3. Die jüngere Skepsis.
a) Änesidem. b) Sextus Empirikus


a) Wie wir sahen, war um die Zeit, an der wir jetzt stehen, eine fast allgemeine philosophische Erschlaffung eingetreten; der Eklektizismus war nicht viel mehr als ein verwässerter Skeptizismus. So ist es denn nur begreiflich, dass auch die alte, kräftigere pyrrhonische Skepsis noch einmal eine Erneuerung fand. Die Lebenszeit ihres Hauptvertreters Änesidem von Knossos (auf Kreta), der in Alexandria lehrte, ist allerdings ziemlich zweifelhaft.

Wenn mit dem L. Tubero, dem er nach dem Byzantiner Photius seine von letzterem exzerpierte Hauptschrift, die 8 Bücher Pyrrhonischer Reden widmete, der gleichnamige Freund Ciceros gemeint ist, so würde er in dessen Zeit, also in die erste Hälfte des 1. Jahrh. v. Chr. fallen (so Diels, Natorp, Haas); ist dagegen das Verzeichnis der skeptischen ›Diadochen‹ (Schulhäupter) bei Laert. Diog. IX, 116 richtig (wozu Zeller neigt), eher um die Zeit Christi.

Gegenüber dem überhandnehmenden Dogmatismus der Stoiker und Epikureer, vor dem auch die neuere Akademie schließlich den Rückzug angetreten hatte, knüpfte Änesidem wieder an die Überlieferung des alten, pyrrhonischen Skeptizismus an. Er zuerst scheint die 10 tropoi d. i. Arten, den Zweifel zu begründen, aufgestellt zu haben. Sie zeigen die Relativität aller unserer Erkenntnis an den Verschiedenheiten und der Auffassung der beseelten Wesen überhaupt, sodann der Menschen insbesondere, die ihrerseits wieder von der Verschiedenheit der Sinneswerkzeuge, Zustände, Gegenden, Bildung, Sitten usw. herrühren. Diese zehn Tropen wurden später auf fünf, noch später auf zwei zurückgeführt: es sei weder unmittelbare noch mittelbare Gewißheit möglich. Von sonstigen Philosophen stand Änesidem dem Heraklit am nächsten; er bezeichnete die skeptische Methode als den Schlüssel zum Verständnis von dessen Lehre vom Flusse aller Dinge. Wenn übrigens die Skeptiker die Erscheinungen (phainomena) zum Kriterium machten, so wollten, sie damit nicht etwa alle Wahrheit in Schein verwandeln. Sie leugneten die Möglichkeit empirischer Forschung und relativer Erfahrungswahrheit nicht. Auch sie gestanden zu, dass sich vom Rauch auf die Flamme, von der Narbe auf die Wunde schließen lasse; Änesidem speziell nahm ein »allgemein so Erscheinendes« (koinôs phainomenon) an. Aber sie eiferten gegen jedes Dogma. »Wer alles dahingestellt sein läßt, wahrt die Konsequenz und kommt mit sich selbst nicht in Streit; die anderen widersprechen sich, ohne es selbst zu wissen.« Ihre »Zetetik« (vgl. § 42) hat vielmehr, wie bei Pyrrho, einen sehr positiven Beigeschmack. Sie will die Untersuchung der Wahrheit nicht aufheben, vielmehr erst recht begründen durch ihre zweifelnde Prüfung, wie durch ihr Vorgehen gegen Voreiligkeit und Selbstzufriedenheit. Daher nannten diese jüngeren Skeptiker ihre Lehre bescheiden nur eine »Anleitung« (agôgê).

b) So war denn dieser Skeptizismus keine leere Sophistik, sondern eher dem heutigen Positivismus zu vergleichen, ein heilsamer »Zuchtmeister des dogmatischen Vernünftlers« (Kants Kr. d. r. V. Ausgabe Vorländer S. 633). Es huldigten ihm daher besonders die Männer der Naturwissenschaft; die meisten Skeptiker sind Ärzte. Gegen Ende des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts existiert in Alexandria eine förmliche Schule der »empirischen Ärzte«, welche die Erörterungen ihrer »dogmatischen« Fachgenossen über die Krankheitsursachen als aussichtslos aufgaben und sich an die Erfahrung, d.h. genaue und häufige Beobachtung hielten. Von fachmännischen neueren Historikern der Medizin (Sprengel, Häser) sind ihre Grundsätze als scharfsinnig, gründlich und nutzbringend für die Feststellung des Tatsachenmaterials anerkannt worden. Der philosophische Wortführer dieses skeptischen Empirismus oder empirischen Skeptizismus, den wir des sachlichen Zusammenhangs halber hier gleich anschließen, war der Arzt Sextus mit dem Beinamen Empirikus zu Alexandrien, dessen Wirksamkeit um 200 n. Chr. fällt. Von ihm sind drei, namentlich als historische Quellen wichtige, Schriften erhalten: 1. Drei Bücher Pyrrhonische Skizzen (Pyrrhôneioi hypotypôseis), übersetzt und erläutert von Pappenheim, 1877-81 (Philosophische Bibliothek). 2. Sechs Bücher gegen die »Mathematiker«, d.h. die Vertreter positiver Wissenschaften (Grammatik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astrologie, Musik). 3. Fünf Bücher gegen die »Dogmatiker«, d. i. die philosophischen Logiker, Physiker, Ethiker. 2. und 3. werden gewöhnlich (unrichtig) unter dem Titel: Adversus Math. 1. XI zusammengefaßt (ed. J. Becker 1842). In den scharfsinnigen, aber trockenen und zum Teil recht weitschweifigen Erörterungen werden sämtliche skeptischen Argumente gegen die Möglichkeit einer unbedingt sicheren Beweisführung vorgebracht, insbesondere der Begriff der Kausalität als nur relativ gültig nachzuweisen gesucht, auch die dogmatischen Beweise für das Dasein Gottes (nicht der Götterglaube des Volkes) bestritten. In der Ethik galt auch der jüngeren Skepsis als Ziel und höchstes Gut die Ataraxie oder unerschütterliche Ruhe des Gemüts.

 

Vgl. die betr. Abschnitte von P. Natorp, Forschungen usw. Über die äußere Entwicklung vgl. Haas, De philosophorum scepticorum successionibus, Würzburg 1875 (von dems. auch andere Schriften).


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