. – Les progrès même des arts les plus pacifiques chez les anciens peuples de la Grèce, et dans leurs républiques, étaient entremêlés de guerres continuelles. On y était comme les Juifs bâtissant les murs de Jérusalem d’une main, combattant de l’autre. Les esprits étaient toujours en activité, les courages toujours excités, les lumières y croissaient chaque jour.« Turgot: Œuvres II Paris 1844 (Pensées et fragments) p 672 [N 12, 3]

Die Geistesgegenwart als politische Kategorie kommt auf großartige Weise in diesen Worten Turgots zu ihrem Recht: »Avant que nous ayons appris que les choses sont dans une situation déterminée, elles ont déjà changé plusieurs fois. Ainsi nous apercevons toujours les événements trop tard, et la politique a toujours besoin de prévoir, pour ainsi dire, le présent.« Turgot: Œuvres II Paris 1844 p 673 (Pensées et fragments) [N 12 a, 1]

»Die … gründlich veränderte Landschaft des 19. Jahrhunderts ist, in Spuren mindestens, bis heute sichtbar geblieben. Sie ist geformt durch die Eisenbahn … Überall da, wo sich Gebirge und Tunnel, Schlucht und Viadukt, Gießbach und Drahtseilbahn, Strom und eiserne Brücke … verschwistert zeigen, da sind die Konzentrationspunkte dieser geschichtlichen Landschaft … In aller Sonderbarkeit bezeugen sie, daß die Natur unter dem Triumph der technischen Zivilisation nicht ins Namenlose und Bildlose entsank, daß nicht die reine Konstruktion der Brücke oder des Tunnels an sich … Merkmal der Landschaft blieb, sondern daß ihr sofort der Strom oder der Berg zur Seite trat und nicht wie ein Unterlegener seinem Besieger, sondern eher wie eine befreundete Macht … Der eiserne Zug, der die ummauerten Pforten der Berge passiert, … scheint … in seine eigene Heimat zurückzukehren, worin der Stoff ruht, aus dem er selber gemacht wurde.« Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert Hamburg 1938 p 34/35 [N 12 a, 2]

Der Fortschrittsbegriff mußte von dem Augenblick an der kritischen Theorie der Geschichte zuwiderlaufen, da er nicht mehr als Maßstab an bestimmte historische Veränderungen herangebracht wurde, sondern die Spannung zwischen einem legendären Anfang und einem legendären Ende der Geschichte ermessen sollte. Mit andern Worten: sobald der Fortschritt zur Signatur des Geschichtsverlaufes im ganzen wird, tritt der Begriff von ihm im Zusammenhange einer unkritischen Hypostasierung statt in dem einer kritischen Fragestellung auf. Dieser letztere Zusammenhang ist in der konkreten Geschichtsbetrachtung daran kenntlich, daß er den Rückschritt zumindest ebenso scharf umrissen als irgendeinen Fortschritt ins Blickfeld rückt. (So Turgot, Jochmann) [N 13, 1]

Lotze als Kritiker des Fortschrittsbegriffs: »Der gern geglaubten Behauptung eines geraden Fortschritts der Menschheit gegenüber hat doch … eine vorsichtigere Ueberlegung sich längst zu der Entdeckung genöthigt gesehen, die Geschichte winde sich in Spirallinien fort; Epicycloiden zogen andere vor; kurz, es fehlte nie an tiefsinnigen Umhüllungen des Geständnisses, daß der Gesammteindruck der Geschichte kein ungemischt erhebender, sondern überwiegend ein wehmüthiger ist. Immer wird eine vorurtheilslose Betrachtung zuerst klagend darüber erstaunen, wie viele Güter der Bildung und eigenthümlicher Lebensschönheit … zu Grunde gegangen sind, um so nie wiederzukehren.« Hermann Lotze: Mikrokosmos III Lpz 1864 p 21 [N 13, 2]

Lotze als Kritiker des Fortschrittsbegriffs: »Es ist kein … klarer Gedanke, sich die Erziehung auf die Reihenfolge der menschlichen Geschlechter vertheilt zu denken und spätere die Früchte genießen zu lassen, die aus der unbelohnten Anstrengung, oft aus dem Elend der frühem hervorwachsen. Von edlen Gefühlen eingegeben ist es dennoch eine unbesonnene Begeisterung, die Ansprüche der einzelnen Zeiten und der einzelnen Menschen gering zu achten, und über all ihr Mißgeschick hinwegzusehn, wenn nur die Menschheit im Allgemeinen fortschreite … Es kann keinen Fortschritt … geben, der nicht ein Zuwachs an Glück und Vollkommenheit in denselben Gemüthern wäre, welche vorher unter einem unvollkommenen Zustande litten.« Hermann Lotze: Mikrokosmos III Lpz 1864 p 23 Wenn die Vorstellung vom Fortschritt durch die Totalität des Geschichtsverlaufs hin dem saturierten Bürgertum eigen ist, so melden sich bei Lotze die Reserven des in die Defensive gedrängten an. Vgl dagegen Hölderlin: »Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte.« [N 13, 3]

