§ 38. Die stoische Ethik.


a) Grundlage. Die Ethik wild von den Stoikern auf den mächtigsten und ursprünglichsten der menschlichen Triebe gegründet. Das ist aber ihnen zufolge nicht die Lust, sondern der Selbsterhaltungstrieb. Das Ziel des Menschen, das ihm allein innere Befriedigung und Glück bringen kann, muß daher sein, mit sich einstimmig (homologoumenôs), sich selbst getreu (Zenon) oder, wie Kleanthes es ausdrückte, mit der Natur (tê physei) einstimmig, der Natur gemäß zu leben. Welcher Natur gemäß? Der des Alls, des Einzelnen oder beider? Auf diese Frage haben nicht alle Stoiker dieselbe Antwort gegeben. Die meisten kommen mit Chrysipp darin überein, dass beides miteinander im Einklang sei. Denn das Vernunftlose gehorcht der ewigen Notwendigkeit aus ehernem Zwange, das Vernünftige aber fügt sich dem Logos oder göttlichen Weltgesetz aus freier Selbstbestimmung. So vereint sich - freilich nicht ohne Widerspruch mit ihrer Physik (§ 37) - die Freiheit des sittlichen Wollens mit der unentrinnbaren Naturnotwendigkeit, der sie bei der Gestaltung ihres Handelns unterworfen ist. Höchstes Ziel des Individuums ist, aufzugehen im Allgemeinen: ein Gedanke, der in dieser Reinheit nur in der indischen Philosophie, in der neueren Zeit erst bei Spinoza zu finden ist.

Der Natur gemäß leben heißt zugleich der sich selbst bestimmenden Vernunft gemäß leben; denn der Entschluß dazu folgt aus freier Wahl (authairesis), entspricht einem ursprünglich in uns gelegten Naturtriebe, der nicht irren kann. Die Tugend wird in scharfen Gegensatz zur Lust gestellt, welche letztere höchstens als »Zuwachs« oder »Nachgeburt« zu ersterer hinzukommt. Die Tugend allein ist hinreichend zur Glückseligkeit. Darin besteht ihre Autarkie d. i. Selbstgenugsamkeit. Sie ist durch Wissen zu erlangen, also lehrbar, und Schlechtigkeit eigentlich nur Verirrung des Urteils (vgl. Sokrates), was sie dann allerdings gegenüber der Gewalt der Tatsachen nicht immer folgerecht aufrecht zu erhalten vermögen. Übrigens ist dies Wissen kein theoretisches, sondern ein durchaus praktisches; die dianoëtischen treten hinter den ethischen Tugenden durchaus zurück. Der Tugendhafte ist an sich der Weise. Dies die wesentlichsten Grundanschauungen der stoischen Ethik. Aber die Vernunft hat den natürlichen Trieb, sich in der Wirklichkeit zu betätigen. Damit kommen wir zur

b) Angewandten Ethik oder Tugend- und Güterlehre. Die Autarkie der Tugend ist das positive Ideal des Weisen. Ihr negativer Ausdruck ist die völlige Ausschaltung der Gefühle in der Apathie (apatheia), d.h. der Freiheit von den Leidenschaften: Lust, Begierde, Trauer und Furcht, die als unvernünftige Regungen der Seele zu bekämpfen sind. Aus der Grundtugend - nach Zeno der Einsicht, nach Kleanthes der Seelenstärke, seit Chrysipp der Weisheit - gehen die drei übrigen Kardinaltugenden hervor, die sich dann noch in eine Anzahl von Untertugenden gliedern, und denen als die vier Kardinallaster ihre Gegensätze: die Unwissenheit, Feigheit, Zuchtlosigkeit und Ungerechtigkeit (mit weiteren Unterlastern) gegenübergestellt werden. Der Mensch besitzt entweder alle Tugenden oder gar keine. Es gibt nur Weise oder Wackere (spoudaioi) auf der einen, Toren oder Schlechte (phauloi) auf der anderen Seite. Der Übergang vom Bösen zum Guten ist demgemäß auch ein plötzlicher, eine Art Wiedergeburt (Kant: Revolution der Denkungsart). Was weder gut noch böse ist, ist gleichgültig. In stärkster Gegnerschaft zu Aristoteles und seiner Schule werden die sogenannten, äußeren Güter wie Ehre, Besitz, Gesundheit, ja selbst das Leben als gleichgültige Dinge (adiaphora) behandelt. Das einzige Übel ist die Schlechtigkeit (kakia), das einzige Gut die Tugend. Der Weise allein ist frei, reich, glücklich, ein wahrer König, ja den Göttern gleich, der Tor dagegen elend, unwissend, ein Bettler, ja ein Verrückter. In einer Hinsicht übertrifft der Weise sogar noch die Gottheit: er kann seine Seelenstärke im Dulden der Übel beweisen, Gott nicht.

