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[Trauer im Ursprung der Allegorie]

Gerecht kann der Begriff des Allegorischen dem Trauerspiele nur in der Bestimmtheit werden, in der er nicht allein vom theologischen Symbol, sondern gleich deutlich von dem bloßen Schmuckwort sich abhebt. Entsprungen ist die Allegorie ja nicht als scholastische Arabeske zur antiken Göttervorstellung. Von dem Spielerischen, Unbeteiligten und Überlegenen, das man mit Rücksicht auf ihre spätesten Ausgeburten ihr zu leihen pflegt, eignet ursprünglich ihr nichts als das Gegenteil. Hätte die Kirche kurzerhand die Götter aus dem Gedächtnis ihrer Gläubigen verdrängen können, so wäre die Allegorese nie entstanden. Denn sie ist nicht epigonales Denkmal eines Sieges; viel eher das Wort, das einen ungebrochenen Rest antiken Lebens bannen soll. Freilich haben in den ersten Jahrhunderten der christlichen Ära die Götter selbst sehr häufig einen Zug in das Abstrakte angenommen. »In dem maaße als der glaube an die götter der classischen zeit seine kraft verlor, wurden auch die göttervorstellungen, wie dichtung und kunst sie gestaltet hatte, frei und verfügbar als bequeme mittel dichterischer darstellung. Von den dichtem der Neronischen zeit, ja von Horatius und Ovidius an können wir diesen Vorgang verfolgen, der in der jüngeren Alexandrinischen schule seinen höhepunkt erreichte: der bedeutendste und für die folgezeit maaßgebende Vertreter ist Nonnos, in der lateinischen litteratur der zu Alexandreia geborene Claudius Claudianus. Alles, jede handlung, jedes ereigniss, setzt sich bei ihnen zu einem spiel göttlicher kräfte um. Daß bei diesen dichtem auch abstracten begriffen breiter raum gewährt wird, ist kein wunder; die persönlichen götter haben für sie keine tiefere bedeutung als jene begriffe, sie sind beide gleich sehr bewegliche vorstellungsformen dichterischer einbildungskraft geworden.«1 So Usener. Dies alles ist freilich intensive Vorbereitung der Allegorie. Wenn anders sie selbst aber mehr ist als die wie immer abstrakte Verflüchtigung theologischer Wesenheiten, nämlich deren Fortleben in einer ihnen ungemäßen, ja feindlichen Umwelt, so ist nicht diese spätrömische die eigentliche allegorische Auffassung. Im Verfolg einer solchen Dichtung hätte die antike Götterwelt aussterben müssen und gerade die Allegorie hat sie gerettet. Ist doch die Einsicht ins Vergängliche der Dinge und jene Sorge, sie ins Ewige zu retten, im Allegorischen eins der stärksten Motive. In Kunst sowie in Wissenschaft und Staat gab es im frühen Mittelalter nichts, was den Trümmern, welche in allen diesen Bereichen die Antike hinterlassen hatte, an die Seite gestellt werden konnte. Damals entsprang das Wissen um Vergänglichkeit unentrinnbarer Anschauung, so wie einige Jahrhunderte später zur Zeit des dreißigjährigen Krieges das Gleiche sich der europäischen Menschheit vor Augen stellte. Dabei ist zu bemerken, daß vielleicht die sinnfälligsten Verheerungen diese Erfahrung nicht bittrer den Menschen aufdringen, als der Wandel der mit dem Anspruch des Ewigen ausgestatteten Rechtsnormen, wie er in jenen Zeitwenden sich besonders sichtbar vollzog. Die Allegorie ist am bleibendsten dort angesiedelt, wo Vergänglichkeit und Ewigkeit am nächsten zusammenstoßen. Usener selbst hat in den ›Götternamen‹ die Handhabe gegeben, genau die geschichts-philosophische Demarkationslinie zwischen der nur »scheinbar abstracten« Natur gewisser antiker Gottheiten und der allegorischen Abstraktion zu ziehen. »Wir müssen uns also in die tatsache finden, daß die erregbare religiöse empfindung des alterthums auch abstracte begriffe ohne weiteres zu göttlichem rang zu erheben vermochte. Daß sie fast durchweg schattenhaft und gleichsam blutleer blieben, hatte keinen andern grund als daß auch die sondergötter vor den persönlichen erblassen mußten: die durchsichtigkeit des worts.«2 Durch diese religiösen Improvisationen ward wohl der Boden der Antike für die Aufnahme der Allegorie bearbeitet: diese selbst aber ist christliche Saat. Denn durchaus entscheidend für die Ausgestaltung dieser Denkart war, daß im Bezirk der Götzen wie der Leiber nicht die Vergänglichkeit allein, sondern die Schuld sinnfällig angesiedelt scheinen mußte. Dem allegorisch Bedeutenden ist es durch Schuld versagt, seine Sinnerfüllung in sich selbst zu finden. Schuld wohnt nicht nur dem allegorisch Betrachtenden bei, der die Welt um des Wissens willen verrät, sondern auch dem Gegenstande seiner Kontemplation. Diese Anschauung, begründet in der Lehre von dem Fall der Kreatur, die die Natur mit sich herabzog, macht das Ferment der tiefen abendländischen Allegorese, die von der orientalischen Rhetorik dieses Ausdrucks sich scheidet. Weil sie stumm ist, trauert die gefallene Natur. Doch noch tiefer führt in das Wesen der Natur die Umkehrung dieses Satzes ein: ihre Traurigkeit macht sie verstummen. Es ist in aller Trauer der Hang zur Sprachlosigkeit und das ist unendlich viel mehr als Unfähigkeit oder