Verhältnis der Spekulation zum gesunden Menschenverstand


Auch das Vernünftige, was der sogenannte gesunde Menschenverstand weiß, sind gleichfalls Einzelheiten, aus dem Absoluten ins Bewußtsein gezogen, lichte Punkte, die für sich aus der Nacht der Totalität sich erheben, mit denen der Mensch sich vernünftig durchs Leben durchhilft; es sind ihm richtige Standpunkte, von denen er ausgeht und zu denen er zurückkehrt.

Aber wirklich hat auch der Mensch nur solches Zutrauen zu ihrer Wahrheit, weil ihn das Absolute in einem Gefühl dabei begleitet und dies ihnen allein die Bedeutung gibt. Sowie man solche Wahrheiten des gemeinen Menschenverstandes für sich nimmt, sie bloß verständig, als Erkenntnisse überhaupt, isoliert, so erscheinen sie schief und als Halbwahrheiten. Der gesunde Menschenverstand kann durch die Reflexion in Verwirrung gesetzt werden; sowie er sich auf sie einläßt, so macht dasjenige, was er jetzt als Satz für die Reflexion ausspricht, Anspruch, für sich als ein Wissen, als Erkenntnis zu gelten, und er hat seine Kraft aufgegeben, nämlich seine Aussprüche nur durch die dunkle, als Gefühl vorhandene Totalität zu unterstützen und allein mit demselben sich der unsteten Reflexion entgegenzustemmen. Der gesunde Menschenverstand drückt sich wohl für die Reflexion aus, aber seine Aussprüche enthalten nicht auch fürs Bewußtsein ihre Beziehung auf die absolute Totalität, sondern diese bleibt im Innern und unausgedrückt. Die Spekulation versteht deswegen den gesunden Menschenverstand wohl, aber der gesunde Menschenverstand nicht das Tun der Spekulation. Die Spekulation anerkennt als Realität der Erkenntnis nur das Sein der Erkenntnis in der Totalität; alles Bestimmte hat für sie nur Realität und Wahrheit in der erkannten Beziehung aufs Absolute. Sie erkennt deswegen auch das Absolute in demjenigen, was den Aussprüchen des gesunden Menschenverstandes zum Grunde liegt; aber weil für sie die Erkenntnis nur, insofern sie im Absoluten ist, Realität hat, ist vor ihr das Erkannte und Gewußte, wie es für die Reflexion ausgesprochen ist und dadurch eine bestimmte Form hat, zugleich vernichtet. Die relativen Identitäten des gesunden Menschenverstands, die ganz, wie sie erscheinen, in ihrer beschränkten Form auf Absolutheit Anspruch machen, werden Zufälligkeiten für die philosophische Reflexion. Der gesunde Menschenverstand kann es nicht fassen, wie das für ihn unmittelbar Gewisse für die Philosophie zugleich ein Nichts ist; denn er fühlt in seinen unmittelbaren Wahrheiten nur ihre Beziehung aufs Absolute, aber trennt dies Gefühl nicht von ihrer Erscheinung, durch welche sie Beschränkungen sind und doch auch als solche Bestand und absolutes Sein haben sollen, aber vor der Spekulation verschwinden.

Nicht nur aber kann der gesunde Menschenverstand die Spekulation nicht verstehen, sondern er muß sie auch hassen, wenn er von ihr erfährt, und, wenn er nicht in der völligen Indifferenz der Sicherheit ist, sie verabscheuen und verfolgen. Denn wie für den gesunden Menschenverstand die Identität des Wesens und des Zufälligen seiner Aussprüche absolut ist und er die Schranken der Erscheinung nicht von dem Absoluten zu trennen vermag, so ist auch dasjenige, was er in seinem Bewußtsein trennt, absolut entgegengesetzt, und was er als beschränkt erkennt, kann er mit dem Unbeschränkten nicht im Bewußtsein vereinigen; sie sind wohl in ihm identisch, aber diese Identität ist und bleibt ein Inneres, ein Gefühl, ein Unerkanntes und ein Unausgesprochenes. So wie er an das Beschränkte erinnert und es ins Bewußtsein gesetzt wird, so ist für dieses das Unbeschränkte dem Beschränkten absolut entgegengesetzt. Dies Verhältnis oder Beziehung der Beschränktheit auf das Absolute, in welcher Beziehung nur die Entgegensetzung im Bewußtsein, hingegen über die Identität eine völlige Bewußtlosigkeit vorhanden ist, heißt Glaube. Der Glaube drückt nicht das Synthetische des Gefühls oder der Anschauung aus; er ist ein Verhältnis der Reflexion zum Absoluten, welche in diesem Verhältnis zwar Vernunft ist und sich als ein Trennendes und Getrenntes sowie ihre Produkte — ein individuelles Bewußtsein — zwar vernichtet, aber die Form der Trennung noch behalten hat. Die unmittelbare Gewißheit des Glaubens, von der als dem Letzten und Höchsten des Bewußtseins so viel gesprochen worden ist, ist nichts als die Identität selbst, die Vernunft, die sich aber nicht erkennt, sondern vom Bewußtsein der Entgegensetzung begleitet ist. Aber die Spekulation erhebt die dem gesunden Menschenverstand bewußtlose Identität zum Bewußtsein, oder sie konstruiert das im Bewußtsein des gemeinen Verstandes notwendig Entgegengesetzte zur bewußten Identität, und diese Vereinigung des im Glauben Getrennten ist ihm ein Greuel. Weil das Heilige und Göttliche in seinem Bewußtsein nur als Objekt besteht, so erblickt er in der aufgehobenen Entgegensetzung, in der Identität fürs Bewußtsein nur Zerstörung des Göttlichen.