Da nun aber solche Musterweisen tatsächlich nicht oder doch höchst selten, in einem Sokrates, Antisthenes, Diogenes und - Herakles! zu finden waren, so sahen sich die Stoiker in der Praxis denn doch zu manchen Inkonsequenzen bezw. Milderungen dieses schroffen Standpunkts genötigt. Dahin gehört, dass schließlich doch mehr oder weniger wünschenswerte Dinge, z.B. geistige oder körperliche Vorzüge, zugestanden, dass zwischen den Toren und Weisen die »Fortschreitenden«, und zwar mit immer größerer Annäherung an die Weisen, eingeschoben, dass die Einflüsse zeitlicher und persönlicher Verhältnisse mit in Betracht gezogen werden. Besonders stark zeigte sich die Stoa (freilich, wie es scheint, mehr die spätere) in moralischer Kasuistik d. i. in der Aufstellung und Entscheidung von Fällen, wo eine Kollision der Pflichten eintritt; Beispiele genug bietet u. a. Cicero, De officiis. Auch der individual-ethische Standpunkt konnte nicht in voller Starrheit festgehalten werden. Bei aller »Selbstgenugsamkeit« der Tugend wurde doch betont, dass der Mensch um der Gemeinschaft, um des großen Ganzen willen da sei, dass alle Vernunftwesen einander von Natur verwandt seien. So werden Freundschaft, Ehe, Staat nicht verworfen, sofern sie sittlich gestaltet oder zu gestalten sind. Da aber in allen Menschen eine und dieselbe Vernunft lebt, so kann es im Grunde nur ein Gesetz, ein Recht, einen Staat geben. Alle Menschen sind Brüder, Der wahre Stoiker ist demnach Weltbürger. So hat sich die aristotelische Politik jetzt zum Kosmopolitismus erweitert, der freilich bei der älteren Stoa noch recht kalt und leer erscheint und sich erst in der Stoa der Kaiserzeit mit (religiöser) Wärme erfüllt. Zenon selbst hat das Ideal eines Weltstaats entworfen, in dem keine Gerichtshöfe, Tempel, Gymnasien und Tauschmittel mehr nötig sind (vgl. Pöhlmann a. a. O. S. 610-618). Und die stoische Lehre vom »Naturrecht« hat jahrhundertelang das europäische Denken beherrscht.

Der Begründung der stoischen Ethik auf so dehnbare Begriffe wie Selbsterhaltungstrieb und Naturgemäßheit18, ihren Mangel an Erkenntnistheorie, ihre mancherlei Inkonsequenzen, zu denen auch die sittlich bedenkliche Unterscheidung zwischen dem bloß Angemessenen (kathêkon) und dem unbedingt Gebotenen gehört, kurzum ihren methodischen Schwächen steht jedenfalls ein auch philosophisch nicht gering anzuschlagendes Verdienst gegenüber: den Pflichtgedanken zum erstenmal philosophisch mit erhebender Kraft und Strenge gepredigt und den Gedanken in voller Reinheit betont zu haben, dass die vollkommene Pflichterfüllung in der rechten Gesinnung (to katorthôma) besteht.

 

Literatur: Bonhöffer, Die Ethik des Stoikers Epiktet, Stuttgart 1894, ist auch für die ältere Stoa von Wert.


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