Um neune ist alles aus
Mein alter Freund Franz Erich Xaver Gl. sagte neulich: »In Berlin ist das so. Wenn das Sechstagerennen auf seinem Höhepunkt angelangt ist, sind die Leute gar nicht zu halten – am sechsten Tage fallen sie vor Aufregung aus der Loge. Und dann – dann war überhaupt kein Sechstagerennen!«
Das ist sehr wahr. Hier war überhaupt kein Sechstagerennen.
Eine Zeitlang war es die Börse – da las alles den Kurszettel. Dann war es die Politik – da brachten sich die Leute um, wenn sie mal keinen umgebracht hatten. Früher war es das Theater – da hatte jeder seine Premiere im Topf. Dann wars die Ruhr. Im Augenblick ist es gar nichts.
Ich habe früher gelernt, dass die sinnlichen Wahrnehmungen in den Windungen des Gehirns Eindrücke hinterlassen, den Furchungen des Grammophonstifts vergleichbar. Da müssen hier seltsame Gehirne sein – denn von Eindrücken ist nichts zu spüren. Ist zu viel darauf geschrieben worden?
Sie haben alles vergessen. Vergessen philosophische Lehren, Grundsätze, Erfahrungen, vergessen Niederlagen und ihre Gründe, falsche Siege und ihre Aufmachung, vergessen Haltungen und Predigten und verdorrte Hände, vergessen Morde und pensionsberechtigte Villenbesitzer (Villa »Zur fröhlichen Verantwortung«) – vergessen, vergessen. Als ob es nie gewesen wäre.
Es ist auch nicht üblich, darauf hinzuweisen, dass früher jemand das Gegenteil von dem geschrieben, gesagt, gelebt habe, was er heute … »Na, dann macht ers eben jetzt so! Ändert sich das Wetter nicht auch?«
Es ändert sich. Hier ist das ganze Jahr April.
Und die Leute greinen, wenns regnet, und grienen, wenn die Sonne scheint, fürchten sich vor dem Gewitter und klappen den Kragen hoch bei Schneegestöber. Und nehmen das Wetter hin als eine von Gott geschickte Fügung.
Und wenns aus ist, haben sie alles vergessen. Vier Jahre Krieg? Vier Jahre Nachkrieg? Hier ist nie Sechstagerennen gewesen.
Peter Panter
Die Weltbühne, 05.04.1923, Nr. 14, S. 405.