Beredsamkeit - Griechische Antike


Der Ursprung dieser Kunst muss in den ersten Zeiten des gesellschaftlichen Lebens gesucht werden. So bald unter einem Volke die Sprache in etwas gebildet ist, so entsteht aus großen gesellschaftlichen Angelegenheiten das Bestreben, in dem die Beredsamkeit ihren Ursprung hat. Ein Patriot sucht die Gedanken des Volks nach seiner Einsicht zu lenken. Man kann also die Erfindung dieser Kunst keiner besonderen Zeit und keinem Volke besonders zuschreiben. Sie ist eine Frucht der Natur, jedem Boden einheimisch; nur nimmt sie etwas von dem Charakter des Himmelsstrichs, unter dem sie hervorkommt, an. Welche Völker aber die Gabe zu reden in eine förmliche Kunst verwandelt haben, können wir nicht sagen. Vielleicht haben die asiatischen Griechen dieses getan. Wenn es wahr ist, was man von den Verordnungen des Thales in Creta und des Lykurgus in Sparta sagt [Sextus l. c.], so scheint die Beredsamkeit schon zu ihren Zeiten eine förmliche Kunst gewesen zu sein, deren Regeln gelehrt worden sind. Dass aber schon vor dieser Zeit die Kunst zu reden geblüht habe, beweißt Homer, der vollkommenste Redner. Die Reden, die er seinen Helden in den Mund legt, sind nach Maßgabe der Personen und der Umstände vollkommen. Ob aber schon zu seiner Zeit Schulen der Beredsamkeit oder besondere Lehrer derselben gewesen seien, lässt sich nicht sagen. Den Philosophen Bias stellt Diogenes Laertius als einen großen gerichtlichen Redner vor; woraus sich wenigstens abnehmen lässt, dass die öffentliche Beredsamkeit nicht erst, wie einige vorgeben, zu den Zeiten des Perikles in Flor gekommen. Sie scheint vielmehr zu den Zeiten dieses Staatsmannes in Athen ihren höchsten Gipfel erreicht zu haben. Man sagt von ihm, dass er das Volk zu allem, was er sich vorgesetzt hatte, habe bereden können. Ein sehr naives Zeugnis davon liegt in einer Antwort, die Thucidides dem spartanischen König Archidamus auf die Frage gegeben; wer von ihnen beiden, Perikles oder Thucidides stärker im Ringen sei; »das ist schwer zu sagen; (war die Antwort.) denn wenn ich ihn im Ringen zu Boden geworfen habe, so kann er doch die Zuschauer bereden, dass ich nicht ihn, sondern er mich umgeworfen habe.« [Plutarch. in Pericl.]

Natürlicher Weise musste in Athen, nachdem einmal die Demokratie da eingeführt war, die Beredsamkeit die wichtigste Kunst werden, weil man durch sie beinahe zum unumschränkten Herrn des Staats wurde, wie Perikles wirklich gewesen ist. Damals also und noch eine ziemliche Zeit nachher, war Athen voll Rhetoren, bei denen die vornehmere Jugend die Staatsberedsamkeit lernte. Also kam die Beredsamkeit bei diesem, ohne dem mit dem glücklichsten Genie begabten Volke, auf den höchsten Grad der Vollkommenheit. Wer irgend einige Vorzüge des Genies in sich empfand, der wurde ein Redner oder er suchte die Theorie dieser Kunst ins Licht zu setzen. Die theoretischen Werke aus den damaligen Zeiten sind alle, bis auf die Rhetorik des Aristoteles, für uns verloren. Hingegen sind noch Meisterstücke von wirklichen Werken der öffentlichen Beredsamkeit aus den goldenen Zeiten derselben übrig, die man in der Geschichte des Thucidides und in den Werken des Isokrates, des Demosthenes und des Äschynes findet. Von Isokrates sagt man; er sei der erste, der das Studium des mechanischen im Ausdrucke, des Wohlklanges und der künstlichen Einrichtung der Perioden, eingeführt habe.

Ein ganz außerordentliches Bestreben nach der höchsten Vollkommenheit dieser Kunst äußerte sich vornehmlich in Athen als die politischen Umstände Griechenlandes der Freiheit dieses Staats den Untergang drohten. Eine so äußerst wichtige Sache erweckte natürlicher Weise alles, was irgend an Kräften in den Gemütern der Patrioten vorhanden war. Damals taten sich insbesondere Demosthenes und Phocion hervor, die eifrigsten Verfechter der Freiheit; jener durch Reden, dieser durch Reden und Taten. Von jenem sagt man, er sei der vortrefflichste; von diesem, er sei der nachdrücklichste Redner gewesen. Man kann nicht ohne Bewunderung sehen, mit was für unermüdeter Wirksamkeit, mit welcher Anstrengung des Geistes, mit welcher Hitze der Empfindung, Demosthenes jede Triebfeder des menschlichen Herzens zu reizen gesucht hat, um die sinkende Freiheit aufrecht zu halten. Vielleicht hat niemals ein Mensch für die Rechte der Menschlichkeit weder mit so viel Genie, noch mit so viel Eifer gefochten. Seine Reden sind das vortrefflichste Denkmal des Verstandes und der patriotischen Gesinnungen.