Ein Wort, das zu denken gibt: »Zu den bemerkenswerthesten Eigenthümlichkeiten des menschlichen Gemüths gehört … neben so vieler Selbstsucht im Einzelnen die allgemeine Neidlosigkeit jeder Gegenwart gegen ihre Zukunft.« Diese Neidlosigkeit deutet darauf hin, daß die Vorstellung von Glück, die wir haben, aufs tiefste von der Zeit tingiert ist, die die unsres Lebens ist. Das Glück ist uns nur vorstellbar in der Luft, die wir geatmet, unter den Menschen, die mit uns gelebt haben. Es schwingt, mit andern Worten, in der Vorstellung vom Glück – das ist es, was jener merkwürdige Tatbestand uns lehrt – die Vorstellung der Erlösung mit. Dieses Glück ist fundiert auf eben der Trostlosigkeit und auf eben der Verlassenheit, die die unsern waren. Unser Leben ist, anders gesagt, ein Muskel, der Kraft genug hat, die ganze historische Zeit zu kontrahieren. Oder, noch anders, die echte Konzeption der historischen Zeit beruht ganz und gar auf dem Bild der Erlösung. (Das Wort steht bei Lotze: Mikrokosmos III Lpz 1864 p 49) [N 13 a, 1]

Verwerfung des Fortschrittsgedankens in der religiösen Geschichtsbetrachtung: »Die Geschichte könnte durch alle ihre Bewegungen ein Ziel nicht erreichen, das nicht in ihrer eignen Ebene liegt, und wir würden uns der Mühe überheben, in ihrer Länge einen Fortschritt aufzusuchen, den sie nicht in dieser, sondern in jedem einzelnen ihrer Punkte nach der Höhe zu zu machen bestimmt ist.« Hermann Lotze: Mikrokosmos III Lpz 1864 p 49 [N 13 a, 2]

Verbindung des Gedankens des Fortschritts mit dem der Erlösung bei Lotze: »Weil der Sinn der Welt sich in Widersinn verkehren würde, weisen wir den Gedanken zurück, daß ins Endlose die Arbeit vergehender Geschlechter nur denen zu Gut komme, die ihnen folgen, für sie selbst aber unwiederbringlich verloren gehe.« (p 50) Das darf nicht sein »wenn nicht die Welt selbst mit dem ganzen Aufgebot ihrer geschichtlichen Entwicklung als ein unverständlicher und vergeblicher Lärm erscheinen soll … Daß, in welcher geheimnißvollen Weise es auch sein mag, der Fortschritt der Geschichte doch auch für sie geschieht: dieser Glaube erst gestattet uns, von einer Menschheit so zu sprechen, wie wir es thun.« 〈p 51〉 Lotze nennt das »den Gedanken einer … Aufbewahrung und Wiederbringung« 〈p 52〉. [N 13 a, 3]

Die Kulturhistorie ist, nach Bernheim, aus dem comteschen Positivismus hervorgegangen; Belochs Griechische Geschichte (〈Band I〉 Zweite Auflage 1912) nach ihm ein Schulbeispiel comteschen Einflusses. Die positivistische Geschichtsschreibung »vernachlässigte … den Staat und die politischen Vorgänge, dagegen sah sie in der intellektuellen Gesamtentwicklung der Gesellschaft den einzigen Inhalt der Geschichte … Die Erhebung … der Kulturgeschichte zum einzig würdigen Gegenstand historischer Forschung!« Ernst Bernheim: Mittelalterliche Zeitanschauungen in ihrem Einfluß auf Politik und Geschichtschreibung Tübingen 1918 p 8 [N 14, 1]

»›La catégorie logique du temps ne domine pas le verbe autant qu’on pourrait le croire‹. Si étrange que cela paraisse, l’expression de l’avenir ne semble pas se situer sur le même plan de l’esprit humain que celles du passé et du présent. ›… Le futur n’a souvent pas d’expression propre, ou s’il en a une c’est une expression compliquée et qui n’est pas parallèle à celle du présent et du passé.‹ … ›On n’a aucune raison de croire que l’indoeuropéen préhistorique ait jamais possédé un vrai futur …‹ (Meillet).« Jean-Richard Bloch: Langage d’utilité, langage poétique (Encyclopédie française XVI 16-50,10) [N 14, 2]

