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Was ist ein »mittlerer« Franzose?

Paris, Ende August

Als Herr Herriot von London zurückkam, schrieb er einen offenen Brief an den »mittleren Franzosen«, um seine demokratische Politik zu erklären und zu verteidigen. Tags darauf antwortete ihm Henry de Jouvenel im Namen dieses »mittleren Franzosen«, drückte einigen Zweifel aus und bat um weitere Erläuterungen. Ich glaube nicht, dass der hochvermögende Senator, Chefredakteur des Matin und Völkerbunddelegierter, ganz besonders geeignet ist, den »mittleren Franzosen« zu repräsentieren, und alle Leute, mit denen ich mich unterhalten konnte, teilen diese Meinung. Die Frage bleibt also offen: Was nennt man einen mittleren Franzosen? Die sofort eingeleitete Untersuchung – im ferienverödeten Paris ist man auf solche Happen bissig – hat bis jetzt folgendes Ergebnis gehabt:

Der »mittlere Franzose« bewohnt Paris.

Er ist vierzig Jahre alt, hat einen kleinen Bauch und nach der Mahlzeit ein gerötetes Gesicht.

Er ißt viel Brot und raucht gewöhnlichen Regietabak.

Er hat seit einiger Zeit die Tendenz, von der Zigarette zur Pfeife überzugehen.

Er ist dekoriert und steht auf der Liste der nächsten Ordensverteilungen.

Er hat sich mit 27 Jahren verheiratet; seine Frau brachte eine ansehnliche Mitgift in die Ehe.

Er hat zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen. Der Junge wird Ingenieur, das Mädel lernt Klavier und Englisch.

Er besitzt Relationen im Ministerium und steht mit einem Deputierten per Du.

Jeden Samstag geht er mit seiner Familie ins Kino; er will keine Filme in Fortsetzungen mehr sehen.

Wenn er Vorzugsbillette erhält, geht er auch ins Theater.

Er hat sein Büro im Zentrum und wohnt an der Peripherie. Mit seiner »Concierge« steht er schlecht. Er sucht eine andere Wohnung.

Er hat für das laufende Jahr noch keine Steuern bezahlt und schimpft bei seinen Bekannten über die unerschwinglichen Steuern, die der Staat von ihm verlangt.

Er kauft jeden Morgen in einem bestimmten Kiosk »seine« Zeitung und schaut mit Verachtung auf seinen Vorgänger, der ein anderes Blatt kaufte.

Seine Gattin sucht eine Putzfrau.

Am Tage des »Grand Prix« fährt er mit Weib und Kind hinaus und setzt fünf Francs »gagnant et placé« auf das Pferd, das ihm seine Zeitung nannte. Wenn er verliert, beschuldigt er den Jockei und die Richter und wird ganz wild, so dass ihn schließlich ein »flic« zur Ruhe mahnen muß.

Er hat jedes Jahr vierzehn Tage Ferien, die er bei seiner Schwiegermutter unter beständigem Streit auf dem Lande verlebt.

Er ist der Ansicht, dass es noch nie einen solchen Sommer gegeben hat wie diesen, und beklagt die Leute, die ans Meer gefahren sind.

Des Morgens reinigt er die Schuhe und geht Brot und Milch holen.

Er hat ein Bein, das ihn schmerzt, sobald die Witterung sich ändert.

Er hat Frankreich nie verlassen und begreift nicht, warum die Züge über die Grenzen fahren.

Er ist davon überzeugt, dass die Engländer ein hinterlistiges Volk und die Deutschen noch nicht ganz zivilisiert sind. Beiden tut man jedenfalls gut aus dem Wege zu gehen.

Er hat noch nie besseres Gebäck gegessen als das, was seine Frau selber zubereitet.

Er verliert jedes Jahr einen Regenschirm und kauft sich nach sechs Monaten einen neuen, den er sofort gegen einen alten eintauscht.

Er spielt »Manille« und Dame. Morgens, wenn er sich anzieht, pfeift er einen Regimentsmarsch und das Lied: »Steig hinauf, und du wirst Montmartre sehen.«

Das alles sind die untrüglichen Merkmale des »mittleren Franzosen«. Es wäre nun recht interessant, die des »mittleren Deutschen« und des »man in the street« daneben zu setzen. Vielleicht ergäbe sich daraus, dass sie alle drei geschaffen sind, sich gegenseitig wie die beiden Löwen bis zum Schwanzzipfel aufzufressen. Vielleicht aber auch nicht …

Peter Panter
Vossische Zeitung, 29.08.1924.