»Sie werden am Apparat verlangt –!«
Manchmal, mitten im Gebrodel der Bureauarbeit, klingelt das Telefon. Vor Eifer glühend, springt jemand heran. Und sagt dann, enttäuscht, mit etwas beleidigter Stimme zu seinem Kollegen: »Sie werden mal am Apparat verlangt!« Und der geht dann hin. Er geht frohbeschwingt, ein bißchen vorsichtig, weil es ja »privat« ist – und doch auch etwas stolz. Denn dieses hier gehört nicht zum Geschäft. Man wird es gleich sehen. Er nimmt den Hörer und meldet sich mit leiserer Stimme, als er sonst wohl zu sprechen pflegt. »Ja –?« sagt er. Der andere antwortet – und es verklärt sich sein Gesicht. Du kannst sofort sehen, ob es ein Freund oder »sie« ist, die da angerufen hat. Bei einem Freund werden die Züge ein wenig schlaff, so: Guten Morgen, alter Junge – na, wie gehts denn? – Ist »sie« es aber – dann ändert sich das ganze Bild. Im Gesicht des Telefonierenden kämpft die Liebe und der angstvolle Wunsch, sich hier, im Betriebe, nicht zu verraten und nicht zu blamieren. Er spricht ganz leise. Um ihn herum dröhnt die Arbeit, klappern die Schreibmaschinen, schreien mit erregter Stimme die Abteilungsvorsteher ihre Weisungen durch den Raum, klappen die Türen. Am Telefon geht es ganz leise zu. »Ja – um vier. Warum kannst du nicht? Deswegen? Sag doch Elisen, sie soll später kommen! Nein! Na, du weißt doch, wo wir nachher hingehen! Na – höre mal? Was heißt: erst neulich! Deine Mutter geht das gar nichts an! Na, sprich doch nicht drüber! – Das verstehe ich nicht! Na, hör doch mal!« (Die Angeredete hat offenbar in der Hitze des Gesprächs ihren Namen verloren – denn den gibt es nicht.) »Na – höre mal! Du kommst um elf an die Untergrundbahn, ja, wie immer – und dann haben wir noch vier Stunden Zeit! Natürlich bist du dann zu Hause! Na, wenn ich dir sage –!« In den Augen des Sprechenden wird es fröhlich und hell. Aber mit dem einen Augenwinkel hat er doch schnell alle Türen abgeguckt, wer da hereinkommt, und ob auch keiner zuhört, wenn er hier solche Vorbereitungen zur Abfahrt nach Cythere-Zehlendorf trifft. Nein, die Luft ist rein. Und er girrt und balzt. Ganz leise. »Wenn du die Sprache verloren hast, kann sie bloß bei mir sein. Dann werden wir sie schon wiederfinden. Natürlich sage ich Bescheid. Nein – ich habe nachgesehen – da liegt sie auch nicht. Da kann überhaupt nichts hinfallen … !«
Aber jetzt geschieht ein kleines Malheur. Der Personalchef ist höchstpersönlich in den Raum eingezogen. Mit einem Blick sieht er alles: die Stulle auf dem Hauptbuch, einen leeren Platz. Asche unter einem Stuhl – und am Telefon, was ist das? Da ist wohl nichts. Denn da steht unser Mann, macht ein tierisch ernstes Gesicht und murmelt: »Na ja – denn auf Wiedersehen!« Und hängt ab, mit einem so stumpfsinnigtreuen Auge, als habe er stundenlang mit Pachulka & Kagelmann telefoniert, wo denn die gemahnten zweiundfünfzig Ballen blieben. Diensteifrig huscht er an seinen Platz – mit vorsichtig auftretenden Fußballen, eilfertig und als ob gar nichts gewesen wäre. Scheu sehen ihn die Nachbarn von der Seite an. Denn in diesem Augenblick ist in der Tat etwas Merkwürdiges geschehen: aus dem kleinsten schäbigsten Angestellten, aus dem mächtigsten Vorgesetzten sprang der Mensch. Hier nur immer Zahl – nur immer Antreiber oder Befehligter – und auf einmal auch er: ein Mensch. Auch er: Papa, Freund, Geliebter, Schwiegersohn, Bummelant oder Klubvorsitzender. Umflossen von einer fernen Häuslichkeit, einer Dame, einem Herzensschatz, einer Nutte. Ja – auch er. Aber das ist gleich vorüber. Und schon eilen die Federn wieder übers Papier, die Blätter rascheln, die Zahlen schwirren. Das Privatgespräch hat längst sein Ende erreicht, war überhaupt nie da.
So ist das, wenn ein Mann zu einem Privatgespräch ans Telefon gerufen wird. Und wie ist das, wenn ein Mädchen … ? Das kommt überhaupt nicht vor.
Peter Panter
Prager Tageblatt, 15.07.1923, Nr. 169, S. 3.