§ 36. Die Hauptvertreter der älteren Stoa.


Die Heimat fast sämtlicher vorchristlicher Stoiker ist bezeichnenderweise nicht mehr das eigentliche Griechenland, sondern die Landschaften Kleinasiens mit ihrer Umgebung, während sie ihre Schulwirksamkeit allerdings in der alten Philosophenstadt Athen ausüben. Der Stifter der stoischen Schule ist

1. Zenon aus Citium auf Cypern (um 336-264). Um 314 als junger Kaufmann nach Athen gelangt, wurde er hier ein Schüler des Zynikers Krates (§ 17), ließ sich dann, von diesem nicht befriedigt, von dem Megariker Stilpon (§ 18) dialektisch schulen und hörte außerdem die Akademiker Xenokrates und Polemon (§ 26). Noch vor 300 gründete er seine eigene Schule in der mit Polygnots Gemälden geschmückten »bunten Halle« (stoa poikilê), woher seine Genossenschaft den Namen Stoiker, d.i. Hallenphilosophen, erhielt. Wegen seiner sittlich ernsten, an Sokrates erinnernden Lebensführung von den Athenern hoch geehrt, schied er in hohem Alter freiwillig aus dem Leben. Sein Nachfolger als Schulhaupt war

2. Kleanthes aus der Landschaft Troas (um 331 bis 233), der, um tagsüber Zenons Vorträge hören zu können, seinen Unterhalt durch nächtliche Tagelöhnerarbeit (Wassertragen und Teigkneten) verdient haben soll. Langsamen, aber zäh festhaltenden Geistes und sittenstreng wie sein Meister, scheint er als Denker weniger selbständig gewesen zu sein. Erhalten ist von ihm ein schon im Altertum berühmter, pantheistisch gehaltener Hymnus auf Zeus.

Weitere Schüler Zenons, von denen uns fast nur die Namen überliefert sind, übergehen wir. In der Leitung der Schule folgte dem Kleanthes

3. Chrysippos aus Soloi in Cicilien (um 280-207), der das stoische Lehrgebäude mit dialektischer Technik allseitig ausbaute, sodass man sagte: »Gäbe es keinen Chrysipp, so gäbe es keine Stoa.« Seine Schriftstellerei ging indes mehr in die Breite als in die Tiefe. Er soll täglich 500 Zeilen verfaßt und auf diese Weise nicht weniger als 705 (!) Bücher zusammengeschrieben haben, die natürlich von Wiederholungen und Zitaten strotzten. Uns sind nur kurze Fragmente erhalten.

Auf einen zweiten Zenon (von Tarsus) folgte

4. Diogenes der Babylonier (aus Seleucia am Tigris), der zusammen mit dem Peripatetiker Kritolaos und dem Akademiker Karneades 155 v. Chr. als athenischer Gesandter nach Rom ging und dort philosophische Vorträge hielt. Sein Schüler Panätius verpflanzte die stoische Philosophie dauernd nach Rom (s. § 44). Dem Diogenes folgte als Schulhaupt Antipater von Tarsus. Von den großen alexandrinischen Gelehrten stehen der Geograph Eratosthenes und der Philologe Apollodor der Stoa nahe. Eratosthenes z.B. tadelt schon mit harten Worten die aristotelische Zweiteilung des Menschengeschlechtes in Hellenen und Barbaren. Da nicht mehr nachweisbar ist, was ihren einzelnen Vertretern angehört, schildern wir die Lehre der älteren Stoa als ein einheitliches Ganzes.

Die Stoiker betrachten sich im allgemeinen als die Abkömmlinge der alten Zyniker; Antisthenes und Diogenes von Sinope stehen bei ihnen in höchstem Ansehen. Philosophie und Lebenszweck besteht ihnen, gleich jenen, in der Übung der Tugend.

Gleichwohl halten sie eine solche nicht für möglich ohne Erkenntnis. Die allmählich sich einbürgernde Einteilung der Philosophie in Logik, Physik und Ethik bleibt deshalb auch bei ihnen bestehen. Aber die Wertschätzung dieser Gebiete ist ganz verschieden. Die Logik - so lautet einer ihrer Vergleiche - ist der Umzäunung eines Gartens ähnlich, die Physik dessen Bäumen, die Ethik allein enthält das eigentlich Wertvolle: die Frucht. Immerhin haben die älteren Stoiker auch jene beiden ersten Wissenschaften mit Sorgfalt betrieben, während dieselben später immer mehr vernachlässigt und zuletzt (bei Epiktet u. a., §46) gänzlich beiseite gelassen werden.

 

Literatur: Eine sorgfältige Ausgabe aller erhaltenen Fragmente und sonstigen Nachrichten aus dem Altertum über Leben, Schriften und Lehre der älteren Stoiker: Joh. ab Arnim, Stoicorum veterum fragmenta. 3 Bde. Leipzig 1903-05, der in der Allgemeinen Geschichte der Philosophie (Teubner 1909), S. 219-250 auch eine gute Zusammenfassung der stoischen Lehren gibt.


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