Unlust zur Mitteilung. Das Traurige fühlt sich so durch und durch erkannt vom Unerkennbaren. Benannt zu sein — selbst wenn der Nennende ein Göttergleicher und Seliger ist — bleibt vielleicht immer eine Ahnung von Trauer. Wie viel mehr aber, nicht benannt, sondern nur gelesen, unsicher durch den Allegoriker gelesen und hochbedeutend nur durch ihn geworden zu sein. Je mehr andererseits die Natur wie die Antike als schuldbeladen empfunden wurden, desto obligater ward ihre allegorische Interpretierung als die denn doch allein noch absehbare Rettung. Denn mitten in jener wissentlichen Entwürdigung des Gegenstandes bewahrt ja die melancholische Intention auf unvergleichliche Art seinem Dingsein die Treue. Aber die Weissagung des Prudentius: »Rein von allem Blut wird endlich der Marmor strahlen; schuldlos werden die Bronzen dastehen, die jetzt für Idole gehalten werden«3, ist noch zwölf hundert Jahre später nicht wahr geworden. Marmor und Bronzen der Antike behielten fürs Barock, ja für die Renaissance noch von dem Schauer, mit welchem Augustinus »gleichsam Leiber der Götter« in ihnen erkannt hatte. »Es wohnten in deren Innerm Geister, die herbeygerufen würden, und vermögend wären, denjenigen, die sie verehren und anbethen, zu schaden, oder ihre Wünsche zu erfüllen.«4 Oder, wie Warburg für die Renaissance das ausspricht: »Die formale Schönheit der Göttergestalten und der geschmackvolle Ausgleich zwischen christlichem und heidnischem Glauben darf uns eben doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß selbst in Italien etwa 1520, also zur Zeit des freiesten, schöpferischsten Künstlertums die Antike gleichsam in einer Doppelherme verehrt wurde, die ein dämonisch-finsteres Antlitz trug, das abergläubischen Kult erheischte, und ein olympisch-heiteres, das ästhetische Verehrung forderte.«5 Demnach sind die drei wichtigsten Momente im Ursprung abendländischer Allegorese unantik, widerantik: die Götter ragen in die fremde Welt hinein, sie werden böse und sie werden Kreatur. Es bleibt das Kleid der Olympischen zurück, um das im Laufe der Zeit die Embleme sich sammeln. Und dieses Kleid ist kreatürlich wie ein Teufelsleib. In diesem Sinne stellt kurioserweise die aufgeklärte hellenistische Theologie des Euhemeros an ihrem Teil ein Element des werdenden Volksglaubens. Denn »so verband sich die Herabsetzung der Götter zu bloßen Menschen immer enger mit der Vorstellung, daß in den Resten ihres Kultus, vor allem in ihren Bildern, bösartige magische Kräfte fortwirkten. Der Nachweis ihrer völligen Ohnmacht wurde doch wieder abgeschwächt, indem sich satanische Stellvertreter der ihnen abgesprochenen Befugnisse bemächtigten.«6 Andererseits bleiben neben den Emblemen und Kleidern die Worte und Namen zurück und werden in dem Grade wie die Lebenszusammenhänge verloren gehen, aus denen sie stammen, zu Ursprüngen von Begriffen, in denen diese Worte einen neuen, zur allegorischen Darstellung prädisponierten Inhalt gewinnen, wie die Fortuna, Venus (als Frau Welt) und andere dergleichen es sind. Abgestorbenheit der Gestalten und Abgezogenheit der Begriffe sind also für die allegorische Verwandlung des Pantheons in eine Welt magischer Begriffskreaturen die Voraussetzung. Auf ihr beruht die Vorstellung des Amor »als Dämon der Unkeuschheit mit Fledermausflügeln und Krallen bei Giotto«7, beruht das Fortleben der Fabelwesen, wie Faun, Zentaur, Sirene und Harpyie als allegorischer Figuren im Kreise der christlichen Hölle. »Die klassisch-veredelte, antike Götterwelt ist uns seit Winckelmann freilich so sehr als Symbol der Antike überhaupt eingeprägt, daß wir ganz vergessen, daß sie eine Neuschöpfung der gelehrten humanistischen Kultur ist; diese ›olympische‹ Seite der Antike mußte ja erst der althergebrachten ›dämonischen‹ abgerungen werden; denn als kosmische Dämonen gehörten die antiken Götter ununterbrochen seit dem Ausgange des Altertums zu den religiösen Mächten des christlichen Europa und bedingten dessen praktische Lebensgestaltung so einschneidend, daß man ein von der christlichen Kirche stillschweigend geduldetes Nebenregiment der heidnischen Kosmologie, insbesondere der Astrologie, nicht ableugnen kann.«8 Den antiken Göttern in erstorbener Dinghaftigkeit entspricht die Allegorie. So trifft denn, tiefer als vermeint ist, zu: »Die Götternähe ist nun einmal ein wichtigstes Lebensbedürfnis für die kräftige Entwicklung der Allegorese.«9



  1. Usener l.c. [S. 18]. S. 366.
  2. L.c. S. 368 f.; cf. auch S. 316 f.
  3. Aurelius P. Clemens Prudentius: Contra Symmachum I, 501 f.; zitiert nach Bezold l.c [S. 251]. S. 30.
  4. Des heiligen Augustinus zwey und zwanzig Bücher von der Stadt Gottes. Aus dem Lateinischen der Mauriner Ausgabe übersetzt von J. P. Silbert. 1. Bd. Wien 1826. S. 508 (VIII, 23).
  5. Warburg l.c. [S. 164]. S. 34.
  6. Bezold l.c. [S. 251]. S. 5.
  7. [Zitat an der in a angeführten Fundstelle bei Bezold l.c. nicht nachweisbar.]
  8. Warburg l.c. [S. 164]. S. 5.
  9. Horst l.c. [S. 197]. S. 42.