Sittenlehre und Naturrecht


Die Sittenlehre hat mit dem Naturrecht gemein, daß die Idee den Trieb, die Freiheit die Natur absolut beherrsche; sie unterscheiden sich aber darin, daß im Naturrecht die Botmäßigkeit freier Wesen unter dem Begriff überhaupt absoluter Selbstzweck ist, so daß das fixierte Abstraktum des gemeinsamen Willens auch außer dem Individuum stehe und Gewalt über dasselbe habe. In der Sittenlehre muß der Begriff und die Natur in einer und ebenderselben Person vereinigt gesetzt werden; im Staat soll nur das Recht herrschen, im Reiche der Sittlichkeit soll die Pflicht nur Macht haben, insofern sie von der Vernunft des Individuums als Gesetz anerkannt wird.

Sein eigener Herr und Knecht zu sein, scheint zwar einen Vorzug vor dem Zustande zu haben, worin der Mensch der Knecht eines Fremden ist. Allein das Verhältnis der Freiheit und der Natur, wenn es in der Sittlichkeit eine subjektive Herrschaft und Knechtschaft, eine eigene Unterdrückung der Natur werden soll, wird viel unnatürlicher als das Verhältnis im Naturrecht, in welchem das Gebietende und Machthabende als ein Anderes, außer dem lebendigen Individuum Befindliches erscheint. Das Lebendige hat in diesem Verhältnisse immer noch eine in sich selbst geschlossene Selbständigkeit; was nicht einig in ihm ist, schließt es von sich aus; das Widerstreitende ist eine fremde Macht. Und wenn auch der Glaube an die Einigkeit des Inneren mit dem Äußeren wegfällt, so kann doch der Glaube an seine innere Übereinstimmung, eine Identität als Charakter bestehen; die innere Natur ist sich treu. Wenn aber in der Sittenlehre das Gebietende in den Menschen selbst verlegt und in ihm ein Gebietendes und ein Botmäßiges absolut entgegengesetzt ist, so ist die innere Harmonie zerstört; Uneinigkeit und absolute Entzweiung machen das Wesen des Menschen aus. Er hat nach einer Einheit zu suchen, aber bei zugrundeliegender absoluter Nichtidentität bleibt ihm nur eine formale Einheit übrig.

Die formale Einheit des Begriffs, der herrschen soll, und die Mannigfaltigkeit der Natur widersprechen sich, und das Gedränge zwischen beiden zeigt bald einen bedeutenden Übelstand. Der formale Begriff soll herrschen; aber er ist ein Leeres und muß durch Beziehung auf den Trieb erfüllt werden, und so entsteht eine unendliche Menge von Möglichkeiten, zu handeln. Erhält aber die Wissenschaft ihn in seiner Einheit, so hat sie durch einen solchen leeren, formalen Grundsatz nichts geleistet. — Ich soll sich selbst bestimmen nach der Idee der absoluten Selbsttätigkeit, die objektive Welt aufzuheben, soll auf das objektive Ich Kausalität haben, kommt also mit ihm in Beziehung; der sittliche Trieb wird ein gemischter41) und dadurch ein so Mannigfaltiges, als der objektive Trieb selbst ist, woraus denn eine große Mannigfaltigkeit von Pflichten hervorgeht. Sie kann sehr gemindert werden, wenn man, wie Fichte, bei der Allgemeinheit der Begriffe stehenbleibt; aber dann hat man wieder nur formale Grundsätze. Die Entgegensetzung der mannigfaltigen Pflichten kommt unter dem Namen von Kollisionen vor und führt einen bedeutenden Widerspruch mit sich. Wenn die deduzierten Pflichten absolut sind, so können sie nicht kollidieren; aber sie kollidieren notwendig, weil sie entgegengesetzt sind; um ihrer gleichen Absolutheit willen ist Wahl möglich und wegen der Kollision notwendig; es ist nichts vorhanden, das entscheide, als die Willkür. Sollte keine Willkür statthaben, so müßten die Pflichten nicht auf gleichem Range der Absolutheit stehen; eine müßte, wie man nun sprechen muß, absoluter sein als die andere, was dem Begriffe widerspricht, da jede Pflicht als Pflicht absolut ist. Weil denn aber bei dieser Kollision doch gehandelt, also die Absolutheit aufgegeben und eine Pflicht der anderen vorgezogen werden muß, so kommt jetzt, damit eine Selbstbestimmung erfolgen könne, alles darauf an, durch die Beurteilung den Vorzug des einen Pflichtbegriffs vor dem anderen auszumitteln und unter den bedingten Pflichten nach bester Einsicht zu wählen. Wenn die Willkür und das Zufällige der Neigungen in der Selbstbestimmung der Freiheit durch den höchsten Begriff ausgeschlossen wird, so geht die Selbstbestimmung nunmehr in die Zufälligkeit der Einsicht und damit in die Bewußtlosigkeit dessen, wodurch eine zufällige Einsicht entschieden wird, über. Man sieht, wenn Kant in seiner Sittenlehre jeder als absolut aufgestellten Pflicht kasuistische Fragen zugibt und man nicht glauben will, daß er damit eigentlich über die Absolutheit der aufgestellten Pflicht seinen Spott habe treiben wollen, so muß angenommen werden, daß er vielmehr auf die Notwendigkeit einer Kasuistik für die Sittenlehre hingedeutet habe und damit auf die Notwendigkeit, sich seiner eigenen Einsicht, die ja etwas durchaus Zufälliges ist, nicht anzuvertrauen. Die Zufälligkeit ist es allein, die durch eine Sittenlehre aufgehoben werden soll; die Zufälligkeit der Neigungen in die Zufälligkeit der Einsicht [zu] verwandeln, kann den sittlichen Trieb, der auf Notwendigkeit geht, nicht befriedigen.

