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8.

[Zeit und Zeitgebrauch]

Für jeden Bürger Moskaus sind die Tage randvoll. Sitzungen, Kommissionen sind zu jeder Stunde in Ämtern, Klubs, Fabriken anberaumt, haben oft keine eigene Stätte zur Verfügung, tagen in Ecken lärmender Redaktionen, am abgeräumten Tisch in einer Kantine. Es gibt eine Art natürlicher Auslese und einen Kampf ums Dasein unter diesen Veranstaltungen. Die Gesellschaft entwirft sie gewissermaßen, plant sie, sie werden einberufen. Aber wie oft muß sich das wiederholen, bis endlich eine von den vielen glückt, lebensfähig, angepaßt ist, stattfindet. Daß nichts so eintrifft, wie es angesetzt war und man es erwartet – dieser banale Ausdruck für die Wirklichkeit des Lebens kommt hier in jedem Einzelfall so unverbrüchlich und so intensiv zu seinem Recht, daß der russische Fatalismus begreiflich wird. Wenn langsam sich im Kollektivum zivilisatorische Berechnung durchsetzt, so wird das vorderhand die Sache nur verwickeln. (In einem Hause, das nur Kerzen hat, ist man besser versehen, als wo elektrisches Licht angelegt, aber die Kraftzentrale allstündlich gestört ist.) Gefühl für einen Wert der Zeit begegnet, aller »Rationalisierung« ungeachtet, nicht einmal in der Hauptstadt Rußlands selbst. »Trud«, das gewerkschaftliche Institut für Arbeitswissenschaft, hat unter seinem Leiter Gastjeff mit Plakaten eine Kampagne für die Pünktlichkeit geführt. Seit jeher sind viele Uhrmacher in Moskau ansässig. Sie drängen mittelalterlich und zunftgerecht in einzelnen Straßen, am Kusnetzky Most, in der Uliza Gerzena sich zusammen. Man fragt sich, wer sie eigentlich nötig hat. »Zeit ist Geld« – für diesen erstaunlichen Satz wird auf Anschlägen Lenins Autorität beansprucht; so fremd ist das Gefühl dafür den Russen. Sie verspielen sich über allem. (Man möchte sagen, die Minuten sind ein Fusel, von dem sie nie genug bekommen können, sie sind angeheitert von Zeit.) Wenn auf der Straße eine Szene für den Film gekurbelt wird, vergessen sie, warum, wohin sie unterwegs sind, laufen stundenlang mit und kommen verstört ins Amt. Im Zeitgebrauche wird daher der Russe am allerlängsten »asiatisch« bleiben. – Einmal muß ich mich um früh sieben wecken lassen: »Morgen klopfen Sie bitte um sieben.« Damit löse ich bei dem »Schwejzar« – so werden die Hausdiener hier genannt – folgenden Shakespeareschen Monolog aus: »Wenn wir daran denken, dann werden wir wecken, wenn wir aber nicht daran denken, dann werden wir nicht wecken. Eigentlich, meistens denken wir ja daran, dann wecken wir eben. Aber gewiß, wir vergessen auch manchmal, wenn wir nicht daran denken. Dann wecken wir nicht. Verpflichtet sind wir ja nicht, aber wenn es uns richtig einfällt, dann tun wir es doch. Wann wollen Sie denn geweckt werden? Um sieben? Dann wollen wir das aufschreiben. Sie sehen, den Zettel tue ich dahin, da wird er ihn finden. Natürlich, wenn er ihn nicht findet, dann weckt er Sie nicht. Aber meistens wecken wir ja.« – Zeiteinheit ist im Grunde das »Ssitschass«. Das bedeutet »sofort«. Man kann es je nachdem zehn-, zwanzig-, dreißigmal zur Antwort hören und Stunden, Tage oder Wochen daran wenden, bis das derart Versprochene eintrifft. Wie man denn überhaupt nicht leicht die Antwort »Nein« hört. Abschlägiger Bescheid bleibt der Zeit überlassen. Zeitkatastrophen, Zeitzusammenstöße sind daher an der Tagesordnung wie die »Remonte«. Sie machen jede Stunde überreich, jeden Tag erschöpfend, jedes Leben zum Augenblick.