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Dans la rue

Wenn wir alten Pariser so durch die Straßen schlendern, da gibt es schon allerhand zu sehen.

Vor einer Tür sitzt eine kleine gelbe Katze mit einer Brille auf der Nase; ein Optiker hat sie ihr aufgesetzt; die Leute bleiben stehen und lachen. Die Katze sieht regungslos in die Sonne. Ein alter Mann in einem Torbogen hat sich eine Flöte ins Nasenloch gesteckt und spielt so ein herrliches Stücklein, mit dem Mund holt er Atem. Ein Neger fragt in bravem Französisch, wo hier die nächste Metrostation sei. Unten, am Steinbord, unterhalb der Brücke, sitzt ein Mann und läßt die Beine in die Seine hängen, wahrscheinlich des Reimes wegen. Die Stiefel hat er ausgezogen, er liest ein Buch, und das gute Seinewasser umspielt mild seine hornigen Füße. Niemand kümmert sich um ihn – niemand kümmert sich um niemand.

Das ist eine Stadt, die alles schon gehabt hat. Du kannst hier in wildem Indianerhut und blau angestrichener Kehrseite durch die Straßen wandeln, auch nicht ein Mensch dreht sich nach dir herum. Vielleicht, dass einer sagen würde: »Sieh an: ein Volksstamm, der sich die Kehrseite blau anmalt – also das gibt es.« Aber das wäre auch alles. Und es ist gut so.

Straßen und Straßen – und jede anders, und jede neu. Von den Türmen aus sieht das kleiner aus als Berlin, und ist es der räumlichen Ausdehnung nach auch. Aber die Oranien-Straße ist in einer halben Stunde ganz zu erledigen – hier kommt man aus manchen kleinen Straßen von zweihundert Metern überhaupt nicht mehr heraus. Ein Haus hat eine kleine Eingangstür, dann kommt ein Gang, und dahinter ein riesiger Hof, ein Hof so groß wie eine Reitbahn. Ein Hausflur steht voll Gerümpel, es wird verkauft. Ein Haus sperrt alle Fenstermünder auf, die es hat, sperrangelweit, und du siehst einen Querschnitt durch das französische Familienleben. Da steht ein feines Haus, mit den hohen schmalen Fensterläden und verschnörkelten Gittern davor. Unter Bäumen fährt eine kleine elektrische Eisenbahn, mit Wagen, die das Witzblatt Merle blanc »saloping-care« getauft hat. Und überall flattert ein braunes Tuch, eine Flache, eine Marquise, und überall stehen Stühle und Tische auf der Straße – da gibt es etwas zu essen, Wein zu trinken (der heute öfter aus Algier ist als früher, wegen billig) – und alle tun so, als ob sie zu Hause wären. Alle sind zu Hause.

So sieht das aus, wenn man an den Häusern vorbeigeht. Es ist eine schöne Stadt. Nur das mit dem Telefon – das ist, wie wir alten Pariser sagen, Scheibenkleister. Aber vielleicht kenne ich das Telefon und die ganze Stadt noch gar nicht richtig. Denn in zivilisierten Ländern ist das so: um sie ganz und gar richtig zu kennen, muß man mit den Frauen freundlich sein und mit den Männern Geschäfte machen. Ich habe keine Geschäfte in Frankreich.

Peter Panter
Die Weltbühne, 12.06.1924, Nr. 24, S. 830.