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18.

[Kirchen]

Die Kirchen sind fast verstummt. Die Stadt ist so gut wie befreit von dem Glockengeläut, das sonntags über unsere großen Städte eine so tiefe Traurigkeit verbreitet. Aber noch gibt es in ganz Moskau vielleicht keine Stelle, von der aus nicht zumindest eine Kirche sichtbar ist. Genauer: auf welcher man nicht mindestens von einer Kirche überwacht würde. Der Untertan des Zaren war in dieser Stadt von mehr als vierhundert Kapellen und Kirchen, will sagen von zweitausend Kuppeln rings umstellt, die allerorten in den Ecken sich verborgen halten, einander decken, über Mauern lugen. Eine Ochrana der Architektur war um ihn. All diese Kirchen wahrten ihr Inkognito. Es stoßen nirgends hohe Türme in den Himmel. Mit der Zeit erst gewöhnt man sich, die langen Mauern und Haufen von niedrigen Kuppeln zum Komplexe von Klosterkirchen zusammenzufassen. Dann wird auch klar, warum an vielen Stellen Moskau so abgedichtet wirkt wie eine Festung; die Klöster tragen heute noch die Spuren der alten wehrhaften Bestimmung an sich. Hier ist Byzanz mit seinen tausend Kuppeln nicht das Wunder, das sich der Europäer von ihm erträumt. Die meisten Kirchen sind nach einer schalen und süßlichen Schablone aufgeführt: ihre blauen, grünen und goldenen Kuppeln sind ein kandierter Orient. Betritt man eine dieser Kirchen, so findet man zuerst ein geräumiges Vorzimmer mit einigen spärlichen Heiligenbildern. Es ist düster, sein Halbdunkel eignet sich zu Konspirationen. In solchen Räumen kann man sich über die bedenklichsten Geschäfte, wenn es sich trifft auch über Pogrome, beraten. Daran stößt der einzige Andachtsraum. Im Hintergrunde hat er ein paar Treppchen, die zu der schmalen, niedrigen Estrade führen, auf der man an den Heiligenbildern sich entlangschiebt, zu der Ikonostase. In kurzem Abstand folgt Altar auf Altar, ein glimmendes, rotes Lichtchen bezeichnet jeden. Die Seitenflächen werden von großen Heiligenbildern eingenommen. Alle Teile der Wand, die so nicht mit Bildern bedeckt sind, sind mit leuchtendem Goldblech bezogen. Von der kitschig gemalten Decke hängt ein kristallner Kronleuchter herab. Dennoch beleuchten immer nur Kerzen den Raum, einen Salon mit geheiligten Wänden, vor denen das Zeremoniell sich abrollt. Die großen Bilder werden durch Bekreuzigen gegrüßt, dann folgt ein Kniefall, bei dem die Stirn den Boden berühren muß, und unter neuer Bekreuzigung wendet der Betende oder Büßende sich zu dem nächsten. Vor kleinen, verglasten Bildern, welche gereiht oder vereinzelt auf Pulten liegen, unterbleibt der Kniefall. Man beugt sich über sie und küßt das Glas. Auf solchen Pulten sind neben kostbarsten alten Ikonen Serien der schreiendsten Öldrucke ausgelegt. Viele Heiligenbilder haben außen an der Fassade Posten bezogen und blicken von den obersten Gesimsen unter dem blechernen Wetterdach wie geflüchtete Vögel hinunter. Aus ihren geneigten Retortenköpfen spricht Trübsal. Byzanz scheint keine eigene Form des Kirchenfensters zu kennen. Ein zauberischer Eindruck, der nicht anheimelnd ist: die profanen, unscheinbaren Fenster, die aus Versammlungsräumen und Türmen der Kirche wie aus Wohnräumen auf die Straße gehen. Dahinter haust der orthodoxe Priester wie der Bonze in seiner Pagode. Die unteren Teile der Basilius-Kathedrale könnten der Grundstock eines herrlichen Bojaren-Hauses sein. Wenn man jedoch von Westen her den Roten Platz betritt, erheben ihre Kuppeln sich allmählich am Himmel wie ein Rudel feuriger Sonnen. Immer behält dieser Bau sich etwas zurück, und überrumpeln könnte die Betrachtung ihn einzig von der Höhe des Flugzeuges aus, gegen das die Erbauer sich zu salvieren vergaßen. Man hat das Innere nicht nur ausgeräumt, sondern wie ein erlegtes Wild es ausgeweidet. (Und anders konnte es wohl auch nicht enden, denn selbst im Jahre 1920 hat man hier noch mit fanatischer Inbrunst gebetet.) Mit der Entfernung des gesamten Inventars ist das bunte vegetabilische Geschlinge, das durch alle Gänge und Wölbungen als Wandmalerei fortwuchert, hoffnungslos bloßgestellt; eine gewiß viel ältere Bemalung, die sparsam in den Innenräumen die Erinnerung an die farbigen Spiralen der Kuppeln wachhielt, verzerrt sie nun in eine triste Spielerei des Rokoko. Die gewölbten Gänge sind eng, weiten sich plötzlich zu Altarnischen oder runden Kapellen, in die von oben aus den hohen Fenstern so wenig Licht dringt, daß einzelne Devotionalien, die man stehen ließ, kaum erkennbar sind. Viele Kirchen stehen so ungepflegt und so leer. Aber die Glut, die von Altären nur vereinzelt noch in den Schnee hinausleuchtet, ist wohlbewahrt geblieben in den hölzernen Budenstädten. In ihren schneebedeckten engen Gängen ist es still. Man hört nur den leisen Jargon der Kleiderjuden, die da ihren Stand neben dem Kram der Papierhändlerin haben, die versteckt hinter silbernen Ketten thront, Lametta und wattierte Weihnachtsmänner vors Gesicht gezogen hat wie eine Orientalin ihren Schleier.