Vorerinnerung
Aus den wenigen öffentlichen Äußerungen, in welchen man ein Gefühl der Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie erkennt, leuchtet mehr das Bestreben heraus, diese Verschiedenheit zu umgehen oder sie sich zu verbergen, als eine Deutlichkeit des Bewußtseins darüber. Weder die unmittelbare Ansicht beider Systeme, wie sie vor dem Publikum liegen, noch unter anderen die Schellingsche Beantwortung der idealistischen Einwürfe Eschenmayers1) gegen die Naturphilosophie hat jene Verschiedenheit zur Sprache gebracht. Im Gegenteil hat z. B. Reinhold2) so wenig eine Ahnung hierüber gehabt, daß vielmehr die einmal für bekannt angenommene völlige Identität beider Systeme ihm den Gesichtspunkt für das Schellingsche System auch hierüber verrückt hat. Diese Reinholdische Verwirrung ist (mehr als die gedrohte — oder vielmehr schon als geschehen angekündigte - Revolution der Philosophie durch ihre Zurückführung auf Logik) die Veranlassung der folgenden Abhandlung. Die Kantische Philosophie hatte es bedurft, daß ihr Geist vom Buchstaben geschieden und das rein spekulative Prinzip aus dem Übrigen herausgehoben wurde, was der räsonierenden Reflexion angehörte oder für sie benutzt werden konnte. In dem Prinzip der Deduktion der Kategorien ist diese Philosophie echter Idealismus, und dies Prinzip ist es, was Fichte in reiner und strenger Form herausgehoben und den Geist der Kantischen Philosophie genannt hat. Daß die Dinge an sich (wodurch nichts als die leere Form der Entgegensetzung objektiv ausgedrückt ist) wieder hypostasiert und als absolute Objektivität, wie die Dinge des Dogmatikers, gesetzt, — daß die Kategorien selbst teils zu ruhenden toten Fächern der Intelligenz, teils zu den höchsten Prinzipien gemacht worden sind, vermittels welcher der Ausdruck, in dem das Absolute selbst ausgesprochen wird, wie z. B. die Substanz des Spinoza, vernichtet werden und somit das negative Räsonieren sich nach wie vor an die Stelle des Philosophierens, nur mit mehr Prätention unter dem Namen kritischer Philosophie, setzen konnte, — diese Umstände liegen höchstens in der Form der Kantischen Deduktion der Kategorien, nicht in ihrem Prinzip oder Geist; und wenn wir von Kant sonst kein Stück seiner Philosophie hätten als dieses, würde jene Verwandlung fast unbegreiflich sein. In jener Deduktion der Verstandesformen ist das Prinzip der Spekulation, die Identität des Subjekts und Objekts, aufs bestimmteste ausgesprochen; diese Theorie des Verstandes ist von der Vernunft über die Taufe gehalten worden. — Hingegen wenn nun Kant diese Identität selbst, als Vernunft, zum Gegenstand der philosophischen Reflexion macht, verschwindet die Identität bei sich selbst; wenn der Verstand mit Vernunft behandelt worden war, wird dagegen die Vernunft mit Verstand behandelt. Hier wird es deutlich, auf welcher untergeordneten Stufe die Identität des Subjekts und Objekts aufgefaßt worden war. Die Identität des Subjekts und Objekts schränkt sich auf zwölf oder vielmehr nur auf neun reine Denktätigkeiten ein, denn die Modalität gibt keine wahrhaft objektive Bestimmung; es besteht in ihr wesentlich die Nichtidentität des Subjekts und Objekts. Es bleibt außer den objektiven Bestimmungen durch die Kategorien ein ungeheures empirisches Reich der Sinnlichkeit und Wahrnehmung, eine absolute Aposteriorität, für welche keine Apriorität als nur eine subjektive Maxime der reflektierenden Urteilskraft aufgezeigt ist; d. h. die Nichtidentität wird zum absoluten Grundsatz erhoben. Wie es nicht anders [sein] konnte, nachdem aus der Idee, dem Vernunftprodukt, die Identität, d. h. das Vernünftige weggenommen und sie dem Sein absolut entgegengesetzt, — nachdem die Vernunft als praktisches Vermögen, nicht als absolute Identität, sondern in unendlicher Entgegensetzung, als Vermögen der reinen Verstandeseinheit dargestellt worden war, wie sie vom endlichen Denken, d. i. vom Verstande gedacht werden muß. Es entsteht hierdurch das kontrastierende Resultat, daß für den Verstand keine absoluten objektiven Bestimmungen, hingegen für die Vernunft vorhanden sind.
Das reine Denken seiner selbst, die Identität des Subjekts und des Objekts, in der Form Ich = Ich ist Prinzip des Fichteschen Systems, und wenn man sich unmittelbar an dieses Prinzip sowie in der Kantischen Philosophie an das transzendentale Prinzip, welches der Deduktion der Kategorien zum Grunde liegt, allein hält, so hat man das kühn ausgesprochene echte Prinzip der Spekulation. Sowie aber die Spekulation aus dem Begriff, den sie von sich selbst aufstellt, heraustritt und sich zum System bildet, so verläßt sie sich und ihr Prinzip und kommt nicht in dasselbe zurück. Sie übergibt die Vernunft dem Verstand und geht in die Kette der Endlichkeiten des Bewußtseins über, aus welchen sie sich zur Identität und zur wahren Unendlichkeit nicht wieder rekonstruiert. Das Prinzip selbst, die transzendentale Anschauung erhält hierdurch die schiefe Stellung eines Entgegengesetzten gegen die aus ihm deduzierte Mannigfaltigkeit. Das Absolute des Systems zeigt sich nur in der Form seiner Erscheinung von der philosophischen Reflexion aufgefaßt, und diese Bestimmtheit, die durch Reflexion ihm gegeben ist, also die Endlichkeit und Entgegensetzung wird nicht abgezogen. Das Prinzip, das Subjekt-Objekt erweist sich als ein subjektives Subjekt-Objekt. Das aus ihm Deduzierte erhält hierdurch die Form einer Bedingung des reinen Bewußtseins, des Ich = Ich, und das reine Bewußtsein selbst die Form eines bedingten durch eine objektive Unendlichkeit, den Zeit-Progreß in infinitum, in dem die transzendentale Anschauung sich verliert und Ich nicht zur absoluten Selbstanschauung sich konstituiert, also Ich = Ich sich in das Prinzip: Ich soll gleich Ich sein, verwandelt. Die in die absolute Entgegensetzung gesetzte, also zum Verstand herabpotenzierte Vernunft wird somit Prinzip der Gestalten, die das Absolute sich geben muß, und ihrer Wissenschaften.
