Gemeinsamkeit der Systeme Fichtes und Schellings


Was die Reinholdische Ansicht der gemeinschaftlichen Seite beider Systeme betrifft, spekulative Philosophien zu sein, so erscheinen sie dem eigentümlichen Standpunkt Reinholds notwendig als Eigentümlichkeiten und demnach nicht als Philosophien. Wenn es nach Reinhold das wesentlichste Geschäfte, Thema und Prinzip der Philosophie ist, die Realität der Erkenntnis durch Analysis, d. h. durch Trennen zu begründen59), so hat die Spekulation, deren höchste Aufgabe ist, die Trennung in der Identität des Subjekts und Objekts aufzuheben, freilich gar keine Bedeutung, und die wesentlichste Seite eines philosophischen Systems, Spekulation zu sein, kann alsdann nicht in Betracht kommen; es bleibt nichts als eine eigentümliche Ansicht und stärkere oder schwächere Geistesverirrung. So erscheint z. B. Reinhold auch der Materialismus nur von der Seite einer Geistesverirrung, die in Deutschland nicht einheimisch sei60), und er erkennt darin nichts von dem echten philosophischen Bedürfnis, die Entzweiung in der Form von Geist und Materie aufzuheben. Wenn die westliche Lokalität der Bildung, aus der dies System hervorgegangen ist, es aus einem Lande entfernt hält, so ist die Frage, ob diese Entfernung nicht aus einer entgegengesetzten Einseitigkeit der Bildung herstammt; und wenn sein wissenschaftlicher Wert auch ganz gering wäre, so ist zugleich nicht zu verkennen, daß z. B. im Système de la nature61) sich ein an seiner Zeit irregewordener und sich in der Wissenschaft reproduzierender Geist ausspricht, und wie der Gram über den allgemeinen Betrug seiner Zeit, über die bodenlose Zerrüttung der Natur, über die unendliche Lüge, die sich Wahrheit und Recht nannte, — wie der Gram hierüber, der durch das Ganze weht, Kraft genug übrigbehält, um das aus der Erscheinung des Lebens entflohene Absolute sich als Wahrheit mit echt philosophischem Bedürfnis und wahrer Spekulation in einer Wissenschaft zu konstruieren, deren Form in dem lokalen Prinzip des Objektiven erscheint, so wie die deutsche Bildung dagegen sich in die Form des Subjektiven — worunter auch Liebe und Glaube gehört — häufig ohne Spekulation einnistet. — Weil die analytische Seite, da sie auf absoluter Entgegensetzung beruht, an einer Philosophie gerade ihre philosophische Seite, die auf absolute Vereinigung geht, übersehen muß, so kommt es ihr am allersonderbarsten vor, daß Schelling, wie sich Reinhold ausdrückt, die Verbindung des Endlichen und Unendlichen in die Philosophie eingeführt habe, — als ob philosophieren etwas anderes wäre als das Endliche in das Unendliche setzen; — mit anderen Worten: es kommt ihr am sonderbarsten vor, daß in die Philosophie das Philosophieren eingeführt werden soll.

Ebenso übersieht Reinhold im Fichteschen und Schellingschen System nicht nur die spekulative, philosophische Seite überhaupt, sondern er hält es für eine wichtige Entdeckung und Offenbarung, wenn ihm die Prinzipien dieser Philosophie sich in das Allerpartikularste verwandeln und das Allgemeinste, die Identität des Subjekts und Objekts sich für ihn in das Besonderste, nämlich die eigene, individuelle Individualität der Herren Fichte und Schelling62) verwandelt. Wenn Reinhold so vom Berge seines beschränkten Prinzips und seiner eigentümlichen Ansicht in den Abgrund der beschränkten Ansicht dieser Systeme herunterfällt, so ist dies begreiflich und notwendig. Aber zufällig und gehässig ist die Wendung, wenn Reinhold vorläufig im Teutschen Merkur63) und weitläufiger im nächsten Heft der Beiträge64) die Partikularität dieser Systeme aus der Unsittlichkeit erklären wird, und zwar so, daß die Unsittlichkeit in diesen Systemen die Form eines Prinzips und der Philosophie erhalten hätte. Man kann eine solche Wendung eine Erbärmlichkeit, einen Notbehelf der Erbitterung usw., wie man will, nennen und schimpfen; denn so was ist vogelfrei. Allerdings geht eine Philosophie aus ihrem Zeitalter und, wenn man seine Zerrissenheit als eine Unsittlichkeit begreifen will, aus der Unsittlichkeit hervor, — aber um gegen die Zerrüttung des Zeitalters den Menschen aus sich wiederherzustellen und die Totalität, welche die Zeit zerrissen hat, zu erhalten.

 

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59) Reinhold, Beiträge, 1. Heft, S. 1 f., 90

60) Reinhold, Beiträge, 1. Heft, S. 77

61) d'Holbach, Système de la nature, 1770 62) Reinhold, Beiträge, 1. Heft, S. 153

63) Neuer Teutscher Merkur, 1801, Stück 3, S. 167-193

64) *Was, seit dies geschrieben, geschehen ist [vgl. Beiträge, 2. Heft, S. 104 ff.].


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