Besonders muß aber der gemeine Menschenverstand nichts als Vernichtung in denjenigen philosophischen Systemen erblicken, welche die Forderung der bewußten Identität in einer solchen Aufhebung der Entzweiung befriedigen, wodurch eins der Entgegengesetzten, besonders wenn ein solches durch die Bildung der Zeit sonst fixiert ist, zum Absoluten erhoben und das andere vernichtet wird. Hier hat wohl die Spekulation als Philosophie die Entgegensetzung aufgehoben, aber als System ein seiner gewöhnlichen bekannten Form nach Beschränktes zum Absoluten erhoben. Die einzige Seite, die hierbei in Betracht kommt, nämlich die spekulative, ist für den gemeinen Menschenverstand gar nicht vorhanden; von dieser spekulativen Seite ist das Beschränkte ein ganz anderes, als es dem gemeinen Menschenverstand erscheint; dadurch nämlich, daß es zum Absoluten erhoben worden ist, ist es nicht mehr dies Beschränkte. Die Materie des Materialisten oder das Ich des Idealisten ist jene nicht mehr die tote Materie, die ein Leben zur Entgegensetzung und Bildung hat, — dieses nicht mehr das empirische Bewußtsein, das als ein beschränktes ein Unendliches außer sich setzen muß. Die Frage gehört der Philosophie an, ob das System die endliche Erscheinung, die es zum Unendlichen steigerte, in Wahrheit von aller Endlichkeit gereinigt hat, — ob die Spekulation, in ihrer größten Entfernung vom gemeinen Menschenverstande und seinem Fixieren Entgegengesetzter, nicht dem Schicksal ihrer Zeit unterlegen ist, eine Form des Absoluten, also ein seinem Wesen nach Entgegengesetztes absolut gesetzt zu haben. Hat die Spekulation das Endliche, das sie unendlich machte, wirklich von allen Formen der Erscheinung befreit, so ist es der Name zunächst, an dem sich hier der gemeine Menschenverstand stößt, wenn er sonst vom spekulativen Geschäfte keine Notiz nimmt. Wenn die Spekulation die Endlichen nur der Tat nach zum Unendlichen steigert und dadurch vernichtet — und Materie, Ich, insofern sie die Totalität umfassen sollen, sind nicht mehr Ich, nicht mehr Materie —, so fehlt zwar der letzte Akt der philosophischen Reflexion, nämlich das Bewußtsein über ihre Vernichtung, und wenn auch, dieser der Tat nach geschehenen Vernichtung ungeachtet, das Absolute des Systems noch eine bestimmte Form behalten hat, so ist wenigstens die echt spekulative Tendenz nicht zu verkennen, von der aber der gemeine Menschenverstand nichts versteht. Indem er nicht einmal das philosophische Prinzip, die Entzweiung aufzuheben, sondern nur das systematische Prinzip erblickt, eins der Entgegengesetzten zum Absoluten erhoben und das andere vernichtet findet, so war auf seiner Seite noch ein Vorteil in Rücksicht auf die Entzweiung; in ihm sowie im System ist eine absolute Entgegensetzung vorhanden, aber er hatte doch die Vollständigkeit der Entgegensetzung und wird doppelt geärgert. — Sonst kommt einem solchen philosophischen System, dem der Mangel anklebt, ein von irgendeiner Seite noch Entgegengesetztes zum Absoluten zu erheben, außer seiner philosophischen Seite noch ein Vorteil und Verdienst zu, von denen der gemeine Verstand nicht nur nichts begreift, sondern die er auch verabscheuen muß, — der Vorteil, durch die Erhebung eines Endlichen zum unendlichen Prinzip die ganze Masse von Endlichkeiten, die am entgegengesetzten Prinzip hängt, mit einem Mal niedergeschlagen zu haben, das Verdienst in Rücksicht auf die Bildung, die Entzweiung um so härter gemacht und das Bedürfnis der Vereinigung in der Totalität um so viel verstärkt zu haben.

Die Hartnäckigkeit des gesunden Menschenverstandes, sich in der Kraft seiner Trägheit das Bewußtlose in seiner ursprünglichen Schwere und Entgegensetzung gegen das Bewußtsein, die Materie gegen die Differenz gesichert zu halten, die das Licht nur darum in sie bringt, um sie in einer höheren Potenz wieder zur Synthese zu konstruieren, — erfordert wohl unter nördlichen Klimaten eine längere Zeitperiode, um vor der Hand nur so weit überwunden zu werden, daß die atomistische Materie selbst mannigfaltiger, die Trägheit zunächst durch ein mannigfaltigeres Kombinieren und Zersetzen derselben und durch die hiermit erzeugte größere Menge fixer Atome in eine Bewegung auf ihrem Boden versetzt wird, so daß der Menschenverstand in seinem verständigen Treiben und Wissen sich immer mehr verwirrt, bis er sich fähig macht, die Aufhebung dieser Verwirrung und der Entgegensetzung selbst zu ertragen.

Wenn für den gesunden Menschenverstand nur die vernichtende Seite der Spekulation erscheint, so erscheint ihm auch dies Vernichten nicht in seinem ganzen Umfang. Wenn er diesen Umfang fassen könnte, so hielte er sie nicht für seine Gegnerin; denn die Spekulation fordert in ihrer höchsten Synthese des Bewußten und Bewußtlosen auch die Vernichtung des Bewußtseins selbst, und die Vernunft versenkt damit ihr Reflektieren der absoluten Identität und ihr Wissen und sich selbst in ihren eigenen Abgrund, und in dieser Nacht der bloßen Reflexion und des räsonierenden Verstandes, die der Mittag des Lebens ist, können sich beide begegnen.


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