In solchen Systemen der Sittenlehre und des Naturrechts ist bei der fixen, absoluten Polarität der Freiheit und Notwendigkeit an keine Synthese und an keinen Indifferenzpunkt zu denken; die Transzendentalität geht in der Erscheinung und ihrem Vermögen dem Verstande völlig verloren; die absolute Identität findet sich nicht und stellt sich in ihr nicht her. Die Entgegensetzung bleibt auch in der Beschönigung des unendlichen Progresses absolut fixiert; sie kann sich weder für das Individuum in den Indifferenzpunkt der Schönheit des Gemüts und des Werks noch für die vollständige lebendige Gemeinschaft der Individuen in eine Gemeinde wahrhaft auflösen.

Zwar spricht auch Fichte, wo er unter den Pflichten der verschiedenen Stände auch auf die Pflichten des ästhetischen Künstlers als auf eines der letzten Anhängsel der Moral zu reden kommt, von dem ästhetischen Sinne als einem Vereinigungsband zwischen Verstand und Herz, und weil der Künstler weder an den Verstand allein, wie der Gelehrte, noch ans Herz allein, wie der Volkslehrer, sondern an das ganze Gemüt in Vereinigung seiner Vermögen sich wendet42), schreibt er dem ästhetischen Künstler und der ästhetischen Bildung eine höchst wirksame Beziehung auf die Beförderung des Vernunftzwecks zu43).

Außerdem, daß man nicht begreift, wie in der Wissenschaft, die auf absoluter Entgegensetzung wie dies System der Sittenlehre beruht, von einem Vereinigungsbande des Verstands und des Herzens, von der Ganzheit des Gemüts die Rede sein kann — denn absolute Bestimmung der Natur nach einem Begriff ist die absolute Beherrschung des Herzens durch den Verstand, die durch die aufgehobene Vereinigung bedingt ist -, so zeigt schon die ganz subalterne Stellung, in welcher die ästhetische Bildung auftritt, wie wenig überhaupt zur Vollendung des Systems auf sie gerechnet sei. Die Kunst wird dahin verwiesen, eine höchst wirksame Beziehung auf die Beförderung des Vernunftzwecks zu haben, indem sie der Moralität den Boden bereite, so daß, wenn die Moralität eintritt, sie schon die halbe Arbeit getan findet, nämlich die Befreiung aus den Banden der Sinnlichkeit.

 

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41) Fichte, Sittenlehre, SW, Bd. IV, S. 152

42) Fichte, Sittenlehre, SW, Bd. IV, S. 353

43) Fichte, Sittenlehre, SW, Bd. IV, S. 355


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