2. Plotin,
der 204 in Ägypten geboren war. Er selbst wollte seine Eltern, Vaterstadt und Geburtszeit nicht nennen; »es sah aus, als ob er sich schäme, dass er in einem Körper stecke«, wie sein Biograph Porphyrius erklärend bemerkt. Nachdem er elf Jahre lang Schüler des Ammonius gewesen, begründete er nach dessen Tode 244 zu Rom seine eigene Schule, der er bis 268 vorstand. Er gewann dort durch den Adel seiner Persönlichkeit wie durch den begeisterten Schwung seiner Lehre allseitige Verehrung, insbesondere auch die Gunst des Kaisers Gallienus und seiner Gemahlin, sodass er eine Zeitlang an die Gründung einer Philosophenstadt (Platonopolis) in Campanien denken konnte; er starb 270 auf dem Gute eines campanischen Freundes. Plotin kannte die gesamte griechische Philosophie und Literatur; besonders eifrig hatte er Pythagoras, Plato, Aristoteles und den Platoniker Numenius (§ 47) studiert. Erst von seinem fünfzigsten Lebensjahre ab stellte er auf Drängen seiner Schüler seine Lehre auch schriftlich dar. 54 seiner Abhandlungen wurden nach seinem Tode von seinem Schüler Porphyrius, willkürlich in 6 »Enneaden« (Neuner) abgeteilt, herausgegeben (sämtliche Titel s. bei Ueberweg I, S. 333 f.). In der Zeit der Renaissance fand neben Plato auch Plotin wieder neue Berücksichtigung. Seine Werke wurden bereits 1492 von Marsilius Ficinus in lateinischer Übersetzung herausgegeben, griechisch zuerst 1580 und 1615, seitdem erst wieder im 19. Jahrhundert.
a) Erkenntnistheoretische Grundlage. Bei Plotin fehlt es an einer erkenntnistheoretischen Unterlage nicht. Ja, er hat in dieser Hinsicht seinen Meister Plato vielleicht tiefer als mancher von dessen unmittelbaren Schülern erfaßt. Dahin gehört zunächst die Wertschätzung der Mathematik, die an das richtige Denken gewöhne, und der er deshalb gern seine Beispiele entlehnt; ebenso der Dialektik, die darin übe. Wir fühlen uns direkt an Plato (s. § 21) erinnert, wenn er das Denken ein Schauen, ein andermal ein Erzeugen oder Gebären nennt; wie denn auch eine besondere Abhandlung (Enneaden V, 5) dem Thema gewidmet ist, dass die Dinge nicht außerhalb des denkenden Geistes (nous) existieren. Auch den platonischen Gedanken der Hypothesis finden wir bei Plotin wieder, ebenso seine Gleichstellung mit der Idee; ferner die Begriffe des metechein, der mimêsis der Einheit, des Nichtseienden. Die Begriffe sind auch ihm das Erzeugende; ja die gesamte Natur heißt einmal ein »Begriff« (logos). Desgleichen sind Raum und Zeit nur Kategorien unseres Denkens. Plotin hebt - vielleicht zum ersten Male in der Geschichte der Philosophie - die Identität des Denkenden und Gedachten im Selbstbewußtsein hervor.
b) Lehre vom Ur-Einen. Trotzdem herrscht doch im ganzen ein Ton vor, der nicht an den Jüngling oder Mann Plato, sondern höchstens an sein pythagoraisierendes Alter, also etwa an den Timäus, gemahnt. Denn im letzten Grunde setzt Plotins Philosophieren an dem Punkte ein, mit dem eine gesunde Philosophie allenfalls abschließt: nämlich dem Absoluten, das von ihm als das Eine to hen, das Gute oder die Gottheit bezeichnet wird. Dies Eine ist erhaben über alles Sein. Ja, nicht bloß über das Sein, sondern auch über das Denken; es ist »übervernünftig«. Nicht bloß keine körperliche, sondern auch keine geistige Eigenschaft kann diesem Urersten (prôton) beigelegt werden. Wie es ohne Gestalt und Grenze ist, so besitzt es auch weder Denken noch Wollen noch Tätigkeit, ja nicht einmal ein Bewußtsein seiner selbst. Von seinem Wesen können wir uns durchaus keine Vorstellung machen, weil es von allem uns Bekannten, Endlichen völlig verschieden ist.