Simmel streift mit der Antinomie zwischen dem Begriff der Kultur und den Autonomiebereichen des klassischen Idealismus einen sehr wichtigen Tatbestand. Die Abgehobenheit der drei Autonomien gegeneinander bewahrte den klassischen Idealismus davor, den Begriff der Kultur zu konzipieren, der der Barbarei soviel Vorschub geleistet hat. Simmel sagt über das Kulturideal: »Das Wesentliche … ist …, daß es die Eigenwertigkeit der ästhetischen, wissenschaftlichen, sittlichen, … ja der religiösen Leistung aufhebt, um sie alle als Elemente oder Bausteine in die Entwicklung des menschlichen Wesens über seinen Naturzustand hinaus einzufügen.« Georg Simmel: Philosophie des Geldes Lpz 1900 p 476/77 [N 14, 3]

»Es hat nie eine Periode der Geschichte gegeben, in welcher die ihr eigenthümliche Bildung die ganze Menschheit oder auch nur die Gesammtheit des einen Volkes durchdrungen hätte, das deren vorzüglichster Träger war. Alle Stufen und Schattirungen sittlicher Rohheit, geistiger Stumpfheit und leibliches Elends haben sich stets neben der gebildeten Feinheit des Lebens … und dem freien Genuß der Vortheile bürgerlicher Ordnung vorgefunden.« Hermann Lotze: Mikrokosmos III Lpz 1864 p 23/24 [N 14 a, 1]

Der Anschauung »es sei Fortschrittes genug, wenn … auf der breiten Grundlage einer im Ganzen genommen immer gleichbleibenden Unbildung die Bildung einer geringen Minderzahl stets höher emporstrebe« tritt Lotze mit der Frage entgegen, »wie unter solchen Voraussetzungen von Einer Geschichte der Menschheit die Rede sein könne?« Lotze: Mikrokosmos III p 25 [N 14 a, 2]

»Die Art, wie die Bildung der Vorzeit fast allein überliefert wird«, führt wie Lotze sagt, »auf gradem Wege zu dem zurück, dessen Gegentheil der Zweck der geschichtlichen Arbeit sein sollte; ich meine zu der Bildung eines Instinctes der Cultur, der immer mehr und mehr Elemente der Gesittung ergreift und sie als unlebendig gewordenen Besitz der Selbstthätigkeit entzieht.« (p 28) Entsprechend: »Der Fortschritt der Wissenschaft ist … unmittelbar kein Fortschritt der Menschheit; er würde es sein, wenn mit dem Anwachsen des aufgesammelten Wahrheitsinhaltes auch die Theilnahme der Menschen für ihn … und die Klarheit ihrer Uebersicht über ihn zunähme.« Lotze lc p 29 [N 14 a, 3]

Lotze über die Menschheit: »Man kann nicht von ihr sagen, daß sie das, was sie ist, mit Bewußtsein ihres Werdens werde, und mit der Erinnerung ihrer früheren Zustände.« Lotze lc p 31 [N 14 a, 4]

Lotzes Anschauung von Geschichte dürfte der Stifters verwandt sein. »Daß jenes regellose Wollen der Einzelnen in seinem Vollbringen stets eingeschränkt ist durch allgemeine der Willkür entzogene Bedingungen, die in den Gesetzen des geistigen Lebens überhaupt, in der festen Naturordnung … liegen.« Lotze lc p 34 [N 14 a, 5]

Mit Stifters Vorrede zu den »Bunten Steinen« zu vergleichen⁠〈:〉 »Tenons d’abord pour certain qu’un grand effet est toujours dû à une grande cause, jamais à une petite.« Histoire de Jules César I Paris 1865 (Napoléon III) [N 14 a, 6]

Eine Formel, die Baudelaire für das Zeitbewußtsein des im Haschischrausche befindlichen prägt, läßt sich der Bestimmung eines revolutionären historischen Bewußtseins zuwenden; er spricht von einer Nacht, in der er von den Wirkungen des Haschisch absorbiert wurde: »Si longue qu’elle dût me paraître … il me semblait toutefois qu’elle n’avait duré que quelques secondes, ou même qu’elle n’avait pas pris place dans l’éternité.« 〈Baudelaire, Œuvres, éd. Le Dantec, Paris 1931〉 I p 298/299 [N 15, 1]

Die jeweils Lebenden erblicken sich im Mittag der Geschichte. Sie sind gehalten, der Vergangenheit ein Mahl zu rüsten. Der Historiker ist der Herold, welcher die Abgeschiedenen zu Tische lädt. [N 15, 2]

