Frühe Entwürfe
Passagen
In der Avenue des Champs-Elysées zwischen neuen Hotels mit angelsächsischen Namen wurden vor kurzem Arkaden eröffnet und die neueste Pariser Passage tat sich auf. Zu ihrer Einweihung blies ein Monstreorchester in Uniform vor Blumenparterres und Springbrunnen. Man staute sich stöhnend über Sandsteinschwellen an Spiegelscheiben entlang, sah künstlichen Regen auf kupferne Eingeweide neuester Autos fallen, zum Beweis der Güte des Materials, sah Räder in Öl sich schwingen, las auf schwarzen Plättchen in Straßchiffren Preise der Lederwaren und Grammophonplatten und gestickten Kimonos. In diffusem Licht von oben glitt man über Fliesen. Während hier dem modischsten Paris ein neuer Durchgang bereitet wurde, ist eine der ältesten Passagen der Stadt verschwunden, die Passage de l’Opéra, die der Durchbruch des Boulevard Haussmann verschlungen hat. Wie dieser merkwürdige Wandelgang es bis vor kurzem tat, bewahren noch heute einige Passagen in grellem Licht und düsteren Winkeln raumgewordene Vergangenheit. Veraltende Gewerbe halten sich in diesen Binnenräumen und die ausliegende Ware ist undeutlich oder vieldeutig. Schon die Inschriften und Schilder an den Eingangstoren (man kann ebensogut Ausgangstoren sagen, denn bei diesen seltsamen Mischgebilden von Haus und Straße ist jedes Tor Eingang und Ausgang zugleich), schon die Inschriften, die sich dann innen, wo zwischen dicht behängten Kleiderständen hier und da eine Wendeltreppe ins Dunkel steigt, an Wänden wiederholen, haben etwas Rätselhaftes. albert au 83 wird ja wohl ein Friseur sein und Maillots de théâtre werden Seidentrikots sein, aber diese eindringlichen Buchstaben wollen noch mehr sagen. Und wer hätte den Mut die ausgetretne Stiege hinauf zu gehn in das Schönheitsinstitut des Professeur Alfred Bitterlin. Mosaikschwellen im Stil der alten Restaurants des Palais Royal führen zu einem Dîner de Paris, sie steigen breit bis zu einer Glastür, aber es ist so unwahrscheinlich, daß dahinter wirklich ein Restaurant sein wird. Und die nächste Glastür, die ein Casino verheißt und etwas wie eine Kasse mit angeschlagenen Preisen von Plätzen sehen läßt, wird die nicht, wenn man sie aufmacht, statt in einen Theaterraum ins Dunkel führen, in einen Keller hinunter oder auf die Straße? Und auf der Kasse lagern mit einmal Strümpfe, schon wieder Strümpfe wie drüben in der Puppenklinik und vorhin auf dem Nebentisch des Branntweinausschanks. – In den belebten Passagen der Boulevards wie in den etwas leeren der alten rue Saint-Denis liegen in dichten Reihen Schirme und Stocke aus: eine Phalanx farbiger Krücken. Häufig sind hygienische Institute, da tragen Gladiatoren Bauchbinden, und um weiße Mannequinbäuche schlingen sich Bandagen. In den Fenstern der Friseure sieht man die letzten Frauen mit langem Haar, sie haben reich ondulierte Massen auf, versteinerte Haartouren. Wie brüchig erscheint daneben, darüber das Mauerwerk der Wände: bröckelndes Papiermaché! ›Andenken‹ und Bibelots wollen grausig werden, lauernd lagert die Odaliske neben dem Tintenfaß, Adorantinnen in Strickhemden heben Aschbecher wie Weihwasserbecken. Eine Buchhandlung benachbart Lehrbücher der Liebe mit bunten Epinaldrucken, läßt neben den Memoiren einer Kammerzofe Napoleon durch Marengo reiten und zwischen Traumbuch und Kochbuch altenglische Bürger den breiten und den schmalen Weg des Evangeliums gehen. In den Passagen erhalten sich Formen von Kragenknöpfen, zu denen wir die entsprechenden Kragen und Hemden nicht mehr kennen. Ist ein Schusterladen Nachbar einer Confiserie, so werden seine Schnürsenkelgehänge lakritzenähnlich. Über Stempel und Letternkästen rollen Bindfäden und Seidenknäuel. Nackte Puppenrümpfe mit kahlen Köpfen warten auf Behaarung und Bekleidung. Froschgrün und korallenrot schwimmen Kämme wie in einem Aquarium, Trompeten werden zu Muscheln, Okarinen zu Schirmkrücken, in den Schalen der photographischen Dunkelkammer liegt Vogelfutter. Drei Plüschstühle mit Häkelschonern hat der Galeriewächter in seiner Loge, aber daneben ist ein ausgeleerter Laden, von dessen Inventar nur ein Schild übrig blieb, das Gebisse in Gold, in Wachs und zerbrochen ankaufen will. Hier in dem stillsten Teil des Seitenganges können Personen beider Geschlechter Personal werden, wo hinter der Scheibe eine Wohnzimmerkulisse eingerichtet ist. Auf die blaßbunte Tapete voll Bilder und Bronzebüsten fällt das Licht einer Gaslampe. Bei der liest eine alte Frau. Die ist wie seit Jahren allein. Nun wird der Gang immer leerer. Ein kleiner roter Blechschirm lockt in einen Treppenaufgang zu einer Fabrik von Schirmzwingen, eine staubige Brautschleife verspricht ein Magazin von Kokarden für Hochzeiten und Bankette. Aber man glaubt’s ihr nicht mehr. Feuerleiter, Regenrinne: ich stehe im Freien. Gegenüber ist wieder etwas wie eine Passage, eine Wölbung und darin eine Sackgasse bis zu einem einfenstrigen Hôtel de Boulogne oder Bourgogne. Aber da muß ich nicht mehr hinein, ich gehe die Straße hinauf zu dem Triumphtor, das grau und glorreich Lodovico Magno erbaut ist. An den Reliefpyramiden seiner steigenden Pfeiler lagern Löwen, hängen Waffenleiber und verdämmernde Trophäen.