Überhaupt herrrscht in den Überbleibseln der Beredsamkeit derselben Zeit eben der Geschmack, den man in anderen griechischen Werken der schönen Künste aus diesem Zeitalter sieht. Eine ganz männliche Stärke des Verstandes, der überall das sieht, was am geradesten und sichersten zum Zweck führt, der über alle Ränke und Spitzfindigkeit des Witzes und der täuschenden Einbildungskraft weg schreitet; und ein Herz, das die wahre Größe und Stärke der menschlichen Natur empfindet, das von nichts kleinem gerührt wird. Auch die Gattung der Beredsamkeit, die ruhigere Gegenstände zum Inhalt hat, die den Philoso phen, den Geschichtschreibern und den Moralisten eigen ist, war in dieser goldenen Zeit, die vom Perikles bis auf den Phocion gedauert hat, in ihrer höchsten Schönheit, wovon die Werke des Plato und des Xenophons hinlänglich zeugen. Eben so scheint auch die Beredsamkeit des Umganges damals im höchsten Flor gewesen zu sein, wovon man tausend Beispiele in den Werken des Plutarchus antrifft. Also können die Griechen auch in diesem Stück als die Lehrmeister aller späteren Völkern angesehen werden.

Mit der Freiheit fiel in Athen auch die große Beredsamkeit und entartete in eine angenehme Kunst, die mehr zum Zeitvertreib und zur Belustigung der Einbildungskraft als zur Ausbreitung des Guten angewendet wurde. Noch in den guten Zeiten hatten schon die verschiedenen Sekten der Philosophen angefangen, einen schädlichen Einfluss auf die Beredsamkeit zu haben. Die Hochachtung, in welcher einige Philosophen standen, gab auch seichten Köpfen die Ruhmsucht, sich durch Behauptung allerhand seltsamer Meinungen einen Namen zu machen. Die Sophisterei schlich sich unvermerkt in die Kunst der Rede ein. Man sah nicht mehr auf richtige Beweise des Wahren, sondern auf erschlichene und auf Spitzfindigkeit gegründete Behauptungen dessen, das man für wahr ausgab. Als nachher das Volk seinen Anteil an der Regierung verloren hatte, fielen auch die star ken Triebfedern zu dieser Kunst. Sie wurde gemißbraucht, den Tyrannen zu schmeicheln oder das Volk, das keine wichtigen Geschäfte mehr hatte, in seinem Müssiggang zu belustigen. Öffentliche Reden über wichtige Staatsangelegenheiten hatten nicht mehr statt; sie wurden aber in den Schulen der Redner der Jugend, die kein Gefühl der Freiheit und nicht die geringste Kenntnis der Politik hatte, zur Übung in der Wohledenheit aufgegeben.

Da indessen alle Kunstgriffe der Redner, alle Farben der Beredsamkeit, welche die goldne Zeit der Freiheit hervor gebracht hatte, übrig geblieben waren, die Seele aber, nämlich die großen und wichtigen Angelegenheiten, worüber geredt werden sollte, fehlten; so entstand die zierliche, der Phantasie schmeichelnde Beredsamkeit der neuen Griechen, die sich nur in den Schulen Athens erhalten und nachher von da nach Rom ausgebreitet hatte. Die Kraft des Genies, welche die alten Römer angewendet hatten, die wichtigsten Angelegenheiten in ihrem wahren Lichte vorzustellen, dem ganzen Volke Empfindungen einzuflößen oder bei ihm Entschliessungen hervor zu bringen, wurde nun angewendet, den Reden von erdichtetem Inhalt Zierlichkeit, Annehmlichkeit und Wohlklang zu geben. Die Lehrer der Beredsamkeit, die ehedem die jungen Redner in der Staatskunst und in der Wissenschaft, sich der Gemüter zu bemächtigen, unterrichtet hat ten, wurden Grammatiker und lehrten schöne Redensarten, angenehme Bilder und witzige Einfälle in die Rede zu bringen. In ihren Schulen wurde nichts mehr von Staatsinteresse, von der Regierungskunst, sondern von Tropen und Figuren der Rede gesprochen. Homer wurde nicht mehr als ein Lehrer der Heerführer und Regenten, sondern als ein Grammatiker angesehen: man suchte in der Ilias alle möglichen Figuren der Rede und fand bisweilen acht bis zehn verschiedene Figuren in einer einzigen Redensart. Kurz, die Beredsamkeit entartete in den Schulen der Rhetoren gerade so, wie lange danach die Philosophie unter den Händen der Scholastiker, in einen bloßen Wortkram. Nur hier und da waren noch einzelne gesündere Köpfe, welche die Überbleibsel der wahren Kunst zu reden auf philosophische Materien anwendeten.

Dieses Schikcksal hat die Beredsamkeit unter dem Volke gehabt, dem die Natur vor allen anderen Völkern alle, zu den Künsten notwendige, Talente in reichem Maße zugeteilt hatte.


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