Zur Diätetik des historischen Schrifttums. Der Zeitgenosse, der da erkennt, von wie langer Hand die über ihn hereinbrechende Misere hat vorbereitet sein wollen – und dieses ihm zu zeigen, muß dem Historiker am Herzen liegen – bekommt eine hohe Ansicht von seinen eignen Kräften. Eine Geschichte, welche ihn so belehrt, macht ihn nicht traurig, sondern bewehrt ihn eher. Sie geht auch nicht aus Traurigkeit hervor, zum Unterschied von der, die Flaubert vorschwebte als er die Konfession niederschrieb: »Peu de gens devineront combien il a fallu être triste pour entreprendre de ressusciter Carthage.« Die reine curiosité geht aus Traurigkeit hervor und vertieft sie. [N 15, 3]

Beispiel einer »kulturhistorischen« Betrachtung im schlechtesten Sinn. Huizinga spricht von der Berücksichtigung 〈des〉 Lebens des niedern Volkes in den Pastorale⁠〈n〉 des späten Mittelalters. »Dahin gehört auch das Interesse für das Zerlumpte, das sich … schon zu regen beginnt. Die Kalenderminiaturen betonen voller Wohlgefallen die durchgescheuerten Knie der Mäher im Korn oder die Malerei die Lumpen der Bettler … Hier beginnt die Linie, die über Rembrandts Radierungen und Murillo’s Bettelknaben zu den Straßentypen von Steinlen hinführt.« J Huizinga: Herbst des Mittelalters München 1928 p 448. Natürlich handelt es sich vielmehr um ein sehr spezifisches Phänomen. [N 15, 4]

»Le passé a laissé de lui-même dans les textes littéraires des images comparables à celles que la lumière imprime sur une plaque sensible. Seul l’avenir possède des révélateurs assez actifs pour fouiller parfaitement de tels clichés. Mainte page de Marivaux ou de Rousseau enferme un sens mystérieux, que les premiers lecteurs ne pouvaient pleinement déchiffrer.« André Monglond: Le préromantisme français I Le héros préromantique Grenoble 1930 p XII [N 15 a, 1]

Eine verräterische Vision des Fortschritts bei Hugo: Paris incendié (L’année terrible):

»Quoi! tout sacrifier! quoi! le grenier du pain!
Quoi! la Bibliothèque, arche où l’aube se lève,
Insondable A B C de l’idéal, où rêve,
Accoudé, le progrès, ce lecteur éternel …« [N 15 a, 2]

Über den Stil, der zu erstreben ist: »C’est par les mots familiers que le style mord et pénètre dans le lecteur. C’est par eux que les grandes pensées ont cours et sont présumées de bon aloi, comme l’or et l’argent marqués d’une empreinte connue. Ils inspirent de la confiance pour celui qui s’en sert à rendre ses pensées plus sensibles; car on reconnaît à un tel emploi de la langue commune un homme qui sait la vie et les choses, et qui s’en tient rapproché. De plus, ces mots font le style franc. Ils annoncent que l’auteur s’est depuis longtemps nourri de la pensée ou du sentiment exprimé, qu’il se les est tellement appropriés et rendus habituels, que les expressions les plus communes lui suffisent pour exprimer des idées devenues vulgaires en lui par une longue conception. Enfin, ce qu’on dit en paraît plus vrai; car rien n’est aussi clair, parmi les mots, que ceux qu’on nomme familiers, et la clarté est tellement un des caractères de la vérité que souvent on la prend pour elle.« Nichts subtiler als der Rat klar zu sein, um wahr wenigstens zu erscheinen. Der Rat, einfach zu schreiben, der⁠〈,〉 meist von Rankune beschwert, erteilt wird, hat, so gegeben, die höchste Autorität. J Joubert: Œuvres Paris 1883 II p 293 du style XCIX [N 15 a, 3]

Eine Stilistik, die der Rede wert wäre, ergäbe sich für den, der die Dialektik der Vorschriften von Joubert entwickeln könnte. So rät Joubert den Gebrauch der mots familiers an, warnt aber vor der langue particulière qui 〈»〉⁠n’exprime que des choses relatives à nos mœurs présentes⁠〈«〉. (du style LXVII 〈lc p 286〉) [N 16, 1]

»Toutes les belles paroles sont susceptibles de plus d’une signification. Quand un beau mot présente un sens plus beau que celui de l’auteur, il faut l’adopter.« J Joubert: Œuvres Paris 1883 II p 276 (du style XVII) [N 16, 2]

Mit Rücksicht auf die politische Ökonomie kennzeichnet Marx vorzüglich »das Element in ihr, das bloße Reproduktion der Erscheinung als Vorstellung von derselben ist« als »ihr Vulgärelement«. cit Korsch: Karl Marx ms 〈Manuskript〉 II p 22 Dieses Vulgärelement ist auch in den andern Wissenschaften zu denunzieren. [N 16, 3]

