Zur Genealogie der Moral


Auf Grund einer vom Wachtmeister Berger erstatteten Anzeige hatte sich die Schneiderin Karoline M. wegen Übertretung gegen die öffentliche Sittlichkeit zu verantworten, weil sie am 4. April, auf dem Heimwege begriffen, gegen Mitternacht in der Mariahilferstraße den Rock bis zu den Hüften hinauf gehoben haben soll. Die Angeklagte hatte sich zur kritischen Zeit in Gesellschaft zweier Herren befunden, während der Anzeiger, der die Arretierung der Angeklagten veranlaßte, in Begleitung seiner Frau und eines anderen Soldaten war. In der heute durchgeführten Verhandlung stellte die Angeklagte entschieden in Abrede, den Rock in einer das Sittlichkeitsgefühl verletzenden Weise gehoben zu haben. Sie erklärte, dass sie damals den Rock höher gehoben habe als sonst, nämlich bis zur halben Höhe der Strümpfe, was um so weniger auffällig war, als sie auch Reformunterkleider trug. Die als Zeugin vernommene Wachtmeistersgattin Anna Berger gab an, dass die Angeklagte den Rock bis zur Hüfte gehoben, dabei sich gebückt und noch gelacht habe. Durch dieses Verhalten sei das Sittlichkeitsgefühl der hinter ihr gehenden Personen arg verletzt worden, zumal die Angeklagte, wie sie sah, keine Unterkleider getragen habe. Gegenüber dieser Aussage erklärte die Angeklagte, sie habe den Rock nicht allzu hoch heben können, weil sie damals in zwei Herren eingehängt war. Der Zeuge Franz Wiedel, der zur kritischen Zeit in Gesellschaft der Angeklagten war, gab an, dass die Angeklagte, als sie vom Trottoir auf die Straße ging, den Rock so hoch gehoben habe, wie die Damen ihn heben, wenn es regnet. — Richter: Hat es damals geregnet? — Zeuge: Nein. — Der Zeuge gab schließlich noch an, dass die Angeklagte und ihre beiden Begleiter zur kritischen Zeit in sehr animierter Stimmung sich befanden und dass, seiner Ansicht nach, durch das Heben des Rockes bis zu den Knöcheln das Sittlichkeitsgefühl irgendeiner Person nicht verletzt werden konnte. Der Richter sprach schließlich die Angeklagte frei, da bei den widersprechenden Zeugenaussagen nicht genau festgestellt werden konnte, wie hoch denn die Angeklagte eigentlich den Rock gehoben habe. Der Richter ermahnte zum Schlüsse die Angeklagte, beim Heben des Rockes vorsichtiger zu sein.

Hoch der Rock, die Waffen nieder!

 

 

August 1916.


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