Aus der Überfülle des Ur-Einen geht nach Plotin das Viele durch Ausstrahlung (eklampsis emanatio) hervor, wie von der Sonne die Wärme, von dem Schnee die Kälte ausstrahlt, ohne dass sie deshalb etwas von ihrer Substanz verlieren. Die erste so erzeugte Ausstrahlung oder Abspiegelung des Urgrundes alles Gewordenen ist die Vernunft oder der Geist (nous). Er ist schon mit der Zweiheit behaftet, denn er setzt ein Erkennendes und ein Erkanntes, ein Bewußtsein und dessen Gegenstände voraus. Ihm immanent (als Erkanntes) sind die Ideen, zugleich Gedenken (Urbilder) und bewegende Kräfte (dynameis). Die Grundbegriffe oder Kategorien, in denen der Geist denkt, entnimmt Plotin Platos Sophistes; es sind fünf: Sein, Beharren, Bewegung, Identität (tautotês), Verschiedenheit (heterotês).
Der nous seinerseits erzeugt als sein Abbild, ebenfalls wieder durch Ausstrahlung, die Seele, die Vermittlerin zwischen der geistigen und der Körperwelt. Sie empfängt anschauend den Inhalt des Geistes, die Ideenwelt, und formt nach diesem Urbild aus der Materie die Sinnenwelt. So hat sie Anteil an beiden, ist beiden zugewandt. Ja, Plotin spricht auch wohl von zwei Seelen, einer höheren, rein geistigen und einer zweiten niederen, die das Körperliche gestaltet. Und zwar betrifft das sowohl die Welt- wie die Einzelseele. Auch die immaterielle Weltseele strahlt eine zweite, die gestaltende Naturkraft (physis) aus, die aus feinstem Äther besteht und mit dem Weltkörper verbunden ist, wie unsere Seele mit unserem Körper.
Und so folgt nun weiter - nicht in zeitlicher, sondern in gedanklicher Folge -, in Gestalt immer weiterer Ausstrahlungen und Abbilder, eine unendliche Stufenreihe weiterer Wesen oder Kräfte mit stetig abnehmender Vollkommenheit. Die niedrigste und unvollkommenste Erscheinung der göttlichen Urkraft ist die Materie, die übrigens nicht als körperlich, sondern ähnlich wie bei Plato und Aristoteles, als das Form- und Bestimmungslose gedacht wird. In der Welt der Erscheinungen tritt Zwiespalt und Vielheit an die Stelle der Einheit, Zeitlichkeit an Stelle der Ewigkeit, Schein und Afterbilder an Stelle des wahrhaft Seienden. In der Abkehr vom letzteren zum Nichtigen und Kraftlosen liegt zugleich das Wesen des Bösen, das jedoch nirgends rein für sich vorkommt und eigentlich nur in dem Fehlen des Guten besteht. Trotzdem bietet die ganze Welt, da sie ja von der göttlichen, einheitlichen Weltseele erzeugt worden ist, ein Bild durchgängiger Harmonie und Sympathie. Sie ist so schön und vollkommen, wie eine materielle Welt nur sein kann: was Plotin in seinen zwei Abhandlungen Über die Vorsehung ausführlich zu begründen sucht. Auf seine von mystischen Grundgedanken beherrschte »Physik«, Astrologie und Dämonenlehre einzugehen, verlohnt nicht. Desgleichen würde es zu weit führen, wollten wir hier die Einzelheiten seiner Seelenlehre (die u. a. Brandis, Entwicklungen S. 356-59 übersichtlich darstellt) behandeln. Selbstverständlich Spielen in der letzteren Präexistenz und Unsterblichkeit der Seele, Seelenwanderung und Wiedervergeltung im Jenseits eine Rolle.