Diese zwei Seiten des Fichteschen Systems — die eine, nach welcher es den Begriff der Vernunft und der Spekulation rein aufgestellt, also Philosophie möglich machte, die andere, nach welcher es Vernunft und reines Bewußtsein als eines gesetzt und die in einer endlichen Gestalt aufgefaßte Vernunft zum Prinzip erhob —, diese zwei Seiten unterscheiden zu müssen, muß sich als innere Notwendigkeit der Sache selbst zeigen. Die äußere Veranlassung gibt das Zeitbedürfnis und zunächst die in diesem Zeitbedürfnisse schwimmenden Beiträge Reinholds zur Übersicht des Zustands der Philosophie zu Anfang des neuen Jahrhunderts, in welchen sowohl die Seite, von welcher das Fichtesche System echte Spekulation und also Philosophie ist, übersehen worden als auch die Seite des Schellingschen Systems, von welcher dieses sich vom Fichteschen unterscheidet und dem subjektiven Subjektobjekt das objektive Subjektobjekt in der Naturphilosophie entgegenstellt und beide in einem Höheren, als das Subjekt ist, vereinigt darstellt.
Was das Zeitbedürfnis betrifft, so hat die Fichtesche Philosophie so sehr Aufsehen und Epoche gemacht, daß auch diejenigen, die sich gegen sie erklären und sich bestreben, eigene spekulative Systeme auf die Bahn zu bringen, nur trüber und unreiner in das Prinzip der Fichteschen Philosophie fallen und sich dessen nicht zu erwehren vermögen. Die nächste sich darbietende Erscheinung bei einem epochemachenden System sind die Mißverständnisse und das ungeschickte Benehmen seiner Gegner. Wenn man von einem System sagen kann, daß es Glück gemacht habe, so hat sich ein allgemeineres Bedürfnis der Philosophie, das sich für sich selbst nicht zur Philosophie zu gebären vermag — denn damit hätte es sich durch das Schaffen eines Systems befriedigt —, mit einer instinktartigen Hinneigung zu demselben gewendet; und der Schein der passiven Aufnahme rührt daher, daß im Innern das vorhanden ist, was das System ausspricht, welches nunmehr jeder in seiner wissenschaftlichen oder lebendigen Sphäre geltend macht. Man kann vom Fichteschen System in diesem Sinne nicht sagen, daß es Glück gemacht habe. Soviel davon den unphilosophischen Tendenzen des Zeitalters zur Last fällt, sosehr ist zugleich, je mehr der Verstand und die Nützlichkeit sich Gewicht zu verschaffen und beschränkte Zwecke sich geltend zu machen wissen, in Anschlag zu bringen, daß um so kräftiger das Drängen des besseren Geistes besonders in der unbefangeneren, noch jugendlichen Welt ist. Wenn Erscheinungen wie die Reden über die Religion3) das spekulative Bedürfnis nicht unmittelbar angehen, so deuten sie und ihre Aufnahme, noch mehr aber die Würde, welche, mit dunklerem oder bewußterem Gefühl, Poesie und Kunst überhaupt in ihrem wahren Umfange zu erhalten anfängt, auf das Bedürfnis nach einer Philosophie hin, von welcher die Natur für die Mißhandlungen, die sie in dem Kantischen und Fichteschen Systeme leidet, versöhnt und die Vernunft selbst in eine Übereinstimmung mit der Natur gesetzt wird, — nicht in eine solche, worin sie auf sich Verzicht tut oder eine schale Nachahmerin derselben werden müßte, sondern eine Einstimmung dadurch, daß sie sich selbst zur Natur aus innerer Kraft gestaltet.
Was die allgemeinen Reflexionen, womit diese Schrift anfängt, über Bedürfnis, Voraussetzung, Grundsätze usw. der Philosophie betrifft, so haben sie den Fehler, allgemeine Reflexionen zu sein, und ihre Veranlassung darin, daß mit solchen Formen als Voraussetzung, Grundsätzen usw. der Eingang in die Philosophie noch immer übersponnen und verdeckt wird und es daher in gewissem Grade nötig ist, sich darauf einzulassen, bis einmal durchaus nur von der Philosophie selbst die Rede ist. Einige der interessanteren dieser Gegenstände werden sonst noch eine größere Ausführung erhalten.
Jena, im Juli 1801.
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1) Karl A. Eschenmayer, 1768-1852, Naturphilosoph
2) C. L. Reinhold, Beiträge zur leichteren Übersicht des Zustandes der Philosophie beim Anfange des 19. Jahrhunderts, Hamburg, Heft 1 und 2: 1801, Heft 3: 1802
3) Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799