Begriff der Natur bei Marx: »Wenn bei Hegel … ›die physische Natur gleichfalls in die Weltgeschichte eingreift‹, so begreift Marx die Natur von Anfang an in gesellschaftlichen Kategorien. Die physische Natur greift nicht unmittelbar in die Weltgeschichte ein, sondern mittelbar als ein von seinem Ursprung an nicht nur zwischen Mensch und Natur, sondern zugleich zwischen Mensch und Menschen vorgehender Prozeß der materiellen Produktion. Oder, um auch den Philosophen verständlich zu sein: An die Stelle der reinen, aller menschlichen Tätigkeit vorausgesetzten Natur (ökonomische natura naturans) tritt als gesellschaftliche ›Materie‹ in der streng gesellschaftlichen Wissenschaft von Marx allenthalben die durch menschlich gesellschaftliche Tätigkeit vermittelte und umgeformte – damit zugleich gegenwärtig und künftig veränderliche und umformbare – Natur als materielle Produktion (ökonomische natura naturata).« Korsch lc III, 3 [N 16, 4]

Korsch gibt folgende Umformulierung des hegelschen Dreitakts durch Marx: »Der Hegelsche ›Widerspruch‹ wird ersetzt durch den Kampf der gesellschaftlichen Klassen, die dialektische ›Negation‹ durch das Proletariat, und die dialektische ›Synthese‹ durch die proletarische Revolution.« Korsch lc III p 45 [N 16, 5]

Einschränkung der materialistischen Geschichtsauffassung bei Korsch: »Mit den Veränderungen der materiellen Produktionsweise verändert sich auch das System der Vermittlungen, welches zwischen der materiellen Basis und ihrem politischen und juridischen Überbau und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Bewußtseinsformen besteht. Daher haben auch die allgemeinen Aussagen der materialistischen Gesellschaftstheorie über solche Zusammenhänge wie den von Ökonomie und Politik oder den von Ökonomie und Ideologie und solche allgemeinen Begriffe wie Klassen und Klassenkämpfe … für die verschiedenen Epochen eine verschiedene Bedeutung und gelten in der bestimmten Form, in der sie von Marx für die gegenwärtige bürgerliche Gesellschaft ausgesprochen worden sind, im strengen Sinn auch nur für diese … Nur für die gegenwärtige bürgerliche Gesellschaft, in welcher die Sphären der Ökonomie und Politik formell vollkommen voneinander getrennt und die Arbeiter als Staatsbürger frei und gleichberechtigt sind, hat der wissenschaftliche Nachweis ihrer tatsächlich fortbestehenden Unfreiheit in der ökonomischen Sphäre den Charakter einer theoretischen Entdeckung.« Korsch III p 21/22 [N 16 a, 1]

Korsch macht »die scheinbar paradoxe, aber für die letzte und ausgereifteste Form der Marxschen Wissenschaft … zutreffende Feststellung, daß in der materialistischen Gesellschaftstheorie von Marx jenes Ganze der gesellschaftlichen Beziehungen, welches von den bürgerlichen Soziologen als selbständiges Gebiet … behandelt wird, seinem objektiven … Gehalt nach bereits durch die geschichtliche und gesellschaftliche Wissenschaft der Ökonomie erforscht … wird. Die materialistische Gesellschaftswissenschaft von Marx ist insofern nicht Soziologie〉 sondern Ökonomie.« Korsch lc III p 103 [N 16 a, 2]

Ein Marxzitat über die Veränderlichkeit der Natur (bei Korsch lc III p 9): »Selbst die naturwüchsigen Gattungsverschiedenheiten, wie Rassenunterschiede etc., … können und müssen historisch beseitigt werden.« [N 16 a, 3]