c) Ethik. Auch hier finden sich, entsprechend der Lehre des Meisters (§ 24), Ansätze zu einer erkenntniskritischen Begründung. Die Erkenntnis ist Voraussetzung der Ethik, nur ein bewußtes Handeln kann sittlich heißen. Die Lust vermag keinen Maßstab abzugeben, das Gute ist vielmehr um seiner selbst willen zu erstreben. Wird das Gute - und die damit identische Gottheit - auch hoch über die Wirklichkeit erhoben, so erkennen wir es doch nur durch »ein Analoges in unsü; es wird nur dadurch möglich, dass wir es denken. Das Gute ist ferner, bei aller Verschiedenheit der Zeiten und Sitten, im letzten Grunde doch nur eines; sonst würde man nicht das Ziel, sondern Ziele suchen. Selbst Gott ist ohne Tugend ein bloßer Name. Plotins Überschätzung des Denkens führt ihn dann freilich zu einer Geringschätzung des Willens (s. unten), dessen Freiheit übrigens schon, ganz ähnlich wie später bei Kant, in der Selbstgesetzgebung der Vernunft erblickt wird.
»Wenn die Seele die eigene Vernunft zum reinen und leidenschaftslosen Führer hat, dann ist dies Streben allein unser Werk, das nicht anderswoher kommt, sondern von innen, aus der reinen Seele« (Enn. III, 1). Und gar nicht mystisch, eher stoisch klingt der Ausruf: »Was sind wir schließlich! Doch nur, was wir in Wahrheit als wir selbst sind, denen die Natur auch die Herrschaft über die Leidenschaft verlieh. Denn Gott gab uns, die wir zugleich infolge der Natur unseres Leibes gehemmt sind, die Tugend, die keinen Herrn über sich duldet« (Enn. II, 3).
Aber wie seine theoretische Philosophie (s. oben), so bekommt dann auch Plotins Ethik einen immer stärkeren religiösen Grundzug. Unser Beruf ist es, unseres höheren Ursprungs eingedenk, der Urheimat unserer Seele, die wir bei dem Herabsteigen in diese Leiblichkeit verlassen haben, mit allen Kräften wieder zuzustreben, unser besseres Selbst durch Abtötung und Lossagung von der Sinnlichkeit zu befreien. Nur durch einen solchen Läuterungsprozeß, eine Reinigung (katharsis) unserer Seele können wir zur höchsten Seligkeit gelangen. Die erste Stufe dieser Erhebung bilden die bürgerlichen oder politischen Tugenden, die mit den vier platonischen übereinstimmen. Aber die Praxis ist nur der Theorie wegen da. Weit über ihnen stehen daher die dianoëtischen, wie bei Aristoteles (§ 32); die höchste Seligkeit ist die Denkseligkeit. Bei der Schilderung des allmählichen Aufstiegs zu derselben kommt es dann wieder zu einer Art Erkenntnistheorie. Die sinnliche Wahrnehmung gibt uns nur schwache Spuren der Wahrheit, höher schon steht das verstandesmäßige Erkennen der »Dialektik« (auch dianoia, logismos), noch höher die unmittelbare Anschauung des göttlichen und damit zugleich Selbstanschauung des denkenden Geistes. Das Allerhöchste aber ist der Zustand bewußtloser Verzückung (ekstasis), trunkener Versenkung in das Göttliche, das völlige Einswerden mit dem Ur-Einen. Kein denkendes mehr, sondern ein liebendes Schauen ist es, zu dem in ihm die nun völlig Geist gewordene Seele sich erhebt. Sein können wir nur dann teilhaftig werden, wenn wir nicht bloß der Außenwelt, sondern auch unser selbst gänzlich vergessen; und auch dann müssen wir ruhig warten, bis dieser seligste Zustand über uns kommt. Plotin selber wollte ihn nur viermal in seinem Leben genossen haben. Damit ist die Seele zu dem göttlichen Urquell alles Seienden zurückgekehrt, der Ring in Plotins System geschlossen.
