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9.

[Trambahn und Schlitten]

Beförderung in der Trambahn ist in Moskau vor allem eine taktische Erfahrung. Hier lernt der Neuling sich vielleicht am ersten ins sonderbare Tempo dieser Stadt und in den Rhythmus ihrer bäurischen Bevölkerung schicken. Auch wie einander technischer Betrieb und primitive Existenzform ganz und gar durchdringen, dies weltgeschichtliche Experiment im neuen Rußland stellt eine Trambahnfahrt im kleinen an. Die Schaffnerinnen stehen angepelzt auf ihrem Platz in der Elektrischen wie Samojedenfrauen auf dem Schlitten. Ein zähes Stoßen, Drängen, Gegenstoßen bei dem Besteigen eines meistenteils schon bis zum Bersten überfüllten Wagens geht lautlos und in aller Herzlichkeit vonstatten. (Nie habe ich bei der Gelegenheit ein böses Wort vernommen.) Ist man im Innern, so beginnt die Wanderung erst. Durch die vereisten Scheiben kann man nie erkennen, an welcher Stelle sich der Wagen gerade befindet. Erfährt man es, so hilft es noch nicht viel. Der Weg zum Ausgang ist durch einen Menschenkeil verrammelt. Da man nun hinten einzusteigen hat, aber vorn den Wagen verläßt, so hat man sich durch diese Masse durchzufinden. Meist spielt sich die Beförderung freilich schubweise ab; an wichtigen Stationen wird der Wagen beinahe ganz geräumt. Also ist selbst der Moskauer Verkehr zum guten Teil ein Massenphänomen. So kann man denn auf ganze Schlittenkarawanen stoßen, die in langer Reihe die Straße versperren, weil Fuhren, die ein Lastauto erfordern, auf fünf, sechs große Schlitten verladen werden. Die Schlitten hier bedenken erst das Pferd, danach den Fahrgast. Sie kennen nicht den kleinsten Überfluß. Ein Futtersack für den Gaul, eine Decke für den Benutzer – und das ist alles. Mehr als zwei haben nicht Platz auf der schmalen Bank, und da es keine Lehne gibt (wenn man nicht eine niedrige Kante so nennen will) muß man bei plötzlichen Kurven gut balancieren. Alles ist auf die schnellste Gangart berechnet; lange Fahrten bei Kälte verträgt man nicht gut, und ohnehin sind die Entfernungen in diesem Riesendorfe unabsehbar. Dicht am Bürgersteig lenkt der Iswoschtschik entlang. Der Fahrgast thront nicht, sieht nicht höher hinaus als alle anderen und streift mit seinem Ärmel die Passanten. Auch dies ist für den Tastsinn eine unvergleichliche Erfahrung. Wo Europäer in geschwinder Fahrt Überlegenheit, Herrschaft über die Menge genießen, ist der Moskowiter im kleinen Schlitten dicht unter Menschen und Dinge gemischt. Hat er dann noch ein Kistchen, ein Kind oder einen Korb mitzuführen – für all dies ist der Schlitten das erschwinglichste Beförderungsmittel –, so ist er wahrhaft eingekeilt ins Treiben der Straße. Kein Blick von oben herab: ein zärtliches, geschwindes Streifen an Steinen, Menschen und Pferden entlang. Man fühlt sich wie ein Kind, das auf dem Stühlchen durch die Wohnung rutscht.