Überbaulehre nach Korsch: »Für die Bestimmung der besonderen Art von Beziehungen und Zusammenhängen, die zwischen der ökonomischen ›Basis‹ und dem juristischen und politischen ›Überbau‹ samt den ›entsprechenden‹ Bewußtseinsformen … bestehen, genügt in dieser allgemeinen Form weder die philosophische Begriffsbestimmung der ›dialektischen‹ Kausalität, noch die durch ›Wechselwirkungen‹ ergänzte naturwissenschaftliche ›Kausalität‹. Die Naturwissenschaft des 20. Jahrhunderts hat gelernt, daß die ›kausalen‹ Beziehungen, mit deren Festsetzung für ein bestimmtes Gebiet der auf diesem Gebiet tätige Forscher sich beschäftigt, überhaupt nicht in der Form eines allgemeinen Kausalitätsbegriffes oder Kausalgesetzes zu definieren, sondern für jedes besondere Gebiet ›spezifisch‹ zu bestimmen sind. … Der Hauptteil der … von Marx und Engels gewonnenen Ergebnisse steckt nicht in den theoretischen Formulierungen des neuen Prinzips, sondern in seiner spezifischen Anwendung auf eine Reihe teils praktisch fundamental wichtiger, teils theoretisch äußerst schwieriger … Fragen. Die genauere wissenschaftliche Bestimmung der hier vorliegenden Zusammenhänge ist noch heute eine Zukunftsaufgabe …, deren Schwerpunkt wiederum nicht in der theoretischen Formulierung, sondern in der fortgesetzten Anwendung und Erprobung der in dem Marxschen Werk implicite enthaltenen Prinzipien liegen muß. Man darf sich dabei vor allem nicht allzu ängstlich an die, oft nur bildlich gemeinten, Redewendungen klammern, mit denen Marx die besondren, hier bestehenden Zusammenhänge als ein Verhältnis von ›Basis‹ und ›Überbau‹, als ›Entsprechungen‹ usw beschrieben hat … In allen diesen Fallen sind die Marxschen Begriffe, wie unter den späteren Marxisten am klarsten Sorel und Lenin begriffen haben, nicht gemeint als neue dogmatische Fesseln: a priori festgesetzte Bedingungen, die von einer als materialistisch auftretenden Forschung in einer bestimmten Reihenfolge absolviert werden müßten, sondern als eine völlig undogmatische Anleitung zum Forschen und zum Handeln.« Korsch: Karl Marx ms III p 93-96 [N 17]

Materialistische Geschichtsauffassung und materialistische Philosophie: »Die marxistischen Epigonen haben die Formeln der materialistischen Geschichts…auffassung, die von Marx und Engels … nur auf die … Erforschung der bürgerlichen Gesellschaft angewendet und auf andere geschichtliche Epochen nur mit einer entsprechenden Erweiterung übertragen worden sind, von dieser besonderen, oder überhaupt von jeder geschichtlichen Anwendung getrennt und aus dem sogenannten ›geschichtlichen Materialismus‹ eine allgemeine … soziologische Theorie gemacht. Von dieser … Verflachung … der materialistischen Gesellschaftstheorie war es dann nur noch ein Schritt bis zu der Vorstellung, die es noch heute oder gerade heute wieder für notwendig hält, die geschichtliche und ökonomische Wissenschaft von Marx nicht nur mit einer allgemeinen Gesellschaftsphilosophie, sondern sogar mit einer totalen, Natur und Gesellschaft umfassenden … allgemeinen materialistischen Weltanschauung zu unterbauen; d. h. mit Marx gesprochen, die … wissenschaftlichen Formen, zu denen sich der wirkliche … Inhalt des philosophischen Materialismus des 18. Jahrhunderts inzwischen entwickelt hat, wieder auf die ›philosophischen Phrasen der Materialisten über die Materie‹ zurückzuführen. Die materialistische Gesellschaftswissenschaft … bedarf … keiner derartigen philosophischen Fundierung. Dieser wichtigste Fortschritt … von Marx ist in der Folge auch von … ›orthodoxen‹ Marx-Interpreten verkannt worden … Sie haben damit ihre eigene philosophische Rückständigkeit in die von der Philosophie bewußt zur Wissenschaft fortgeschrittene Theorie von Marx … hereingetragen. In fast grotesker Form erscheint dieses geschichtliche Schicksal der Marx-Orthodoxie, daß sie bei ihrer Abwehr der revisionistischen Angriffe am Ende in allen Hauptpunkten auf dem Standpunkt des Gegners anlangt, wenn der führende Vertreter dieser Richtung … Plechanow, bei seiner eifrigen Suche nach der dem Marxismus zugrunde liegenden ›Philosophie‹ am Ende darauf verfallen ist, den Marxismus als ›einen (durch Feuerbach von seiner theologischen Zutat befreiten) Spinozismus‹ darzustellen.« Korsch lc III p 29-31 [N 17 a]

Korsch zitiert Bacon, aus dem Novum organum: »›Recte enim veritas temporis filia dicitur non auctoritas.‹ Er hatte auf diese Autorität aller Autoritäten, die Zeit die Überlegenheit der neuen bürgerlichen Erfahrungswissenschaft gegenüber der dogmatischen Wissenschaft des Mittelalters gegründet.« Korsch lc I p 72 [N 18, 1]