d) Ästhetik. Wenn so bei Plotin die Ethik, gleich Physik und Logik, sich schließlich in religiöse Mystik auflöst, tritt anderseits bei ihm stärker als bei irgendeinem Philosophen seit Plato das ästhetische Moment hervor. Gleich seine erste Abhandlung ist der Begriffsbestimmung des Schönen gewidmet. Die Schönheit liegt, so lautet seine von echtem Künstlersinn eingegebene Erklärung, in der Bewältigung des Stoffes durch die Idee, dem Durchleuchten des Idealen in der sinnlichen Erscheinung. Zu jenem Läuterungsprozeß der Seele gehört es auch, dass wir, von der Betrachtung des Sinnlich-Schönen anfangend, allmählich aufsteigen zu dem an sich, d. i. geistig oder Ur-Schönen. Denn eben in seiner Schönheit besteht die Natur des Geistigen; der Urgrund des Seins ist mit dem Urquell des Schönen identisch. Die Sehnsucht nach diesem nennt Plotin, Platos Symposion folgend, die Liebe (erôs). Und zwar unterscheidet er auch hier wieder eine doppelte Gestalt: den höchsten Eros (oder die himmlische Aphrodite), der die reine Ausstrahlung der Gottheit ist, und einen zweiten, der mit dem Stoff in Beziehung Steht. Der wahre Künstler begnügt sich nicht mit der einfachen Nachahmung der Natur, sondern schafft nach den in seiner Seele wohnenden Urbildern (logoi) der Schönheit. Eine eigentliche Philosophie des Schönen, d.h. eine feste begriffliche Bestimmung und systematische Scheidung desselben vom Seienden (Wahren) und Guten, findet sich bei Plotin noch weniger als bei Plato (§ 24). »Das Gute und das Urschöne sollen als dasselbe gesetzt werden.« Die Tugend ist schön, und das Schöne ist gut. »Als das Erste muß man die Schönheit setzen, die ja auch das Gute ist... Die Seele ist das durch den Nus Schöne. Das übrige, was in den Handlungen und in den Beschäftigungen schön ist, ist schön durch die gestaltende Seele« (Enn. I, 6). Geistestrunken will unser Neuplatoniker auch hier das Absolute unmittelbar durch die intellektuelle Anschauung ergreifen. Gefühl und Phantasie sind bei ihm mächtiger als logische Erwägung, der beschauliche Grundzug seines Denkens drängt zugleich den Willen zurück.
Der Volksreligion stellte sich Plotin nicht feindlich gegenüber, sondern suchte sie durch rein geistige Umdeutung ihrer Mythen und Gebräuche einerseits mit seinem System in Übereinstimmung zu bringen, anderseits dem neubelebten religiösen Bedürfnisse seiner Zeit - man denke daran, dass das Christentum schon zwei Jahrhunderte bestand - anzupassen. Ja, er tadelt sogar die Christen, dass sie den auch seiner Lehre zufolge existierenden, jedoch bei ihm noch nicht in den Vordergrund tretenden Mittelwesen zwischen Gott und den Menschen (den Dämonen), zu denen er u. a. auch die olympischen Götter rechnet, nicht die gebührende Ehre erweisen. Anderseits verwarf er jedoch alle Astrologie, alles Prophezeien und alle Mantik. Und er persönlich begnügte sich mit dem inneren Gottesdienste. »Die Götter müssen zu mir kommen, nicht ich zu ihnen,« sagte er zu seinem Schüler Amelius, der ihn in seinen Tempel mitnehmen wollte, und seine letzten Worte sollen, seiner Lehre getreu, gelautet haben: »Ich versuche jetzt das Göttliche in mir zu dem Gotte im All zurückzuführen.«