§ 41. Epikurs Ethik des Egoismus.


a) Grundlage. Die epikureische Ethik trägt, wenigstens in ihrer überlieferten Gestalt, keinen systematischen Charakter, sondern mehr den lose aneinander gereihter Sätze. Wie die cyrenaische Lehre, die in ihr verfeinerter und gereifter wieder ersteht, ist sie vor allem Individualethik, genauer Ethik des Egoismus. Als Ausgangspunkt wird ausdrücklich die Lust (hêdonê) des Einzelnen, als Ziel, auf welches das natürliche Streben jedes Wesens gerichtet ist, das glückselige Leben (makariôs zên) bezeichnet. Zur völligen Glückseligkeit freilich genügt die bloße Bedürfnisbefriedigung des Augenblicks, die Lust »in der Bewegung« nicht, sondern es muß die bleibende Lust »der Ruhe« erreicht werden, die der Befriedigung nachfolgt. Die höchste Frucht des sittlichen Lebens ist daher - ein demokritisches Moment! - die Ataraxie (ataraxia), eigentlich das »Ungestörtsein«, d.h. die unerschütterliche Ruhe des Gemüts, das nil admirari des Horaz. Der Maßstab der Lust ist zwar zunächst das Gefühl (pathos), aber nicht jede Lust ist zu erstreben, nicht jeder Schmerz zu fliehen, z.B. nicht der, welcher eine höhere Lust im Gefolge hat. Die geistige Lust ist ungleich höher zu schätzen als die des »Fleisches«, (Hier zum erstenmal das im Neuen Testament so gebräuchliche sarx)! Es gibt natürliche und nicht natürliche Begierden; die ersteren zerfallen wiederum in notwendige und nicht notwendige. Deshalb ist eine Abmessung (symmetrêsis) der Lüste nach ihrem Wesen und ihren unmittelbaren und mittelbaren Folgen vonnöten, die durch die vernünftige Einsicht (phronêsis) vollzogen wird. Sind Lust und Unlust auch von den körperlichen Zustanden und Trieben abhängig, so vermag doch der Geist sie zu beherrschen; darin denkt der epikureische Weise nicht viel anders als der Zyniker oder Stoiker. Der Körper empfindet bloß die Gegenwart, die Seele vermag auch Vergangenheit und Zukunft und damit alle Freuden, freilich auch alle Leiden, stärker zu empfinden. Ja, im Widerspruch zu ihrem ursprünglichen Grundprinzip hielten die Epikureer es für besser, mit Vernunft unglücklich als ohne Vernunft glücklich zu sein, und erklärten die Einsicht für das höchste Gut.

b) Anwendungen. Wie Epikur persönlich ein durchaus musterhaftes und sittenreines Leben in Mäßigkeit und Genügsamkeit führte, so ist auch sein Ideal des Weisen - denn darauf läuft seine Ethik genau so wie die stoische hinaus - trotz des Mangels einer strengeren wissenschaftlichen Begründung und trotz des eudämonistischen Grundprinzips, ein durchaus edles. Es wird fast mit denselben Zügen wie das der Stoiker geschildert, vielleicht erst von Epikurs Schülern, die sich in der Ausmalung desselben nicht von jenen übertreffen lassen wollten. Der Weise weiß seine Begierden zu beherrschen, ist von allem Äußeren unabhängig, wandelt wie ein Gott unter den Menschen und beneidet selbst bei Wasser und Brot Zeus nicht. Stimmen nun auch diese allgemeinen Züge überein, so steht doch im einzelnen die epikureische Ethik vielfach im Gegensatz zur stoischen. Vor allem fehlt der Pflichtgedanke, die Unterordnung des Individuums unter das Allgemeine. Der Zweck des Staats ist lediglich Sicherung der Gesellschaft gegen das Unrecht, von dem die große Masse nur durch Strafen zurückgehalten werden kann. Am besten ist es, sich von den Aufregungen des politischen Lebens überhaupt fernzuhalten. »Lebe im Verborgenen!« (lathe biôsas!), lautete einer der epikureischen Wahlsprüche, der also das »Glück im Winkel« preist. Aus dieser Rücksicht auf möglichste Ruhe und Ungestörtheit leiten sich auch seine Bedenken gegen Eheschließung und Familiengründung her, wenn er sie auch nicht gerade verboten wissen will. Nur die Freundschaft wurde, und auch sie mehr in der Praxis als in der Theorie, von den Epikureern hochgehalten, Milde gegen die Sklaven und Wohlwollen gegen alle Menschen empfohlen. Gegen die Lebens- und Genußfreudigkeit eines Aristipp nimmt sich allerdings der Egoismus Epikurs recht resigniert aus. Sein Ideal ist ein heiter ruhiges, friedlich stilles Leben, das nicht nach hohem Ruhm und Ehren trachtet, das die sinnlichen Triebe nicht unterdrückt, aber auch nicht die Herrschaft über sich gewinnen läßt, das sich nicht gegen den Verkehr mit anderen verschließt, und das schließlich gestattet, unerträglichen Leiden durch freiwilligen Tod sich zu entziehen.

Von einer wirklich erkenntniskritischen Begründung der Ethik, wie sie Plato angebahnt hatte, ist bei diesen hellenistischen Philosophen keine Rede mehr. Das ethische Philosophieren ist fortan nur auf die Erlangung des »höchsten Guts« gerichtet. Epikurs Ethik insbesondere enthält, wie wichtig auch ihr Einfluß auf Kultur- und Sittengeschichte gewesen ist, philosophisch wenig Eigen artiges. Wer aufgemerkt hat, wird auch in der Ethik Epikurs neben cyrenaischen Elementen dieselbe Verwässerung Demokrits erblicken, die dazu beigetragen hat, den echten Demokrit bis in die neueste Zeit im Dunkel zu lassen.


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