»Für den positiven Gebrauch ersetzt Marx das überschwengliche Postulat Hegels, daß die Wahrheit konkret sein muß, durch das rationelle Prinzip der Spezifizierung … Das eigentliche Interesse liegt … bei den spezifischen Zügen, durch die sich jede bestimmte geschichtliche Gesellschaft von den gemeinsamen Merkmalen aller Gesellschaft überhaupt unterscheidet und worin also ihre Entwicklung besteht … So kann … eine strenge Gesellschaftswissenschaft sich ihre allgemeinen Begriffe nicht durch einfache Abstraktion von einigen und Festhalten von anderen, mehr oder weniger willkürlich aus gewählten Merkmalen der gegebenen geschichtlichen Form der bürgerlichen Gesellschaft bilden. Sie kann zu der Erkenntnis des in dieser besonderen Gesellschaftsform enthaltenen Allgemeinen nur durch die genaue Erforschung aller geschichtlichen Bedingungen ihres Hervorgehens aus einem anderen gesellschaftlichen Zustand und aus durch sie unter bestimmten, genau festgelegten Bedingungen herbeigeführte Veränderung ihrer gegenwärtigen Form gelangen … Die einzigen echten Gesetze sind also in der Gesellschaftswissenschaft die Entwicklungsgesetze.« Korsch lc p 49-52 [N 18, 2]

Der echte Begriff der Universalgeschichte ist ein messianischer. Die Universalgeschichte im heutigen Verstande ist eine Sache der Dunkelmänner. [N 18, 3]

Das Jetzt der Erkennbarkeit ist der Augenblick des Erwachens. (Jung will vom Traum das Erwachen fernhalten.) [N 18, 4]

Sainte-Beuve erklärt sich in seiner Charakteristik Leopardis »persuadé … que la critique littéraire n’a toute sa valeur et son originalité que lorsqu’elle s’applique à des sujets dont on possède de près et de longue main le fond, les alentours et toutes les circonstances.« C-A Sainte-Beuve: Portraits contemporains IV Paris 1882 p 365 Demgegenüber ist geltend zu machen, welchen Wert der Ausfall gewisser von den hier geforderten Bedingungen haben kann. Der Mangel an Gefühl für die letzten Nuancen des Textes selbst kann den Betrachter dahin bringen, umso aufmerksamer den feinsten Befunden in den dem Kunstwerk zugrundeliegenden gesellschaftlichen Verhältnissen nachzugehen. Die Unempfindlichkeit gegen feinste Abschattierungen kann ferner umso eher dem mit ihr Behafteten durch deutlichere Fixierung der Umrisse des Gedichts eine gewisse Überlegenheit andern Kritikern gegenüber verschaffen, als das Gefühl für Nuancen sich nicht immer mit der Gabe der Analyse verbindet. [N 18 a, 1]

Kritische Äußerungen über den technischen Fortschritt finden sich sehr früh. L’auteur du traité de l’Art (Hippokrates?): »Je pense que le désir … de l’intelligence, c’est de découvrir quelqu’une des choses qui sont encore ignorées, s’il est meilleur de les avoir découvertes que de ne l’avoir point fait.« Leonardo da Vinci: »Comment et pourquoi je n’écris pas ma manière d’aller sous l’eau, aussi longtemps que je puis rester sans manger: si je ne le publie ni ne le divulgue, c’est à cause de la méchanceté des hommes, qui s’en serviraient pour assassiner au fond des mers, en ouvrant les navires et les submergeant avec leur équipage.« Bacon: »Dans … La Nouvelle Atlantide … il confie à une commission spécialement choisie le soin de décider lesquelles d’entre les inventions nouvelles seront publiées et lesquelles seront gardées secrètes.« Pierre-Maxime Schuhl: Machinisme et philosophie Paris 1938 p 7 et 35 – »Les avions de bombardement nous rappellent ce que Léonard de Vinci attendait de l’homme volant, qui devait s’élever ›pour chercher de la neige à la cime des monts et revenir en épandre sur les pavés de la ville tout vibrants de chaleur, l’été‹.« lc p 95 [N 18 a, 2]

Mag sein, daß die Kontinuität der Tradition Schein ist. Aber dann stiftet eben die Beständigkeit dieses Scheins der Beständigkeit die Kontinuität in ihr. [N 19, 1]

Proust anläßlich eines Zitats (aus einem Brief Balzacs an M de Forgues), das er wahrscheinlich von Montesquiou entlehnt hatte, an diesen letz⁠〈t〉⁠ern. (Die Stelle dürfte einen sinnwidrigen Schreib- oder Druckfehler enthalten.) »Il y a déjà quinze jours que je l’avais« [sc la citation] »supprimée de mes épreuves … Mon livre sera sans doute trop peu lu pour qu’il ait risqué de défraîchir votre citation. Aussi l’ai-je retirée moins pour vous que pour la phrase elle-même. Je pense, en effet, qu’il existe pour toutes les belles phrases un droit imprescriptible qui les rend inaliénables à tout acquéreur, autre que celui qu’elles attendaient par une destination qui est de leur destinée.« Correspondance générale de Marcel Proust I Lettres à Robert de Montesquiou Paris 1930 p 73/74 [N 19, 2]

