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579. Fliehen¹⁾. Flüchten²⁾.

1) To flee.
Fuir (s’enfuir).
Sfuggire.
2) To take refuge.
Se sauver (réfugier).
Salvarsi colla fuga.

Fliehen heißt nur, sich eilig von einem Orte entfernen, flüchten fügt hinzu, daß dieses Fliehen wegen einer Gefahr und zur Sicherung geschehe. Flüchten drückt demnach den prägnanten Begriff aus: durch die Flucht vor der Gefahr retten, gleichviel ob man sagt: flüchten, etwas flüchten oder sich flüchten. Wer bloß entläuft, flieht, wer etwas retten will, flüchtet. Die Soldaten, die bei einem feindlichen Angriffe davon laufen, fliehen; die Landleute und Bürger, die bei dem Anrücken eines feindlichen Heeres das Ihrige retten wollen, flüchten mit ihrer Habe. „Alles rennet, rettet, flüchtet.“ Schiller, Glocke. „Wenig flüchteten wir.“ Goethes Herm. u. Dor. II. „Flüchte du, im reinen Osten | Patriarchenluft zu kosten!“ Goethe, West-östl. Div. 1. Ged. — Als sinnverwandt sind hier noch anzuführen die Wörter: ausreißen und auskratzen, sowie die Wendungen: die Flucht ergreifen, sich auf die Flucht begeben, sich davonmachen, sich fortmachen, sich aus dem Staube machen, Fersengeld geben, das Hasenpanier ergreifen, Reißaus nehmen u. ähnl. Ausreißen bezeichnet zunächst ein Entfliehen aus einer Haft (vgl. Art. 463), z. B.: Der Vogel ist aus dem Käfige ausgerissen, der Dieb aus dem Gefängnisse. Dann wird das Wort auch gebraucht, wenn jemand sich einer übernommenen oder auferlegten Verpflichtung entzieht, so wird z. B. ein Deserteur ein Ausreißer genannt, oder jemand, der sich gesellschaftlichen Verpflichtungen durch schnelle Abreise oder ähnl. entzieht, erhält von seinen Freunden in scherzhaftem Sinne diesen Namen. Doch wird das Wort auch im weiteren Sinne von einem gebraucht, der vor dem Feinde oder überhaupt vor einer Gefahr flieht, wie in dem bekannten Liede vom Landsturm aus dem Anfange des vorigen Jahrhunderts: „Reißt aus, reißt aus, reißt alle, alle aus, dort steht ein französisches Schilderhaus!“ Ausreißen ist jedoch ein Ausdruck, der nur in der Volkssprache gebräuchlich ist und in gewählter Sprache vermieden wird. Noch niedriger ist der Ausdruck auskratzen, der nur in derber Sprache, und auch da nur mit humoristischer Färbung, angewendet wird. Gewählter als ausreißen ist die Umschreibung Reißaus nehmen, die auch in guter Sprache als kräftiger, humoristisch gefärbter Ausdruck gestattet ist. Auf gleicher Linie stehen die Ausdrücke: sich aus dem Staube machen, sich davon machen und sich fortmachen. Diese Ausdrücke werden namentlich dann gebraucht, wenn von jemand die Rede ist, den sein schlechtes Gewissen antreibt, sich durch schleunige Flucht einer bevorstehenden Strafe oder überhaupt einer unangenehmen Lage zu entziehen. Die Ausdrücke gehören nur der Umgangssprache an und enthalten zugleich einen gewissen Spott. Derbhöhnende Ausdrücke sind die volkstümlichen Wendungen: Fersengeld geben und das Hasenpanier ergreifen. Fersengeld geben, schon mhd. vërsengëld gëben, ist dunklen Ursprungs, bedeutet aber zweifellos soviel wie: die Fersen weisen; statt mit der Hand, wie der Angreifende, zahlt der Fliehende gleichsam mit der Ferse aus, bildet also den Gegensatz zum Angreifer. Weigand in seinem deutschen Wörterbuche I, 451 erinnert an das niederdeutsche vërsneppenning, Fersenpfennig, das im Sachsenspiegel vorkommt und die Gabe bezeichnete, die der von seiner Ehefrau sich Scheidende dieser zu spenden hatte. Auch hier weist der Ausdruck auf ein Abkehren von jemand hin. Das Hasenpanier ergreifen (auch aufstecken, auch den Hasenpfad reiten) weist auf die Furchtsamkeit des Hasen hin, dessen Panier, d. i. Banner, Heerfahne, gleichsam der feige Fliehende ergreift. Vollkommen edle und gewählte Ausdrücke, die mit fliehen und flüchten auf gleicher Stufe stehen, sind die Umschreibungen: die Flucht ergreifen und sich auf die Flucht begeben, die uns nur den Entschluß zur Flucht und den Vorgang des Fliehens umständlicher vor das geistige Auge führen. Sie werden nur da gebraucht, wo es sich um das Entrinnen vor einem nahenden oder verfolgenden Feinde oder einer drohenden Gefahr handelt.