Das Pathologische in der Vorstellung der »Kultur« tritt höchst nachdrücklich an der Wirkung zu Tage, die das gewaltige Lager des vierstöckigen Antiquitätenmagazins auf Raphael, den Helden der Peau de chagrin, ausübt, der sich in ihm ergeht. »L’inconnu compara d’abord … trois salles gorgées de civilisation, de cultes, de divinités, de chefs-d’œuvre, de royautés, de débauches, de raison et de folie, à un miroir plein de facettes dont chacune représentait un monde … La vue de tant d’existences nationales ou individuelles, attestées par ces gages humains qui leur survivaient, acheva d’engourdir les sens du jeune homme … Cet océan de meubles, d’inventions, de modes, d’œuvres, de ruines, lui composaient un poème sans fin … Il s’accrochait à toutes les joies, saisissait toutes les douleurs, s’emparait de toutes les formules d’existence en éparpillant … généreusement sa vie et ses sentiments sur les simulacres de cette nature plastique et vide … Il étouffait sous les débris de cinquante siècles évanouis, il était malade de toutes ces pensées humaines, assassiné par le luxe et les arts … Semblable en ses caprices à la chimie moderne qui résume la création par un gaz, l’âme ne compose-t-elle pas de terribles poisons par la rapide concentration de ses jouissances … ou de ses idées? Beaucoup d’hommes ne périssent-ils pas sous le foudroiement de quelque acide moral soudainement épandu dans leur être intérieur?« Balzac: La peau de chagrin ed Flammarion Paris p 19; 21/22; 24 [N 19, 3]

Einige Thesen von Focillon, die den Augenschein für sich haben. Die materialistische Theorie der Kunst ist freilich an der Zerstreuung dieses Augenscheins interessiert. »L’état de la vie des formes ne se confond pas de plein droit avec l’état de la vie sociale. Le temps qui porte l’œuvre d’art ne la définit pas dans son principe ni dans la particularité de sa forme.« (p 93) »L’action combinée de la monarchie capétienne, de l’épiscopat et des gens des villes dans le développement des cathédrales gothiques montre quelle influence décisive peut exercer le concours des forces sociales. Mais cette action si puissante est inapte à résoudre un problème de statique, à combiner un rapport de valeurs. Le maçon qui banda deux nervures de pierre croisées à angle droit sous le clocher nord de Bayeux …, l’auteur du choeur de Saint-Denis furent des calculateurs travaillant sur des solides, et non des historiens interprètes du temps. [!!] L’étude la plus attentive du milieu le plus homogène, le faisceau de circonstances le plus étroitement serré ne nous donnent pas le dessin des tours de Laon.« (p 89) An diese Reflexion wäre anzuschließen, um einmal den Unterschied zwischen der Milieutheorie und der Theorie der Produktivkräfte, zum andern Mal den Unterschied zwischen einer »Nachkonstruktion« und einer geschichtlichen Interpretation der Werke aufzuzeigen. (Henri Focillon: Vie des formes Paris 1934) [N 19 a, 1]

Focillon über la technique: »Elle était pour nous comme l’observatoire d’où la vue et l’étude pouvaient embrasser dans la même perspective le plus grand nombre d’objets et leur plus grande diversité. C’est qu’elle est susceptible de plusieurs acceptions, on peut la considérer comme une force vivante, ou bien comme une mécanique, ou encore comme un pur agrément. Elle n’était pour nous ni l’automatisme du ›métier‹ ni … les recettes d’une ›cuisine‹, mais une poésie toute d’action et … le moyen des métamorphoses. Il nous a toujours paru que … l’observation des phénomènes d’ordre technique non seulement nous garantissait une certaine objectivité contrôlable, mais encore qu’elle nous portait au coeur des problèmes, en les posant pour nous dans les mêmes termes et sous le même angle que pour l’artiste Der vom Autor hervorgehobne Passus bezeichnet den wesentlichen Irrtum. Henri Focillon: Vie des formes Paris 1934 p 53/54 [N 19 a, 2]

L’»activité d’un style en voie de se définir … on la présente généralement comme une ›évolution‹, ce terme étant pris dans son acception la plus générale et la plus vague. Alors que cette notion était contrôlée … avec soin par les sciences biologiques, l’archéologie la recueillait … comme un procédé de classement. J’ai montré ailleurs ce qu’elle [l’évolution] avait de dangereux par son caractère faussement harmonique, par son parcours unilinéaire, par l’emploi dans les cas douteux … de l’expédient des ›transitions‹, par l’incapacité de faire place à l’énergie révolutionnaire des inventeurs.« Henri Focillon: Vie des formes Paris 1934 p 11/12 [N 20]